Neue Zürcher Zeitung - 13.09.2019

(Romina) #1

38 FEUILLETON Freitag, 13.September 2019


Greta Thunberg untertreibt sogar


Die Klimaforsc her agieren nicht alarmistisch, sondern besonnen – ebenso Greta Thunberg. Eine Replik


EDWARD KANTERIAN


Auf der Osterinsel im südöstlichenPazi-
fik standen einmal die grösstenPalmen
der Erde. Doch dann gerieten die Dorf-
sippen in einen Prestigewettstreit und
bauten immer grössere Steinstatuen,
für derenBau sie viel Holz brauchten.
Irgendwann gab eskeinen Wald mehr.
Eine ökologische und soziale Katastro-
phe war die Folge, von Jared Diamond
in«Kollaps.WarumGesellschaftenunter-
gehen oder überleben» (deutsch 2006)
eindrucksvoll beschrieben.Die einst blü-
hendeInselkulturhatteabgewirtschaftet.
Hat wirklich niemand den Untergang
kommen sehen? Stellen wir uns einen
aufg ewecktenTeenager vor, der abseits
desMachtkampfesstandunddieTorheit
desganzenTreibenseinsa h.DieserTeen-
agerstellteseinenDorfpriesterzurRede.
Dessen Antwort? Die Ahnenverehrung
folgeunantastbarenGesetzen,dasNach-
bardorf besitze eine grössere Statue,
neueBäume würdensich schonfinden.
Ohnehin: Ein törichtes Kind solle sich
nicht in so wichtige Dinge einmischen.
So ungefähr liest sich NiallFergusons
im Feuilleton jüngst publizierterAngriff
auf GretaThunberg. Er b eschreibt sie


als Anführerin eines Endzeitkultes. Da-
bei tretenThunberg und ihre Mitstrei-
ter doch gerade der Zerstörung unserer
Lebensgrundlagen entgegen. Sie wollen
das Leben, nicht denTod.

Die Argumente


Anders alsThunberg sieht sichFergu-
son als gemässigten Optimisten. Doch
der Schein trügt. So tadelt erThunberg
dafür, dass sie p er Jacht NewYork e r-
reichte, anstatt ein Flugzeug zu nehmen,
«das sowieso über denAtlantik geflogen
wäre». Nach dieser absurden Logik wäre
jederVersuch,Menschenzubeeinflussen,
überflüssig, auchFergusons Artikel. Der
zivile Flugverkehr ist aberkeineswegs
ein von uns abgelöster Naturprozess. Er
wächst immer weiter und ist das umwelt-
schädlichsteFortbewegungsmittel.
Sachlich hatFerguson drei Argu-
mente: Die Klimaerwärmung findet
statt, aber sie wirdkeine katastrophalen
Konsequenzen haben; passen wir uns an,
ans tatt sie zu verhindern; die Mensch-
heit hat wichtigere Probleme.Thunbergs
dringende Bitte anTrump, ja an uns alle,
auf dieWissenschaft zu hören,weil sonst
Schlimmes drohe, verweist er in den Be-

reich von Science-Fiction.Ohne ein wis-
senschaftliches Argument läuft ein sol-
cher Rundumschlag aber ins Leere. Er-
staunlicherweisefindetsichinFergusons
Artikelkein Hinweis auf die Befunde
der Klimatologen. (Björn Lomborg, auf
den er sich beruft, hat politischeWis-
senschaft studiert.) AndersThunberg.
In ihrer Ansprache vor der National-
versammlunginParis imJuli zitierte sie
akkurat aus dem letzten IPCC-Bericht
(vomOktober2018),zudem91Forscher
aus 40Ländern beitrugen:Um mit einer
Wahrscheinlichkeit von 67 Prozent die
globale Erwärmung auf höchstens 1,5
GradCelsiuszubeschränken,dürfenwir
noch maximal 420 Gigatonnen CO 2 aus-
stossen – Stand:1. Ja nuar 2018.
WieThunberg betonte, sind unsere
jährlichen Emissionen seitdem aber
nicht gefallen, sondern gestiegen, auf
jährlich 42 Gigatonnen.Die Überschrei-
tung der Grenze von 1,5 Grad Celsius
wird bekanntlich sehr ernsteFolgen für
die Biosphäre haben,in Form vonWas-
serknappheit, Ernteeinbrüchen,Wald-
bränden, Meeresanstieg, Massenmigra-
tion.All das findet schon statt.
Neulich erzählte mir ein somalischer
Strassenkehrer, in seiner Heimat würden

die Temperaturen immer unerträglicher.
Er will seineFamilie nach Europa holen.
Ähnliches hörte ich von einem rumäni-
schenFarmer,dersichüberdentrockenen
Zustand seinerÄcker und den katastro-
phalen Schwund der Insekten beklagte.

Die Rückkoppelungen


Tatsächlich ist selbstThunberg noch zu
optimistisch. Die grosse Unbekannte
hier sind dieRückkoppelungsprozesse,
die durch die CO 2 -bedingte Erwärmung
in Ganggesetztwerden. Zwei Beispiele.
Durch die Eisschmelze in denPolar-
gebietenwirdimmerwenigerSonnenener-
gie insWeltall reflektiert; die Erderwär-
mung nimmt daher zu und somit auch die
Eisschmelze. Ähnliches auch beimAuf-
tauen desPermafrosts, das inzwischen ein-
gesetzt hat.Nach neueren Schätzungen la-
gertimPermafrostdoppeltsovielKohlen-
stoff,wieCO 2 indergesamtenAtmosphäre
gebundenist.DurchdieErwärmungkönn-
ten grosse Mengen desPermafrost-Koh-
lenstoffs inForm derTreibhausgase CO 2
oder Methan freigesetzt werden.
DieauchsoschonbeunruhigendenBe-
funde des IPCC kalkulieren dieseRück-
koppelungsprozesse noch gar nicht ein.

NachmanchenAnalysen,etwavonJames
Hansen und seinemForscherteam, müs-
sen wir selbst bei Einhaltung des Zwei-
Grad-Ziels mit einem Anstieg des Mee-
resspiegels um mehrere Meterrechnen.
Sollten wir uns lieber an diese Zu-
stände anpassen, anstatt sie zu verhin-
dern, wieFerguson meint? Ein falscher
Kontrast, denn das eine schliesst das an-
derenichtaus.AndieglobaleErwärmung
werden wir uns notgedrungen anpassen
müssen.Dass uns dasauch gelingen wird,
vor allem bei einerTemperaturerhöhung
von 4 Grad Celsius oder mehr, nur weil
sichdieMenschenauchfrüherdemKlima
angepasst haben, ist ein naiver und un-
brauchbarer Induktionsschluss.
Wir haben es in unserer Geschichte
mitnichtsVergleichbaremzutungehabt.
DarauflegtThunbergdenFinger,undsie
hatrecht.HatdieMenschheitwichtigere
Probleme zu lösen?Wieder ein falscher
Kontrast.Thunberg:«IhrkönntdieKrise
nicht lösen,wenn ihrsie nichtals Krise,
in ihrer Gesamtheit,anseht.»Anders als
die Osterinsulanersollten wiraufunsere
aufgewecktenTeenager hören.

Edward Kanterianlehrt Philosophie ander
University of Kent.

Die Palazzi verdrängen die Biennale


Hochkarätige private Ausstellungen sind in Venedig so erfolgreich, dass alles andere zum Beiprogramm wird


DAGHILDBARTELS, VENEDIG


Eigentlich ist es einParadox: Alle zwei
Jahrewird Venedig zurWelthauptstadt
der Kunst des 20. und 21.Jahrhunderts.
Die Stadt, in die manreiste, um alte
Meister à laTintorett o und alte Kirchen
zu sehen,wandelt sich zur Biennale-Zeit
zunehmend und in diesemJahr bis zum
Overkill zur Plattform für moderne und
zeitgenössischeKunst.Was ist passiert?
Die Biennale vonVenedig ist die
prestigeträchtigsteKunstschau derWelt,
ein Signum, das sie sich trotz unzähli-
gen anderen Biennalen undKunstmes-
sen überall auf dem Globus bewahren
konnte. Sie besteht traditionell aus zwei
Teilen, der Hauptausstellung im Arse-
nale und den nationalenPavillons (29)
in den Giardini. Inzwischen sind es frei-
lich 90 Nationen, die ihrenKünstlern
in Venedig die Chance einesAuftritts
geben wollen. Daher mieten jene, die
weder in den Giardini noch imArsenale
ein Domizil ergatternkönnen, je nach
Budget, prächtigePalazzi oder beschei-
dene Gebäude in der Stadt.
Dort, verstreut kreuz und quer über
dieganzeStadt,sindsienichtallein.Denn
die Biennale garniertihre Schauseit je
mitCollateralEvents,alsomithochkarä-
tigenAusstellungen in den städtischen
Museen undInstitutionen. Dieser dritte
Part der Biennale hat in den letztenJah-
ren enormen privaten Zuwachs erhal-
ten, obwohl die Biennale versucht hat,
den kollateralen Sektor empfindlich zu
schrumpfen.Das nützte wenig, denn in-
zwischen haben Galeristen, Sponsoren,
Mäzene und Oligarchen den unbezahl-
baren Publicity-Effekt einer Präsenta-
tion in derLagunenstadt erkannt.


Alle wollen dabei sein


Nicht nur globale Player wie die Gale-
risten Gagosian, Hauser &Wirth oder
Ropac, sondern auch mittlere Galerien,
Künstlergruppen und Privatsammler
trumpfen mitkostspieligenAusstellun-
gen auf.An die hundert buhlen derzeit
um dieAufmerksamkeit des Biennalen-
Publikums. DieseArtvon Beiprogramm
ist phänomenal und einzigartig, nir-
gendwo sonst, nicht inBasel, Paris, Lon-
don,NewYork oder Kassel,hängen sich
so viele Akteure des Markts mitKunst
an ein internationales Kunste reignis.
Einen Grund für diesenRun aufVene-
dig nennt der GaleristDaniel Marzona,
der nicht mit von derPartie ist: «Alle
wissen, dass die wichtigsteAusstellung
der Welt das prestigeträchtigste Publi-


kum, sprich die potentesten Sammler,
anzieht, deshalb wollen sie dabei sein.»
Dass diese Sammler, so siekeine Ein-
ladung zumPreview haben,300 Euro für
ein Ticket zahlen mussten, verhinderte
deren massenhafte Anreise nicht.
Es ist freilich eine teure Angelegen-
heit,parallel zur Biennale mit einer
Kunstschau zu prunken. Um auf die of-
fizielle Liste der Collateral Events, samt
Logo auf dem Plakat, zu gelangen, müs-
sen bereits zwischen 20000 und 30 000
Euro berappt werden.Viele verzich-
ten jedoch auf das Logo und investie-
ren lieber in Plakate undTransparente,
wie jeder sehen kann,der mit demVapo-
rett o du rch den Canal Grande schippert.
Hinzukommen die nicht unerheblichen
Kosten für die siebenmonatige Miete
meist einesPalazzos plusTransport- und
Versicherungskosten für die ausgestell-
ten Arbeiten sowie dieKosten für das
Betreuungspersonal.

Das Ganze ist ein florierendes Ge-
schäft für die Eigentümer derPalazzi.
Je nach Pracht der Immobilie werden
220 000 bis 500000 Euro Miete für
die gesamteLaufzeit verlangt.Sei ein
Palazzoim Februarnoch nichtvermie-
tet, berichtet ein Insider, senkten die
Eigentümer die Miete und liessen dann
auch einereduzierte Mietdauer von drei
od er vier Monaten zu. Die Kirchen, die
mit Kunst bespielt werden,können für
70 000 bis 90 000 Euro gemietet wer-
den,Wachpersonal inklusive. Andere
Gotteshäuser, deren Statuten einekom-
merzielleVermietung verbieten, erwar-
ten eine Spende.
Ein weiterer Grund für die fast in-
flationäreAufblähung des kollate ra-
len Ausstellungsbetriebs ist auch darin
zu sehen, dass die Biennale gemäss Be-
richten ihr Sponsoring-System in diesem
Jahr änderte. Konnten bisher Mäzene,
Galeristen und Privatsponsoren jeweils

einenKünstler ihrerWahl mit ihrer
Spendeunterstützen, fliesst deren Geld
jetzt in einen grossenTopf und wird von
der Biennale verteilt.Viele Galeristen
sollen daraufhin die Biennale mit weni-
ger Geld unterstützt haben. Lieber ma-
chen sie nun ihre eigeneAusstellung.
Und diese teuren Privatinitiativen
sind insgesamt so attraktiv, spannungs-
voll und hochkarätig, dass mittlerweile
die Gefahr besteht, dass die eigentliche
Biennale zum Beiprogramm der Colla-
teral Events wird.Fragt man Besucher,
wie sie die diesjährige Biennale fanden,
schwärmen alle zuerst von denAusstel-
lungen in der Stadt. So sind diesesJahr
viele begeistert von der brillanten Solo-
ausstellungderwiederentdecktenameri-
kanischenFarbfeldmalerin HelenFran-
kenthaler imPalazzo Grimani – allein
schon einen Besuch wert ist der impo-
sante, soeben fertigrestauriertePalast.
Sehr sehenswert sind auch die Schauen

vonArshileGorkyinderCa’Pesarooder
von Jean Arp bei Guggenheim.
Ein absolutes Highlight findet sich
aber in derBasilika San Giorgio Mag-
giore, wo Sean Scully, präsentiert von
der GalerieKewenig, einen wunderba-
renAuftritt hat. Dessen abstrakte, durch
breiteQuerstreifeninvierbisfünfSchich-
tengemalteBildermitdersoghaftenTie-
fenwirkunglocktensogardenPapstindie
Ausstellung. Im Palazzo Ca’Corner della
Regina erhieltJannis Kounellis eine be-
eindruckendeSchaumitgrandiosenWer-
ken vor allem aus derFrühzeit der Arte
povera,die deren unübertroffeneAktua-
lität bekunden. DerPalazzo Grassi fei-
ert eine opulenteRetrospektive von
Luc Tuymans, in der viele bisher unbe-
kannte Bilder des Belgiers zu entdecken
sind.NeuesteArbeiten vonAdrian Ghe-
nie hat GaleristRopac dem Superstar als
glanzvolleSchauimPalazzoCinibereitet.
Mit Betonung auf jung und experimen-
tell ist unter demTitel «Luogo e segni»
in der Doganaeine exzellente Gruppen-
ausstellungmitvielenwenigerbekannten
Künstlern zu bewundern, die ausgespro-
cheneFrische ausstrahlt.

Künstlerische Ausflüge


Die 2009 in Moskau gegründeteVAC
Foundation hat imPalazzo delle Zattere
unter dem Motto«Time, Fo rward» ein
virtuosesPanorama vieler internationa-
ler Künstler zumThema Zeit eingerich-
tet. Und der gefeiertePorzellankünstler
Edmund deWaal, dessen blütenweisse
Gefässe wiekostbare Kleinskulpturen
weltweitFurore machen, baute im Ate-
neo Veneto einenKubus, in welchem
er seine Arbeiten mit einer Bibliothek
konfrontiert, die sich der Exilliteratur
widmet.Die Besucher sindaufgefordert,
Titel, die sie vermissen, in ein Buch ein-
zutragen,derKünstler wird sie besorgen.
Inzwischen zum Geheimtippavan-
cier t ist dieAusstellung «Glasstress»,
die diesmal auf der Insel Murano, dem
Zentrum der venezianischen Glasbläse-
rei, stattfindet und Highlights der ver-
gangenenJahre versammelt:Renom-
mierteKünstler wie AiWeiwei, Thomas
Schütte, Kendell Geers oder Monica
Bonvicini zeigen da ihre überraschen-
den Ausflüge insReich der Glaskunst.
Unter den vielen nationalen Pavillons,
die sich in der Stadt eingerichtet haben,
gehört derjenige von Litauen zu den
sehenswertesten. Mit der wunderbaren
Oper «Sun & Sea» hater übrigens den
Goldenen Löwen für den besten natio-
nalen Beitrag erhalten.

Hans Op deBeeck: «T he Frozen Vanitas»,2015. FRANCESCO ALLEGRETTO
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