Neue Zürcher Zeitung - 13.09.2019

(Romina) #1

36 FEUILLETON Freitag, 13.September 2019


Die neue 100-Franken-Note


verschweigt einiges


Steht uns mit gesichtslo sen Banknoten das Ende des anonymen Bargeldes bevor?


LORISFABRIZIO MAINARDI


Am diesjährigenFasnachtsdienstag,sin-
nigerweise jenemTag, an dem imersten
Akt von «Faust II»Papiergeld durch
«Tausendkünstler schnell vertausend-
facht» wurde, hat die Schweizerische
Nationalbank (SNB) mit der neuen
1000er-Note die zweitletzte der jüngsten
Serie präsentiert. Und eben erst wurde
das Geheimnis um die letzte gelüftet:die
etwas gebräuchlichere 100er-Note.
Folgten sich seit der erstenAusgabe
von Geldscheinen der Nationalbank
(1907) die Serien in fast sprichwörtlich
schweizerischer Regelmässigkeit von
etwa 20Jahren, mag heute manchen ein
diffuses Gefühl antizipierter Nostalgie
befallen. Denn er muss sich fragen, ob
die heutigeAusgabe nach weltweit 1000,
in Europa 400 und in der Schweiz 200
Jahren Geschichte desPapiergeldes die
letzte sein wird.


Was kommt danach?


Schon angesichts der sichrasant ent-
wickelnden elektronischen Zahlungs-
mittel wird es imJahr 2039 wohl eher
zur Präsentation eines neuen bionischen
Zahlungssystems als zu einer neuen
Banknotenseriekommen.Und bis da-
hin werden auch die anBank- undPost-
schaltern Schlange stehenden Senioren-
kohorten ausgestorbensein, die ihren
Zahlungsverkehr IT-resistent abzu-
wickeln gewohnt sind.
Schliesslich dürftedie Diskussion um
die zeitgeistigkorrekt eKriminalisierung
des Gebrauchs vonBargeld ihreFol-
gen zeitigen: So einfach jedenfalls wie in
einerInterpellat ionsantwortdesBundes-
rats vomFebruar 2018, man habe «bisher
keineBeweise,dassaufSchweizerfranken
lautendeBanknoten mit einem hohen
Nominalwert besonders häufig verwen-
det werden und ein spezielles Risiko dar-
stellen», lassen sich die Befürchtungen
dannzumal wohl nicht ausräumen.
Nicht nur, dass die EZB im Mai 20 16
gerade umgekehrt argumentiert und die
500-Euro-Noten aus dem Umlauf ge-
nommen hat; die schiereTatsache, dass
sich derWert der im Umlauf befind-
lichen 1000-Franken-Scheine auf 48,6
MilliardenFranken beläuft, lässt manch
zartbesaiteten Zeitgenossen selbst in
der grundsoliden Eidgenossenschaft
aufschrecken. Und die «steueroptimie-
rende» Umschichtung geschätzter 3Mil-
liardenFranken steuerbarenBargeld-
vermögens über denJahreswechsel deu-
tet an,dass mephistophelischere Geister
mit dem violettenPapier allerlei anzu-
richten wissen.


Sollten die neuen Noten demnach die
letzten sein – mit welchem Bild würde
sich die Schweiz aus der Geschichte des
Bargelds verabschieden? Gemäss Inter-
pretation der – hier doppelsinnigen –
Geldschöpferin SNB sei man bei der Ge-
staltung der Serie «neueWege» gegan-
gen und habe «nicht mehrPersönlich-
keiten, sondern die vielseitige Schweiz»
abbilden wollen. Der 1000-fränkige
Händedruck für zwischenmenschliche
Kommunikation und der Globus dar-
unter stünden für die Schweiz alsTeil
einer vernetztenWelt; die wasserschöp-
fenden Hände sollen, wie die Gletscher-
wasser auf dieFelder führenden Suonen

der 100er-Note, die Bedeutung desWas-
sers in der in- und ausländischen Ent-
wicklungshilfe darstellen.

Und kein Antlitz?


In kritischeren Gemüternkönnten dabei
auch andereAssoziationen geweckt wer-
den: Wäscht die eine Hand, wenn nicht
Geld,so vielleicht die andere – oder wo-
möglichgar dierechte Hand des Staates
dessen linke in politischerKorrektheit
und klimapolitischer Unschuld?Werden
mit dem grossen Handschlag über der
kleinenWeltkugel globale Deals fairer
Art angemahnt oder eine neue Brüder-

lichkeit beschworen?Regen die Bilder
an,gutgemeinte mit wirkungsvoller Ent-
wicklungshilfe zukontrastieren?
Vielleicht aber gibt noch mehr zu
denken, was auf den neuen Noten nicht
mehrabgebildet ist, nämlich mensch-
liche Gesichter.Wohl nicht erst, doch
spätestens den Pharisäern in Matthäus
22 ist bekannt,dass des KaisersBild das
Metall zur Münze, die Materi e zum Geld
macht.Auf den Geldscheinen der Eid-
genossenschaft prangten freilich nicht
die Antlitze von Monarchen, sondern
mythologischerFiguren (wie der Hel-
vetia und desWilhelmTell) sowie wis-
senschaftlich oder künstlerisch heraus-

ragender Bürger (vonFrancesco Borro-
mini bis zu SophieTaeuber-Arp). Letz-
tere symbolisierten, wie ihre adeligen
Pendants in anderenLändern,Tradition
und Werte des – imFall der Schweiz
basisdemokratischen–Staatswesens,
dem alleine dieKompetenz der Geld-
schöpfung zustand.
Ist nun der Gesichtsverlust des ehe-
mals kaiserlichen,heute öffentlichrecht-
lichen Geldschöpfers schieres bildhaftes
Eingeständnis einer geldpolitischen
Realität, in der längst über 90 Prozent
des Geldes mittels Kreditvergabe pri-
vater Geschäftsbanken geschaffen wer-
den, oder steht er für den heimlichen
Tausch der hoheitlichen Souveränitäts-
krone durch dieTarnkappe ausserKon-
trolle geratenerFinanzmärkte?
Im Nachhineinkönnte die jetzige
Phase einer gleichsam gesichtslosen
Banknotenserie durchaus als volkswirt-
schaftlicheFrüherziehung für die nach-
folgende Phaseder Bargeldlosigkeit ge-
sehen werden.Je nach Sichtweise wäre
es zufällige Ironie oder verkappter
Zynismus, dass dieAnonymisierung und
Entmaterialisierung des Geldträgers
einhergeht mit demAnonymitätsverlust
der Geldnutzer. Jedenfalls hat die letzte
Entwicklung in der Geschichte des Gel-
des den – bargeldlos zu bezahlenden –
Preis , eine an deren Anfang stehende
Errungenschaft aufzugeben: die Hand-
habe eines anonymenTauschmittels.
Im eingangs erwähnten «Faust II»
veranlasste dieAufdeckung geldpoliti-
schenFrevels den Kaiser zurRückfrage:
«Wer fälschte hier des Kaisers Namens-
zug?Ist solchVerbrechen ungestraft
geblieben?», jedoch war dieTat nicht
mehr rückgängig zu machen, und von
der folgenden Inflation sollte der hoch-
verschuldete Kaiser selbst am meisten
profitieren. In heutigenTagen steigen-
der Staatsverschuldung, negativer Zin-
sen und geldpolitischen Helikoptergelds
mag der für die Präsentation der neuen
1000er-Note gewählteFasnachtsdiens-
tag alsFanal auflodern. Ob denVerant-
wortlichen bewusst oder nicht, wurde
demgegenüber amTag der Inumlauf-
setzung der 100er-Note am 12. Septem-
ber 1848 – «imNamenGottes des All-
mächtigen!» – die Bundesverfassung der
modernen Schweiz proklamiert.
DerFrage,obsiediesenSymbolismen
zynisch, gleichgültig oder nachdenklich
gegenüberstehen, sie mithin Mephisto-
pheles, die unsichtbare Hand oder den
Heiligen Geist amWerk sehen, werden
sich Bargeldbenutzer zu stellen haben,
wannimmerihneneinederneuenNoten
vordasAugekommt–bisihrAugeselbst
zur Banknote geworden sein wird.

Banknotenals Ereignis: vor dem ersten Geldautomatender Schweiz an der ZürcherBahnhofstrasse im November 1967. KEYSTONE

Wir sehen das Gegenteil eines Mauerblümchens


Die TV-Serie «GentlemanJack» nimmt mit Anne Listereine lesbische Einzelkämpferin in den Blick


JÜRG ZBINDEN


TV-Serien mit Lesben gab es zwar schon



  • etwa«The LWord» oder, hinter Git-
    tern, «Orange Is the New Black» –, aber
    eine mit einer Einzelkämpferin, zumal
    aus dem19.Jahrhundert,stell t ein abso-
    lutes Novum dar. Die britisch-amerika-
    nischeKoproduktion «GentlemanJack»
    macht Lust auf mehr.
    Die lesbische Liebe ist nochimmer
    ein Tabu, im Kino wie imFernsehen,
    und auch alltags halten sichFrauen, die
    Frauen lieben, eher bedeckt. Die Serie
    «GentlemanJack», ein Gemeinschafts-
    werkvon BBC One und HBO, rückt nun
    einelesbischeProtagonistininsZentrum.
    Es mutet fast schon ironisch an: Die
    Se rie «GentlemanJack» spielt im vor-
    letzten, dem19.Jahrhundert. Und die
    Lady – und um eine solche handelt es
    sich bei der Hauptfigur aufgrund ihres
    gesellschaftlichen Standes –,diemit dem
    höhnisch gemeinten, weil männlichen


Spitznamen bedacht wurde, existierte
wirklich.Sie hiessAnne Lister und wird
von der BBC als «Rockstar unter den
Lesben» gehandelt.Was immer darunter
zu verstehen sein mag.

Herbe Schönheit


DiedezentangeschmutztePittoreskezwi-
schen Upper Class und nackter Armut –
evoziert werdenJaneAusten und Charles
Dickens–gaukeltdenZuseherneinensel-
tenen Charme vor, der einigen indes fehlt:
im Besonderen der sauertöpfischenJung-
fer Marian, die bloss weiss, wie man Liebe
buchstabiert und die auf ihre autoritäre
Schwestereifersüchtigist.Zumeinen,weil
es dieser im Gegensatz zu ihr an amou-
rösen Erfahrungen nicht mangelt, zum
andern,weilsieAnneinderGunstderbe-
tagten Eltern höhergestellt sieht.Tatsäch-
lich ist Anne das unangefochtene Ober-
haupt der Listers und von derenLandgut,
Shibden Hall,nahe Halifax.

Anne Lister ist eine herbe Schönheit
(SuranneJones), die alsFrontwoman
einerBand durchaus «gothic appeal»
hätte. Ihr Signature-Look: ein boden-
langer schwarzer Mantel, auf demKopf
einZylinder,wieihnnurGentlementru-
gen,in der behandschuhtenRechten ein
«walking stick», ein Spazierstock mit sil-
bernemKnauf.MitandernWorten :Anne
Lister verkörpert vonKopf bisFuss das
Gegenteil eines Mauerblümchens. Dass
sie damit aneckt, verwundert kaum.
DieHoffnung,AnneaneinenGentle-
man zuverheiraten,hat dieFamilie früh
begraben – die Mutter ist eine stille Mit-
wisserin, derVater stellt sich taub, wenn
er etwas nicht hören will, doch sind
ihrer Ältesten beide sehr zugetan. So-
gar die oft quengelnde Marian hat ihre
Schwester im Grunde ins Herz geschlos-
sen. Anne will bloss das Beste, für ihre
Familie – und für sich.Weil eine Ehe mit
einem Mann nicht zur Diskussion steht,
hält sie nach einer ansehnlichen Erbin

im heiratsfähigen AlterAusschau.Und
siehe da, bald schonkonkretisiert sich
das Vorhaben, ihre anfänglich bedeu-
tungslosenAnstandsbesuchebeiderjun-
genundvermögendenAnnWalkergera-
ten zusehends zur Brautschau.

Zweite Staffelin Arbeit


Anne Lister (1791–1840) war in vieler-
lei Hinsicht eine mehr denn bemerkens-
werteFrau; sie gilt als «erstemoderne
Lesbe», die ausihrer Neigungkein Hehl
machte. Der Nachwelt hinterliess sie
ein immensesWerk inForm vonTage-
büchern.Ungefähr ein Sechstel der Ein-
träge schildern, verschlüsselt, ihre inti-
men Beziehungen, der unverschlüsselte
RestgibtihreNöteundSorgenalsUnter-
nehmerin und Gutsbesitze rin wieder.
Der Erstgeborene, ihr BruderJohn, ver-
starb bereits im ersten Lebensjahr, ein
zweiter Bruder, Samuel (geboren1793),
starb1812, so dass Anne sich um den Er-

halt von Shibden Hall kümmern musste.
«GentlemanJack» erzählt Geschichte
nach und beschönigt sicherlich das eine
oderandere.DieRealitätdes19.Jahrhun-
derts wäre einem Publikum,das sich aus-
giebig an der Nostalgie von «Downton
Abbey» erwärmenkonnte, wohl schwie-
rigzuvermittelngewesen.Zurzeitschreibt
SallyWainwright, die für die exzellente
Kriminaldrama-Serie«HappyValley»be-
reits einenBafta-Award gewann, an der
zweiten «GentlemanJack»-Staffel.
Wie es weitergeht mit denLiebschaf-
ten der couragierten Anne Lister, dar-
auf sindalle gespannt, die sämtliche acht
Episoden der ersten Staffelkonsumiert
haben.Währenddessen müssten sich die
Verantwortlichen bei einem deutsch-
sprachigen Sender an denKopf fassen,
weil hier eine packende gesellschafts-
politische Serie brachliegt. Hoffentlich
nicht mehr allzu lange.

«Gentleman Jack», 8Folgen, http://www.bbc.co.uk.
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