Neue Zürcher Zeitung - 13.09.2019

(Romina) #1

Freitag, 13.September 2019 FEUILLETON 37


Warum ich das Theater vermissen werde


DieRelevanz der Bühne ist da, aberes fehlt der Mut des Personals.Von Christoph Nix


Felix E. Müller geht nicht mehr ins
Theater. Denn, so findet der Meinungs-
macher und Literaturwissenschafter, das
Theaterreibe sich nicht mehr an der Ge-
sellschaft, sondern lebe in einerTheater-
Blase.Halt! Kaum 50 Kilometerent-
fernt von seinem GeburtsortWinterthur
hätte er all das gefunden, von dem er be-
hauptet, es existiere nicht mehr – ausser-
halb der Blase.
Er hätte ein Stadttheater entdeckt,
das sich mit dem Absturz eines Flug-
zeuges beschäftigt und einem Flug-
lotsen, den einRusse in Zürich-Kloten
ermordet; er hätte eineAufführung von
«Mein Kampf» von GeorgeTabori ge-
funden, die mich wenn nicht denKopf,
so doch zumindest einenTe il meiner
Karriere gekostet hat; er hätte einThea-
ter im Zirkuszelt angetroffen, das sich
mit Alltagsrassismus beschäftigt; einen
«Nathan», der den Zuschauer am Hin-
tern packt mit seinem latenten Anti-
semitismus.Ja,ich hatte es auch mit
Bürgermeistern zu tun, die nicht mehr
insTheater gehen und aus dem Sozial-
fonds Gutachten darüber erstellen las-
sen, warumTheater der Gemeinschaft
schadet. Hier inKonstanz war in letzter
Zeit schon was los.
Also gibt’s da eine Grenze. Es ist die
Grenze, die dem Schweizer Kritiker den
Blick in die deutsche Stadttheater-Pro-
vinz versperrt.Konstanz ist Einkaufs-
stadt undkeineKulturmetropole. Da-
für tut dieKommunalpolitik schliesslich
alles.AberKonstanz ist eben entgegen
demWillen sozialdemokratischer Pro-
vinzbürgermeister doch auch ein klein
wenig eineTheaterstadt.


Das Milieu: grün undspiessig


Aber, reden wir vom deutschsprachi-
genTheater: Es kann nicht besser sein
als seinPersonal.Dasind wir uns einig.
Immer gleich besetzteFindungskommis-
sionen sorgen dafür, dass – ob weiblich
oder männlich – blasse Dramaturginnen
oder angepassteKulturmanager die In-
tendantenpositionen erobern, denen
wenig amTheater, aber viel am eigenen
Aufstieg liegt.
Solche Karrierephantasien verhin-
dern es auch, mutig und künstlerisch
angreifbar zu bleiben. Stattdessen wird
das eigene Milieu gepflegt: Es ist grüner
als früher, aber nicht weniger spiessig,
und natürlich sind dessen Protagonisten
wohlhabender als die eigenen Eltern,
die auch nicht mehr insTheater gehen.
Es ist jedoch Unsinn, diesen blamablen
soziologischen Zustand dem Stadtthea-
tersystem anzulasten, es ist falsch, zu be-
haupten, nur in London stiegen die Zah-
len, wie diesFelix E. Müller tut, und es
ist ein Irrtum, zu behaupten, dasTheater


wolle zu viel und erreiche dadurch weni-
ger, wie dies vor einiger Zeit der Schau-
spielerRobertHunger-Bühler tat. Das
Theater hat sein ästhetisches Praxisfeld
reduziert, es ist dieeigene Sattheit unserer
Generation, die zu wenig neue, junge, rele-
vante Provokateure hervorgebracht hat.
Wosind die wilden Schauspielerinnen?
Wosollen sie auch herkommen?
Die Schauspielschulen, und damit
meine ich auch Zürich und Berlin, sind
lahme Entengeworden, ihreRekto-
ren sind aufs Altersgleis gesetzte, ver-
hinderte Intendanten. Die dortigen
Studentinnenkönnten in Gefängnisse
gehen, auf den Strassenspielen, im Mit-
telmeer Schiffe besetzen, Profitcen-
ter bilden, und sie lernen da auch ver-
dammt viel für das Leben und ihren Be-
ruf.Aber fürsTheater? LiebeRektoren
und Intendanten, ihr ermutigt sie nicht,
und sie tragenkeine echteWut, keinen
Antrieb, keine Leidenschaft in sich. Her-
auskommt: gehobeneLangeweile.
In meiner Studie«T heater-Macht-
Politik» (Bern 2017) habe ich gezeigt,
dass diePolitik die immer gleichenFigu-
ren zu Intendantenfindern macht. Und
die wählen fleissige,teilweise auch rich-

tig gute intellektuelle Leute, die den
verschiedenen Subsystemenangehören
und blass sozialdemokratisch oder bie-
der-grün bleiben. Daraus den Schluss
zu ziehen, dierechten Spiesser müss-
ten jetzt gegen linke Spiesser protestie-
ren, ist jedoch grundfalsch. Denn freie
Menschen,Künstler mit Bild und Uto-
pie, reiten gegen das Affirmative an,sin-
gen gegen denTod.

DasPotenzial: gigantisch


Eben gerade hatFrank Castorf in einem
Gespräch mit dem«Tagesspiegel» zu
Recht hervorgehoben, dass dieAutoren
undKomponisten des19.Jahrhunderts,
wie Dostojewski,Verdi,Hugo oder Bul-
gakow, noch lange nicht erschöpft sind.
Daliegt tonnenweise erstklassiges Ma-
terial brach, das uns die Machtstruk-
tur der neuenWelten buchstäblich vor
Augen führt. Doch was geschieht statt-
dessen?KommunalePolitik bedient
sich biederster Kriterien, um darüber
zu entscheiden, wer einTheater leitet
und wer nicht.
Das jüngste Beispiel in der Schwei-
zer Hauptstadt belegt, dass ins Ensem-

ble und an die Spitze dieses Hauses
immer nur brave Bürgerkommen wer-
den. Und ja, wen soll das interessieren,
was die da zeigen? Sie sind Bestandteil
des Netzwerkes «Schweiz-Zürich-‹Mas-
ter of Art›»,Teil desKultur- undThea-
terkuchens, und kriegen denJob.Das
hat mitKönnen noch langenichts zu tun.
Nein, Herr Müller, das Stadttheater
ist nicht die lahme Ente. Lahm sind viel-
mehr die, die für das dortigePersonal
so rgen und affirmative Intendanten –
Männer wieFrauen – in solche hoch-
angesehenenPositionen setzen.
Und derKulturjournalismus? Bitte?
Gibt es dennoch?Werden bei den
grossenTa geszeitungen nicht auch die
Theaterkritiker abgebaut?DasTheater-
Feuilleton fährt kaum mehr in die Pro-
vinz, sondern setzt auf das Bewährte,bil-
det bloss die edleKulturgesellschaft ab,
das Establishment, denKulturkuchen.
Erst kürzlich bemerkte Castorf, man
habe damals, als er imJahre1992 die
Volksbühne übernahm, vermutet, seine
grosse Zeit sei eigentlich schon vorbei
gewesen. Damals war Castorf in Ank-
lamund Chemnitz tätig – in Städten, von
denen der brave deutscheKulturjourna-

lis t vor demAufkommen der AfD nicht
einmal wusste, dass es sie gibt.
Und dennoch liegt darin ein Argu-
ment verborgen:Vor demAufstieg in
Kunst undPolitik ist der Intendant als
Regisseur und derKommunalpolitiker
als Macher vielleichtnoch mutig,sprich:
analytischer und angstfreier. Das gilt
fürs Appenzell wie auch für Mecklen-
burg-Vorpommern und ist eine sozio-
logischeAussage undkein anthropolo-
gischesWerturteil.

Es brauchtemehrTränen


Die Spitze des Unmöglichen war es,
als ich vor einigenJahren eineThea-
terkritikerin der Schweiz anrief und
ihr empfahl,einmal nachKonstanz in
dasTheater zukommen.Dafragte sie
mich,wieich dazukomme, sie über-
haupt anzurufen, ob garPeter Stein in
Konstanz inszeniere. Als ich verneinte,
sagte sie «na eben», und wir haben uns
nie gesehen.
Wer so denkt, sieht dieInseln im
Appenzell nicht, auch nicht die Flucht-
burgen in Anklam, er ignoriert, dass die
Publikumszahlen der Stadttheaterin
Deutschland und der Schweiz seitJah-
ren stabil sind und in einzelnen Städten
sogar wachsen,sieht nicht, dasses auch
in den Besetzungsetagen der lukrativen
Theaterposten «mafiöse» Strukturen
gibt, und spricht dann von einer Sinn-
krise desTheaters.
Ich sehe täglich wilde, hungrige junge
Regisseurinnen, die es nach Arbeit dürs-
tet, und ich ermüde an den in dieJahre
gekommenen Apologeten der alten
Meister, diekeine wirklich jungenRegie-
Gangster neben sich geduldet haben.
Ja, Felix E. Müller, ich hoffe, ich darf
Sie als Generationenbruder so anreden,
Sie haben jarecht, dasTheaterscheint
uns nicht zu fehlen, und doch vermissen
wir etwas, vielleicht nur manchmal eine
Frage und eineTr äne.
In Bertolt Brechts«Me-ti. Buch der
Wendungen» erlaubt sich der Meister
dieFrage an den Schüler, ob er denn
gut sitze? Der Schüler nickt irritiert,
und der Meister betont, er brauche eine
gute Sitzhaltung, wenn er denken lerne.
Den eigentlichen Grund verschweigt er:
Nur wer gut sitzt, fällt auch härter, und
wer fällt, scheitert besser und wird da-
durch vielleicht zumKünstler, zumin-
dest imTheater.
Wir brauchen also bessere Sitzplätze
und wilde Phantasien, damit wir unsere
Sehnsucht nicht verlieren, wenn wir sie
schon nicht vermissen.

Christoph Nixist Professo r für Strafrecht und
Theaterintendant in Konstanz (bis im August
2020 ) und Autor.

Waswartet hinterdem rotenVorhang?Das kommtaufdas Personal an,mit dem ein Stadttheater bestücktist. MARCUS BRANDT / DPA / KEYSTONE

Hollywood kommt gerne her


In zwei Wochen steigt das Zurich Film Festival. Es bringt nebst über 170 Werken auch Stars wie Cate Blanchett und Javier Bardeman die Limmat


URS BÜHLER


Die15.Ausgabe des elftägigen Zürcher
Filmfests bietet nicht nur ein kleines
Jubiläum,sondernauch einen grossen
Abschied: Das Gründungs- und Direk-
torenduo Nadja Schildknecht und Karl
Spoerri gibt das gemeinsam mit viel
Herzblut,Mut undKönnen herangezo-
gene Kind nun ganz ab – imTe enager-
alter und doch sehr erwachsen. Ab 2020
übernimmt derFilmjournalist Christian
Jungen als neuer künstlerischer Direk-
tor die Gesamtleitung.


BeinaheStammgast


Vorher aber ziehen diesen Herbst 171
Filme aus rund sechzigLändern über die
Leinwände (wobei nun auch eine des
KulturhausesKosmos einbezogen ist).
Etwa jedes dritteWerk läuft in einem
der dreiWettbewerbe,rund jedes vierte
ist ein Erstlingsfilm, wie am Donners-
tag bei der Präsentation des Programms
zu erfahren gewesen ist. Gerahmt wird


dasFilmangebot fast schon gewohn-
heitsgemässdurch eine Starparade, die
als medientechnischer Motordient. Zu-
vorderst stehen diesmalJavierBardem,
einer der vielfältigstenDarsteller sei-
ner Generation, die ähnlich facetten-
reiche Kristen Stewart, die in «Seberg»
die gleichnamige Schauspielikone ver-
körpert – und die unvergleichliche Cate
Blanchett, die den Ehrenpreis erhält.
Die beiden Letztgenannten führen eine
ganze «Delegation» starkerFrauen an,
zusammen mitJulie Delpy. Stolz sind
die Organisatoren auch darauf,dass ein
Drittel derFilme vonRegisseurinnen
stammt, deutlich mehr als imVorjahr.
Blanchettkommt schon zum zwei-
ten Mal nachZürich, ebenso Donald
Sutherland, und derJurypräsident Oli-
ver Stone ist schon fast Stammgast. Die
Wiederkehr diverser Hollywoodgrös-
sen kann als Beweis genommen wer-
den, dass man sich wohl fühlt in Zürich.
Das gilt wohl auch fürRon Howard, der
diesmal seine Dokumentation «Pava-
rotti» über den grossenTe nor mitbringt.

2013 steuerte er mit «Rush» einen der
packendsten Eröffnungsfilme in der jun-
gen Geschichte desFilmfests bei.
Dieser Ehrenplatz im Programm wird
heuer einem einheimischenWerk zuteil:
Zur Eröffnung am 26. September, bei
der Ueli Maurer den Bundesrat vertritt,
läuft das Biopic «Bruno Manser – Die
Stimme desRegenwaldes» von Niklaus
Hilber. Dieser holte 20 15 mit «Amateur
Te ens» überraschend den Publikums-
preis und darf diesmal mit weit grösserer
Kelle anrühren: Sein Budget lag mit 6
MillionenFranken etwa aufAugenhöhe
mit der Grossproduktion «Zwingli».
Eine Karriere wie der hinreissende
letztjährige Eröffnungsfilm «Green
Book», der dann bei den Oscars ab-
räumte, hat der Spielfilm über den seit
zwanzigJahren verschollenen Schwei-
zer Urwaldaktivisten natürlich nicht vor
sich. Doch in den letztenAusgaben sorg-
ten wiederholt einheimische Produktio-
nen fürAufsehen, und mit derWahl des
Manser-Films werden mehrere Fliegen
mit einer Klappe geschlagen: Erstens ist

dasFestival, das seitJahren mit einem
grünenTe ppich ein Flair für Ökologie
signalisieren will, diesmal mit diversen
Werken zu verwandtenThemen am Puls
der Zeit.Dazu gehört die Dokumenta-
tion «Sanctuary», dieJavierBardem zu
einer Expedition zum Schutz desWed-
dell-Meeres begleitet. Zweitens ist es
ein Bekenntnis zum SchweizerFilm, das
sich ebenso in der Besetzung derJurys
spiegelt und auch aus (subventions-)
politischer Sicht nicht falsch sein kann.
In den internationalen Spielfilmwett-
bewerb, wo Heimatschutz ohnehin fehl
am Platz wäre, haben eskeine hiesigen
Beiträgegeschafft.Dafür tauchen drei in
den anderen Sektionen auf. Gespannt ist
man etwa auf«Volunteer» über Schwei-
zerFreiwillige, die Bootsflüchtlingen bei
der Ankunft in Griechenland helfen:
Regie führten Lorenz Nufer und Anna
Thommen,die 2013 mit «Neuland»
einen brillanten Einstand als Dokumen-
tarfilmerin hatte. Hors concours wer-
denThemen wie dieRolle desJourna-
lismus bei derWahrheitssuche verhan-

delt (Reihe «Hashtag») oder ein Blick
auf das faszinierende SchaffenKolum-
biens geboten («NeueWelt Sicht»).

Venedig-Sieger im Programm


Neben vielen kleinenFilmen gibt es auch
genug, welche die Massen bewegen wer-
den; schliesslich bezeichnete der künst-
lerische Direktor Karl Spoerri sich und
seinTeam bei der Präsentation als «An-
wälte des Publikums». Zu den Galavor-
stellungen gehört etwa die Schweizer
Premiere des soeben inVenedig prä-
mierten«Joker» vonTodd Phillips.Und
der deutscheRegisseurRoland Emme-
rich, mit Katastrophenfilmen wie «Inde-
pendenceDay» und Einspielergebnissen
von kumuliert über 4 Milliarden Dollar
zu einem festenWert Hollywoods aufge-
stiegen, wird mit einem Preis und einer
Retrospektive geehrt.Verglichen damit
ist das Budget diesesFilmfests ja ein
Klacks: Knapp 8 MillionenFranken sind
es inzwischen,bei einemEigenfinanzie-
rungsgrad von satten 90 Prozent.
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