Neue Zürcher Zeitung - 13.09.2019

(Romina) #1

Freitag, 13. September 2019 INTERNATIONAL


Die Staatsmacht


rächt sich


an Nawalny


Russische Behördendurchsuchen
die Büros des Oppositionellen

MARKUSACKERET, MOSKAU

Die ersten Meldungen über polizei-
licheDurchsuchungen kamen in den
frühen Morgenstunden, und bald wur-
den es immer mehr. In einerkonzer-
tierten Aktion haben am Donnerstag
das russische Ermittlungskomitee und
die Sicherheitsorgane in ganzRussland
die Büros des oppositionellen Aktivis-
ten Alexei Nawalny sowieWohnungen
seiner Mitarbeiter und vonFreiwilli-
gen durchsucht. Die «Stäbe» Nawalnys
in über vierzig Städten waren betrof-
fen und insgesamt über150 Adressen.
Im Internet veröffentlichte Karten ge-
ben ein gutes Bild davon ab, wo über-
all NawalnysTeam mittlerweile vertre-
ten ist– ein für die Staatsmacht unbe-
haglicher Anblick.

Hassfigur für Funktionäre


Die zumTeil vermummten Einsatzkräfte
gingen brachial vor,wie Bilder von Über-
wachungskameras zeigten und wie Be-
troffene selbst schilderten. DemWolgo-
graderKoordinator von Nawalnys Tätig-
keit wurde die Hand gebrochen,alser
versuchte,seinen Anwalt anzurufen.Aus
den Büros undWohnungen nahmen die
Ermittler alleKommunikationsgeräte
und Computer mit, die sie findenkonn-
ten – auch von unbeteiligtenFamilien-
mitgliedern. Überdies liessen sie die per-
sönlichenBankkonten von Mitarbeitern
wie vonFreiwilligen sperren.
Das koordinierteVorgehen ist der
bis anhin heftigste Schlag gegen den
43-jährigen Anti-Korruptions-Kämpfer
aus Moskau. Die Ermittler begründe-
ten es mit einem Strafverfahren gegen
seine Stiftung Kampf gegen dieKorrup-
tion. Diese Organisation veröffentlichte
in den vergangenenJahren oft aufsehen-
erregendeRecherchen überReichtümer
undkorrupte Praktiken einflussreicher
Funktionäre.Die Youtube-Filme dar-
über machten Nawalny besonders bei
jüngerenRussen populär und bei den
angeprangerten Beamten undPolitikern
zur Hassfigur.
Das Ermittlungskomitee wirft der
Stiftung und einerReihe ihrer Mitarbei-
ter Geldwäscherei vor. Sie sollen angeb-
lich illegal erarbeitetes Geld über Um-
wege auf eigeneKonten und solche der
Organisation geleitet haben. DieRede
war anfangs von 1 MilliardeRubel (
MillionenFranken). Nawalnys Stiftung
lebt von Spenden.

Einschüchtern und zerschlagen


Das Vorgehen vom Donnerstag wirkt
wie eineRache für Nawalnys politi-
sche Einflussnahme vor denRegional-
wahlen des vergangenen Sonntags. In-
wieweit seineWahlempfehlungen unter
der Losung «klugesWählen» wirklich zu
denVerlusten der Staatspartei Einiges
Russland geführt haben, ist strittig.Aber
allein mit diesem indirektenVersuch,
Teil derWahlen zu sein, obwohl alle
seine Mitstreiter von derTeilnahme ab-
gehalten worden waren, dürfte erFunk-
tionäre inRage versetzt haben.
Die Staatsduma,die die angebliche
ausländische Einmischung in die Pro-
teste und dieWahlen untersuchen will,
vermutet in Nawalny und seiner zum
Aushängeschild gewordenen Juristin
Ljubow Sobol gar Agenten ausländi-
scher Geheimdienste. Die Sicherheits-
behörden und diePolitiker erzürnte er
zudem mit denAufrufen zu den unbe-
willigten Protestmärschen dieses Som-
mers. Dafür verbrachte er über einen
Monat inPolizeihaft.
Dass die Ermittler jetzt auch gegen
Mitarbeiter und Freiwillige in den
Regionen vorgehen, dient der Ein-
schüchterung. MitAusnahme der tole-
rierten sozialliberalen Jabloko-Partei
verfügtkeine andere oppositionelle Be-
wegung über eine so breite Präsenz in
den Provinzen wie jene Nawalnys. Diese
Struktur mitrechtlichen und polizei-
lichen Mitteln zu zerschlagen, dürfte
die Intention der grossangelegten Kam-
pagne sein.

Der grüne Realo will an der Macht bleiben


Winfried Kretschmann kandidiert für einedritte Amtszeit als Ministerpräsident v onBaden-Württemberg


ANJASTEHLE, BERLIN


Er habesich die Entscheidung nicht
leicht gemacht.Baden-Württembergs
grüner Ministerpräsident Winfried
Kretschmann berichtete am Donnerstag
von vielen Gesprächen, die er während
der Sommerpause geführt habe. Er habe
in diePartei hineingehorcht, beiFreun-
den und derFamilie umRat gebeten.
Von denGrünen habe er «Zustimmung»
bekommen, selbst über den «Flurfunk»
habe er nichts anderes gehört. Und so
sei schliesslich der Entschluss gefallen,
für eine dritte Amtszeit zu kandidieren.
Kretschmanns Zögern hat Gründe:
Würde er bei denWahlen imJahr 2021
erneut zum Ministerpräsidenten gewählt,
wäre er zum Ende seiner dritten Amts-
zeit 78Jahre alt. Kretschmann betonte:
Er fühle sich «körperlich und geistig fit».


Umweltpolitik alsPriorität


Was beiseiner Entscheidung auch eine
Rolle gespielt haben dürfte, ist dieFrage:
Wann ist der richtige Zeitpunkt, zu
gehen? Kretschmann gilt als der belieb-


teste Ministerpräsident Deutschlands.
Zuletzt sagten in einerForsa-Umfrage
73 Prozent der befragtenBaden-Würt-
temberger, dass sie mit seiner Arbeit zu-
frieden seien.
Die Grünen freut es. Die Bundes-
vorsitzenden AnnalenaBaerbock und
Robert Habeck betonten in Berlin: «Er
geniesst grosses Ansehen undVertrauen
und schafft es, auf besondereWeise
Bindekraft für die BreitederGesell-
schaft zu entfalten.» Kritikerbezweifeln
allerdings, dassderRealo Kretschmann
nach einer weiterenWahl zum Minister-
präsidenten neue Impulse setzen und die
für die Grünen wichtige Klimapolitik
entscheidend mitgestalten wird. Kretsch-
mann betonte zwar,Umweltfragen hät-

ten in einer neuen Amtszeit oberste
Priorität. Ohne «Zumutungen» sei es
nicht mehr zu schaffen, die Klimaziele
zu erreichen. Anreize, Subventionen und
Vorschriften alleine würden nicht mehr
ausreichen.Das klingt nach dem, was die
Grünen im Bundvertreten.

Reibereien mit linkemFlügel


Bisher ist eine andereSeite Kretschmanns
aber besser bekannt. In derVergangen-
heit ist er meist durch seinen Pragmatis-
mus aufgefallen.Auf die für seinePar-
tei stets heikleFrage nach dem Dienst-
wagen antwortete Kretschmann einmal:
Ein baden-württembergischer Minister-
präsident fahre einenDaimler:«Basta


  • ich nehme einenDaimler S-Klasse,
    ich kann dochkeinenFiat fahren.»Auf
    einem Bundesparteitag der Grünen be-
    zeichnete er das Ziel seinerPartei,Ver-
    brennungsmotoren nur noch bis 2030 zu-
    zulassen, als «Schwachsinns-Termin».
    Von Beginn an machte sich Kretsch-
    mann einen Namen alsRealpolitiker.
    Er war zwar1984 als Grünen-Spitzen-
    kandidat für dieLandtagswahl vorge-


sehen, zog sich jedoch zurück.1988 sass
er erneut imLandtag, überwarf sich aber
wieder mit denFundis. Danach arbeitete
er als Lehrer, seit1996 ist er wieder Ab-
geordneter imLandtag.
2011 dann schaffte Kretschmann den
historischenWechsel in der baden-würt-
tembergischenLandesregierung. Seine
Koalition mit der SPD löste die CDU
nach mehr als sechsJahrzehnten an der
Regierung ab.Auftrieb gaben ihm damals
die Atomkatastrophe inFukushima und
die Proteste um das umstritteneBahn-
projekt Stuttgart 21. Seit 20 16 regiert er
in einergrün-schwarzenKoalition.
Bei derkommendenLandtagswahl
2021 wollen die Grünen den Minister-
präsidentenposten verteidigen –vor
allem gegen die CDU,die inBaden-
Württemberg wieder denRegierungs-
chef stellenmöchte. Für die Christ-
lichdemokraten ziehtKultusministerin
Susanne Eisenmann als Spitzenkandi-
datin in denLandtagswahlkampf. Ob
das grün-schwarze Bündnis fortgeführt
wird, ist fraglich. Das Verhältnis zwi-
schen Grünen und CDU gilt mittler-
weile als schwierig.

Trudeaus Stunde der Wahrheit


Der kanadischePremierminister kämpft nach mehrerenSkandalen umseine Wiederwahl


MARIE-ASTRID LANGER,SAN FRANCISCO


PremierministerJustinTr udeau hat am
Mittwoch dasParlament aufgelöst und
damit denWahlkampf eingeläutet. Die-
ser ist im Gegensatz zum Nachbarland
USA angenehm kurz.Wahltermin istbe-
reits der 21.Oktober. Es sind also knapp
sechsWochen, dieTr udeau bleiben, um
dieWähler von einer zweiten Amtszeit
für seine LiberalePartei zu überzeugen.
Doch mehrereSkandaleder vergange-
nenJahre lasten schwer auf dem eins-
tigen Hoffnungsträger der Liberalen.
Mit demVersprechen auf frischenWind
hatte der damals 45-jährigeTr udeau
2015 diePartei an dieRegierungsspitze
katapultiert.Auch dank seinem bekann-
tenFamiliennamen–Vater PierreTru-
deau war (mit kurzem Unterbruch) von
1968 bis1984 Premierminister gewe-
sen–gewannen die Liberalen148 Sitze
hinzu(seitdem haben sie sieben wieder
verloren). Es war der grösste Zugewinn
einerPartei in der Geschichte Kanadas.
Nach vierJahren hat das Image des
selbsterklärten Saubermanns allerdings
Risse bekommen: Die Einlösung seines
Versprechens, dasWahlsystem zurefor-
mieren, bleibt er trotz bequemer Mehr-
heit schuldig. Kurz nach Amtsantritt lies-
sen sich dieTr udeaus zuFerien auf der
Privatinsel des Geschäftsmanns Aga
Khan einladen.Auf eine Dienstreise
nach Indien brachteTr udeau seineFrau
und die drei Kinder mit, die sich alle in
passende grelle Gewänder kleideten wie
in einem Bollywood-Film; die Gastgeber
empfanden das als Spott, und Kanada
versank in Scham. SelbstTr udeausinter-
national gelobtes Kabinett, das zu 50 Pro-
zent ausFrauen sowie Angehörigen eth-
nischer Minderheiten bestand, wurde
nicht verschont; mehrereMinisterinnen
und Minister warfen ihm vor,dass er sie
nicht ernst nehme, und traten zurück.


Konservative wittern Chance


Die Affäre um die kanadischeBaufirma
SNCLavalin, die imFebruar publik
wurde, brachte dasFass zum Überlau-
fen:Tr udeau hatte zugunsten desBau-
riesen SNCLavalin aus seiner Heimat-
provinz Québec Druck aufdieJustiz-
ministerinJodyWilson-Raybouldausge-
übt, um demKonzernein Strafverfahren
wegenKorruption in Libyen zu erspa-
ren. AlsWilson-Raybould sich weigerte,
die Affäre auf eine Geldstrafe zuredu-
zieren,wurde sie erst auf einen weni-
ger wichtigen Kabinettsposten versetzt
und dann aus derPartei ausgeschlossen;
ebenso eine andere Ministerin, die aus
Solidarität zurückgetreten war. Mitte


August stellte auch eine Ethikkommis-
sion einFehlverhaltenTr udeaus fest. Er-
schwerendkommt hinzu, dassWilson-
Raybould der indigenen Bevölkerung
angehört; diese nahm dem Premier-
ministerohnehin übel, dass er für eine
umstrittene Erdöl-Pipeline durch India-
nergebiet gestimmt hatte.
InTr udeaus Skandalen wittern seine
Herausforderer ihreChance.Die Con-
servativeParty of Canada (CPC) um
ihren Spitzenmann Andrew Scheer legt
seit Monaten bei jeder Gelegenheit
denFinger in dieWunde SNCLava-
lin. Scheer lobbyierte für vorgezogene
Neuwahlen, dieTr udeau jedoch abwen-
denkonnte. Dank dem Skandal stieg die
CPC in Umfragen imFrühjahr zur be-
liebtestenPartei auf.Vom Skandal pro-
fitiert haben aber auch die zwei kleine-
ren Parteien: die New DemocraticParty
(NDP) um ihren Vorsitzenden Jag-
meet Singh, die politisch links der Libe-
rals steht, sowie die GreenParty um
dieVorsitzende Elizabeth May. In Um-
fragen liegen die zwei zwar weit abge-
schlagen hinter denKonservativen und
Liberalen, doch sollten die beiden gros-
senParteien eine klare Mehrheit verfeh-

len,könnten die NDP oder die Grünen
Königsmacher spielen.
FürTrudeaukönnte sich jedoch aus-
zahlen, dass der Skandal um SNCLava-
lin bereits ein halbesJahr zurückliegt.
Laut der jüngsten Umfrage des Ipsos-In-
stituts vom 20.August liegenKonserva-
tiveund Liberale inzwischen fast wieder
gleichauf. Ein Gleichstandkönnte für
die Liberalen tatsächlich einen Sieg be-
deuten, berichtet der kanadische Nach-
richtensenderGlobal News.Angesichts
dessen, wie dieWähler der Liberalen
imLand verteilt sind, könnte diePartei
selbst dann eine Mehrheit der Sitze im
House of Commons erringen, wenn sie
nur eine Minderheit der Stimmen hat.

Die Wirtschaft floriert


Die spannendeFrage ist, wieTr udeau
in denkommendenWochen versuchen
wird, seineBasis an die Urnen zu locken.
Im Gegensatz zu 20 15 kann der Amts-
inhaber sich nicht mehr als neues, junges
GesichtderPolitik inszenieren; die Her-
ausforderer Scheer und Singh sind beide
siebenJahre jünger alsTr udeau. Eine
Strategie, die er seit Monaten fährt, ist,

sich aufKosten des allseits unbeliebten
amerikanischen Präsidenten zu profilie-
ren,indem er sich diesem vergleicht –
frei nach dem Motto: Schaut, Kanadier,
wie viel besser ihr es doch habt.
Positivkönnte sich fürTr udeau auch
die guteWirtschaftslage auswirken; die
Arbeitslosigkeit sank imJuni auf den
tiefsten Standaller Zeiten,5,4 Prozent.
Die Liberalen waren 20 15 mit demVer-
sprechen angetreten, die Steuern zu sen-
ken und wirtschaftlichesWachstum für
dieMittelklassezugenerieren.Entschei-
dend werden die bevölkerungsreichen
Provinzen Québec und Ontario sein; in
ersterer führen die Liberalen in Umfra-
gen klar mit 19 Prozentpunkten vor den
Konservativen. Die Bürger in Québec
danken es ihrem Premierminister of-
fenbar, dass er sich für den dort ansäs-
sigenKonzern SNCLavalin eingesetzt
hat, um Arbeitsplätze zuretten.Tr udeau
muss sichan den Erwartungen messen
lassen, die er selbst vor vierJahren ge-
setzt hat. Er trage nicht nur die Schuld
daran, dass er es versäumt habe, anders
als seineVorgänger zu sein, schrieb das
Nachrichtenmagazin «Macleans», son-
dern auch, dass er es versprochen habe.

Justin Trudeau bleiben knappsechs Wochen, um seine Anhänger zu mobilisieren. JENNIFER GAUTHIER / REUTERS

Winfried
Kretschmann
Ministerpräsidentvon
REUTERS Baden-Württemberg
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