Neue Zürcher Zeitung - 13.09.2019

(Romina) #1

Freitag, 13. September 2019 FEUILLETON 35


Die jüngste Banknoten-Serie


dürfte zugleichdie letzte gewesen seinSEITE 36


Der Mars ist ziemlich weit weg und unbewohnbar –


die Faszination jedoch ungebrochen SEITE 39


Bart ab!


Wenn aus Stoppeln Strähnen
werden, läuft was schief

DANIELE MUSCIONICO

Mankennt die eigene Stadt nicht wie-
der. Jeden Morgen sieht sie anders aus.
Wo gestern noch die internationale An-
waltskanzlei oder die Consulting Group
den Ruhm Zürichs in derWelt mehrten,
sitzen heute bärtige Männer im Schau-
fenster.Was hat das zu bedeuten?Wird
Zürich zur Drehscheibe von Islamisten,
wie manche Stimmungsmacher blöken?
Keine Angst, man muss sich über die
wachsendeBartdichteauchinderSchweiz
keine allzu grossen Sorgen machen. Die
Bärte hinterGlas, samteinemRestposten
Nas e und von schweren Brauen behan-
genenAugen, gehören zumeist tadellos
beleumundeten Menschen.Das Lokal,in
der Nacht aus dem Boden geschossen, ist
ein harmloser «Barber Shop».
Schon wieder ein «Barber Shop»
also, noch ein «Figaro, the Barber», oder
«Castro, the Barber», ein «Gentlemen
Barber» oder ganz einfach nur ein «Best
Barber». Gebannt bleibt manvor Schei-
ben stehen und beobachtet, wie Männer
Geschlechtsgenossen trimmen.Wieder
andere qualifizieren sich dadurch, dass
sie hinter bodentiefenFenstern ihre
Kunden im Gesichtsbereich sanft ölen
und massieren. So einWildfang wie der
Hipsterbart brauchtkonsequenteFüh-
rung wie ein Kleinkind.

Nur werNikolaus heisst, darf


Um den sogenannten Hipsterbart Un-
eingeweihten vorAugen zu führen:Frü-
her nannte man ihnRauschebart. Und
schon damals stand erkeinem einzigen
männlichenWesen –das nichtNikolaus
hiess und imWald lebte.
Der Bart erfährt ein ungeahntesRe-
vival. Und logisch, der Boom derBar-
ber-Shops ist dieKonsequenz.Worin
aber liegt die Logik, dass sich Männer
wieder Haare im Gesicht wachsen las-
sen?Dass der Hipsterbart seinemTrä-
ger einen Look vonVerwegenheit, Ge-
heimnis und Intellekt verleiht,dieses Kli-
schee wird ein erwachsener Mann doch
nicht wirklich glauben.Einerseits.Ande-
rerseits,woherkommen plötzlich so viele
Holzfäller?Dass die Schweiz eine neue
Universität fürForstwirtschaft besässe,
wäre mir jedenfalls entgangen.

Eine Orientierungsstörung?


Die Idee, durch Gesichtsbehaarung der
PersönlichkeitAusdruck zuverleihen, ist
verständlich und wohl so alt wie das Be-
wusstsein der Männer für ihrBarthaar.
Das Komische ist dabei nur: Männern ist
es erlaubt, ihre Stoppeln zu kultivieren.
Weibliches Haar hingegen soll im Ge-
sicht partout nicht wachsen, auch nicht
an intimeren Stellen.
Zur neuenAufmerksamkeit der Män-
ner für ihr sekundäres Geschlechtsmerk-
mal gibt esFragen.Für gutwilligeFrauen
jedenfalls.Alle anderen werden die neue
Bartmode alsSymptom einer männ-
lichen Orientierungsstörung werten. So
weit gehe ich nicht. Doch ich wundere
mich und frage euch, Männer:Worin
besteht dieneue Lust an der altenVer-
steppung des edelstenKörperteils?Was
steckt hinter demBartwuchs wirklich?
Es ist nämlich tatsächlich so, dass ich
mir Sorgen zu machen beginne. Nicht um
die Männer,die meistensind alt genug,
sich das Gesicht selber zu waschen. Es
geht mir lediglich um mich.Denn die
tollsten Männer meines Lebens erkenne
ich hinter ihrenBärten nicht wieder.
Oder dann sehen alle wie einer aus. «Bist
du das, Jürg, äh ... Christoph?»Wie kann
ich sie auseinanderhalten? «Bart ab!»
Möchte ich ihnen zurufen. Und: «Das ist
ein emanzipatorischer Imperativ!»
Doch das wäre übergriffig und
respektlos. Bevormundend und ernied-
rigend. Und wenn wirFrauen eines aus
der Geschichte gelernt haben, dann ist
es wohl das:Wir werden uns nichtreva n-
chie ren, beimBarte der Prophetin!

Nach de r Tragödie die Farce

Mit «Die Zeuginnen» verschenkt Margaret Atwood eine grosse Chance


JUDITH SEVINÇBASAD


Die USA in der Zukunft: Nach meh-
rere n Umweltkatastrophenkönnen
Frauen keine Kinder mehr bekom-
men. Eine Gruppe von christlichen
Fundamentalisten putscht daraufhin
die Regierung weg und errichtet einen
totalitären Gottesstaat, die Republik
Gilead. Die wenigenFrauen, die noch
fruchtbar sind, werden als Mägde unter-
schiedlichen Haushalten zugeteilt und
in einer christlichverb rämten Zeremo-
nie von ihrem Hausherrn vergewaltigt.
Margaret Atwoods «Report der
Magd» wurde schon im Erscheinungs-
jahr 1985 zuRecht gefeiert: DerRoman
ist nicht nur ein Katalog historischer
Formen derFrauenverachtung,er legt
auch dar, wie die Ideologie von totali-
tärenRegimen funktioniert: So werden
Frauennicht nur vergewaltigtundver-
stümmelt, sondern in Umerziehungs-
lagern zu willenlosen Mägden gemacht,
in unterschiedliche Kasten eingeteilt,
voneinander isoliert und inArbeits-


lager verschickt.Regimekritiker, Juden
und Homosexuelle werden zur öffent-
lichenAbschreckung an Mauern aufge-
hängt oder gesteinigt.Durch Flashbacks
beschreibt die Erzählerin,wie die aufge-
schlossenen USA der1980erJahre Stück
für Stück in einen totalitären Staat zer-
fallen sind.


Symbol der Unterdrückung


Anfang 2017 schnappten sich die Produ-
zenten von Hulu diese Motive und pack-
ten sie in ein Serienformat. Im Mittel-
punkt standen die gepeinigtenFrauen,
die sich hasserfüllt gegen dasRegime
auflehnen, im Untergrund für ihre
Rechte kämpfen und sich in blutiger
Vengeance-Manier an ihrenPeinigern
rächen.Keine Frage: Die Serie schlug
ein wie eine Bombe.
Die auf Schockeffekte angelegten
Szenen erinnerten dabei vor allem an
Regime wie den IS, Iran oder Saudi-
arabien, in denenFrauen systematisch
Bürgerrechte entzogen, gefoltert, gestei-
nigt und Homosexuelle anBaukränen
aufgehängt werden.Auch die Mägde mit
den entstellten Gesichtern und verstüm-
meltenKörperteilen liessen anFrauen
aus Indien denken, die von ihren Män-
nern wegen Ehebruchs oder unkeu-
schenVerhaltens mit Säure überschüt-
tet wurden.
Die Magd mit ihrem blutroten Ge-
wand und der weissen Haube auf dem
Kopf wurde zu einemSymbol derFrauen-
unterdrückung. Selbst in «Die Zeugin-
nen», dem neu erschienenenFolgeroman
zum«Report der Magd», wird dieFunk-
tion derTracht noch einmal beschrieben:
Die Haube und die langen Gewänder
sollen die Mädchen vor den Blicken der
Männer schützen, weil diese ihre Lust
sonst nichtkontrollierenkönnten.«Wie
wir auch aussehen mochten, wir waren
die unschuldige und schuldlose Ursache
dafür, dass wir allein durch unserDasein
die Männer trunken machenkonnten vor
Lust», erzählt dort eine Magd.
Schon junge Mädchen werden in
Atwoods Dystopie sexualisiert und in
«Schlampen» undkeusche, gottgläubige
Frauen eingeteilt. An einerVergewalti-
gung ist eineFrau per se selbst schuld –
die Parallele zum extremistischen Islam
ist eigentlich überdeutlich.
Es verwundert daher, wie sich At-
wood in einem Interview mit CBS Sun-
day Morning kurz vor derVeröff ent-


lichung von «Die Zeuginnen» äusserte.
Die Fortsetzung sei «eineWarnung» da-
vor, dass die USA sich unter derPolitik
Trumps in einen ebensorepressiven und
misogynen Gottesstaat wie dieRepu-
blik Gilead verwandelnkönnten.«Ich
glaubte, dass so etwas hier niemals pas-
sierenkönnte, aber immer mehr Men-
schen zweifeln diesen Glauben gerade
an», sagte die Schriftstellerin.

Lieber #MeToo


Auch die #MeToo-Bewegung in den
USA willkeine Parallelezum Islam se-
hen. So traten dieFeministinnen auf
mehreren Demonstrationen mit weisser
Haube undrotem Gewand auf und stell-
ten somit den Horror aus Gilead lieber
in eineReihe mitWeinstein,Kavanaugh
und DonaldTrump.
Wenn man «Die Zeuginnen» liest,
merkt man, dass Atwood tatsächlich lie-
ber an einer #MeToo-Demo teilgenom-
men hätte, als die Greuel vonreal exis-
tierenden Schurkenstaaten anzupran-
gern. Denn die Ideologie- undRegime-
kritik, die in der Serie und im «Report
der Magd» imVordergrund standen,
wird imneuenBuch fast völlig ausge-
blendet. Stattdessen muss sich der Leser
du rch einen absurden Plot, emotionale
Befindlichkeiten, pubertäre Streitereien
undseitenlange Beschreibungen von

Rüschen, Hochzeitskleidern, Klamotten,
Keksen und Kaffeekränzchen kämpfen.

Hulu, fortgeschrieben


AtwoodsRoman ist dabei weniger eine
Fortsetzung ihres eigenenRomans aus
den achtzigerJahren als eineWeiter-
führung der Serie. Erzählt wird aus der
Sicht dreierFiguren aus der Hulu-Pro-
duktion, derjenigen vonJunes Töchtern
Nicole und Agnes und jener der skrupel-
losenTante Lydia.
So beschreibt Agnes, wie sie vom
Regime zwangsverheiratetwerden sollte
und sich zuTante Lydia in eineWärte-
rinnen-Ausbildungrett et, wobeiLydia
sich auf schleierhafteWeise von der
treuen Dienerin des Staates Gilead zur
Widerstandskämpferin entwickelt hat.
Die 16-jährige Nicole verliert derweil in
Kanada ihre Pflegeeltern bei einem von
Gilead verübtenTerroranschlag, wird
von Aktivisten erst zu einer Killerma-
schine ausgebildet und dann undercover


  • alsJunkie getarnt – in den Gottesstaat
    geschleust, um dasRegime zu stürzen.
    Man merkt schnell: Atwood hat ver-
    sucht, die Motive undFiguren, die in
    der Serie gut funktionierten,noch ein-
    mal schriftlich auszuschlachten. Es ge-
    lingt ihr aber nicht, den Horror und die
    Ernsthaftigkeit der Hulu-Produktion
    weiterzuführen. Stattdessen lesen sich


die Dialoge wie das Skript einer Soap-
Opera, die Schilderungen vonTerroris-
mus und Staatsintrigen wie ein Artikel
aus der «Brigitte» oder eine Episode
von «Die drei ???».
Die Greuel desRegimeskommen
nur noch amRande vor und fungie-
ren als thematische Überbleibsel, die
nicht mehr aufreale Missstände verwei-
sen sollen, sondernnur als dramatische
Metapher für den #MeToo-Sexismus der
westlichenWelt dienen.

Frauen wie du und ich


Dabei läge gerade hier das gesamte
Potenzial desAtwood-Stoffs:Er schockt
vor allem deswegen, weil die beschrie-
bene Gewalt gegenFrauen und an-
dere Minderheiten ebenkeine Fiktion –
keine Dystopie unterTrump – darstellt,
die man mit dem Zuklappen desLap-
tops einfach ausschalten kann.Vielmehr
zwingt uns Atwood dazu, das Leid, die
Demütigungen und die Ungerechtigkei-
ten nachzufühlen, dieFrauen inTeilen
der islamischenWelt täglich widerfahren.
Eigentlich könnte uns Atwoods
grösster Erfolg lehren, dass wir in unse-
rem wohligen westlichen Alltag nicht
die Augen vor den Leiden der anderen
verschliessen sollten. Umso bizarrer er-
scheint es, dass dieAutorin mit ihren
Statements gerade das einfordert.

LESEZEICHEN


Margaret Atwood: Die Zeuginnen.
Deutschvon Monika Baark. Berl in-Verlag,
Berl in 2019. 576S., Fr.35.90.

Eine Modenschau in NewYork liess sich2017 von MargaretAtwoods «Report der Magd» inspirieren. SASHA ARUTYUNOVA / REDUX / LAIF
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