Neue Zürcher Zeitung - 13.09.2019

(Romina) #1

50 GESELLSCHAFT Freitag, 13. September 2019


Klein, kleiner, Kleinstadt

Die meisten Schweizerleben inbeschaulichen Gemeinden mit wenigen zehntausendEinwohnern.Unser Autor


ist inSchaffhausen aufgewachsen– undringtbis heute damit. VONDONAT BLUM


Eines möchte ich vorwegschicken: Ich
hasse Schaffhausen nicht. Ich bin gerne
in der Kleinstadt aufgewachsen, in Ruhe
und wohlbehütet.Aber ich stelle immer
wieder fest: Ich ringe mit ihr, wie ich
mit all den Kleinstädten ringe,die die
Schweiz auszumachen scheinen. 162 sind
es, sofern man Zürich, Genf, Lausanne
und Basel als «Grossstädte» zählt (Bern
und Winterthur sind es definitiv nicht,
sorry).Rund die Hälfte der Schweizer
Bevölkerung lebt in einer Kleinstadt.
Wenn ich an meine Kleinstadt denke,
an Schaffhausen, dann beginnt das Lied
von DieterWiesmann in meinemKopf
zu spielen: «Blos echliini Stadt mit bür-
gerlicheWänd,blos echliini Stadt,wo ein
de ander kennt.»
Entsprechend leicht fiel
mir die Musikwahl, als mich der lokale
Radiosender mit dem Slogan «Do isch
Schafuuse!» kürzlich einlud und bat, ein
Lied, passend zu meiner Beziehung zu
Schaffhausen, mitzubringen. Schwer zu
sagen, was zuerst war:Wiesmanns Lied
oder meineWahrnehmung von Schaff-
hausen als «nicht mehr als eine kleine
Stadt», wie es bereits derTitel des Lie-
des suggeriert.


KeineBurg, nur Zufluchtsort


«Blos echliini Stadt,ganz zusserscht usse
und äne am Rhy.»
Seit bald15 Jahren
wohne ich nicht mehr dort. Und trotz-
dem packen mich, wenn sich der Zug in
hohem Bogenüber das Rheinfallbecken
schwingt, viele, meist ambivalente Ge-
fühle.Noch eine Linkskurve,dann wer-
den sie vor mir liegen: die mittelalter-
liche Altstadt,zwischen Moränenhügeln
gebettet, die Rheinbrücken und, über
all das wachend, der Munot. Keine rich-
tige Burg, wie ich als Kind immer wie-
der enttäuscht feststellen musste:keine
Zimmer undkeine Säle,keine Ritter-
tafeln undkeine Feuerstellen. Sondern
eine schlichte Zufluchtshalle für die mit-
telalterliche Stadtbevölkerung, samt Ter-
rasse, von der aus auf dieAngreifer hätte
geballert werdenkönnen.Immerhin.
Im Gegensatz zu vielen Agglomera-
tionsgemeinden weht in Schaffhausen
tatsächlich so etwas wie ein städtischer


Wind: Es gibt ein Stadttheater und ein
alternatives. ZweiKonzertlokale. Zwei
Kinos. In dem einen habe ich Studio-
filme gesehen, die teilweise nicht ein-
mal in Zürich liefen,geschweige denn in
Berlin,wo ich heute gelegentlich wohne.
Es gibt einFussballstadion, ein Gericht
und – mitten in der Stadt – ein Gefäng-
nis. Halt alles, was eine Stadt so braucht.
Die höchste Bildung erlangt man
«auf dem Hügel», wo neben dem Munot
ein kleines Schlösschen thront: die Kan-
tonsschule.Wobei das heute nicht mehr
ganz stimmt: Eine semivirtuelle Hoch-
schule und zwei höhereFachschulen ver-
suchen sich seit wenigenJahren gegen
beträchtlichenWiderstand zu etablieren.
Und die Lehrerausbildung kannvon je-
her in Schaffhausen absolviert werden.
Nur höher geht es nimmer.
Ich wage zu behaupten, dahinter
stecktSystem.Kein bösartiges, keines,
das jemandausgesonnen hätte. Son-
dern eines,eingeschliffen seit,sagenwir,
kurz nach dem Mittelalter: klein, klei-
ner, Kleinstadt.Oder, in denWorten des
LiedermachersWiesmann: «statt High
Society blosDameriige».

Bis 2014 hatte Schaffhausen eine
Institution von internationalemRuf, die
Hallen für NeueKunst. Ein Berliner er-
zählte mir, er habe an derKunstschule
gelernt, dass mit den Hallendas Kon-
zept vonKunstmuseen in leerstehen-
den Industriebauten erfunden oder zu-
mindest etabliert worden sei. Man spre-
che vom «Schaffhauser Modell». Davon
hatte ich in während meiner Zeit in der
Kleinstadtnoch nie etwas gehört. «Die
Hallen» in der ehemaligenTextilfabrik
waren für Schaffhauser vor allem eines:
zu gross. Zumindest schauten sie unge-
rührt zu, wie die Besitzer nach einem
verlorenenRechtsstreit um einWerk
von Beuys ihreKunstsammlung nach
Basel in ein Depot abzogen. Nein, sie
schauten nicht nur zu, sie schienen sich
sogar zu freuen über denRaum,der nun
wieder frei war für die eigeneKunst.
Für die Kleinkunst.Und sobauten sie
als Erstes mitten in dieeinst ehrwürdi-
gen Hallen eine Murmelbahn.Aus Klo-
papierrollen, vermute ich.

Handy-Verbot im Bus


Das System Kleinstadt beschränkt sich
nicht auf Schaffhausen. Bin ich etwa in
Thun, wo ich ein Literaturfestival mit-
organisiere, denke ich genauso oft:
Kleinstadt eben. Ich denke es nicht nur,
sondern ich sage es auch zu meinenKol-
leginnen, wenn sie enttäuscht sind über
den mangelnden Enthusiasmus des
Publikums für Neues. Oder über plötz-
lich fehlenden Zuspruch für eineAbend-
veranstaltung,die imVergleich zu den
Vorjahren um eine halbe Stunde nach
hintenund in eine andereRäumlichkeit
verlegt worden ist. Kleinstadt eben.
In Kleinstädten herrscht eine klare
Ordnung, die man nicht brechen sollte.
Entsprechend schwer tun sich die Be-
wohner mitVeränderung.Treff e ich in
Schaffhausen auf eine ehemalige Lücke
im Stadtbild, die durch ein neues Ge-
bäude ersetzt worden ist, dann ist das
mir – dann ist das uns – nochJahre da-
nach ein Dorn imAuge.Als in den neun-
zigerJahren die erste McDonald’s-Fi-
liale in Schaffhausen eröffnet werden

sollte, wurde dagegen demonstriert und
die Zusicherung erstritten, dass abends
Arbeiter händisch den Styropormüll
aus den öffentlichen Mülleimern ein-
sammeln mussten.In Thun markieren
blaue, stilisierte «Chüdersäck», wo auf
demTrottoir derKehricht abgestellt
werden muss. In Bern verging während
der siebenJahre, die ich dort lebte, ge-
fühltkein Tag, an dem nicht mein Dia-
lekt nachgeäfft und ich «alsFremder» in
die Schranken gewiesen wurde.
Meine Lieblingsanekdote zu diesem
System: Bis vor einigenJahren galt in
den Schaffhauser Bussen ein Handy-
Verbot. Ich kann mich gut daran erin-
nern, wie ich das nach einigen Monaten
in Bern vergessen hatte und zurück in
Schaffhausen freimütig im leeren Bus
telefonierte. Noch vor der ersten Halte-
stelle forderte mich der Buschauffeur
übers Mikrofon auf, ich müsse sofort
auflegen oder den Bus verlassen. Und
auch an die Einführung desVerbots
kann ich mich bestens erinnern,daich,
vermutlich als Einziger unter65, die
«Buszytig» las. Ein Blatt,das in den Bus-
sen gratis auflag und aus dem man ei-

nigeAusgaben zuvor einenTalon hatte
ausschneiden können,um postalisch
darüber abzustimmen, ob in den Bus-
sen nicht das neumodischeTelefonieren
verboten werden sollte.
«Wir sind beide in einer kleinen
Kleinstadt geboren.» Mit diesem auto-
biografischen Satz beginnt mein erster
Roman.Der eineTeil desWir ist der Ich-
Erzähler und bin auch ich. Je länger ich
darüber nachdenke, desto klarer wird
mir, warum ich intuitiv das «klein» ver-
doppelt habe: Ich wollte es betonen, so
wie wir es als Kleinstädter gewohnt sind.
Vor die Stadt gehörtein Klein. «Kl ein!»
als Imperativ.Wir sindkeine Städter,
wir sind Kleinstädter. Bekannt dafür, in
Zürich in die Provinzlerfalle zu tappen,
sprich: anFussgängerampeln auf den
gelben Kasten zu drücken, der dort nur
ein Summer für Blinde ist.
Ich drifte ab, ich mokiere mich.Das
passiert manchmal,wennich über Schaff-
hausenrede. Und ich höre, ja spüre, wie
das Schaffhauserinnen und Schaffhauser,
wie das mich verletzt.Dabei möchte ich
doch eigentlich nur eines sagen:Was ich
an Kleinstädten, was ich an dir,Schaff-
hausen, vermisse, ist mehr Grosszügig-
keit. Ich wünschte, dass du nicht bis kurz
vor MarkusWernersTodgewartethät-
test, um einen der grössten Schweizer
Schriftsteller der Gegenwart gebührend
zu ehren. Ich wünschte, ich würde im
Jahr 2019 nicht lesen, dass du ein fünf-
jähriges Mädchen wegen Schwarzfahren
büsst und am grössten Musikfestival der
Stadt neben 33 Männern gerade einmal
zweiFrauen auf derHauptbühne auf-
tretenläss t. Ich wünschte, dass ich nicht
zwanzigJahre lang den Eindruck hätte
haben müssen, in dir lebekein einziger
queerer Mensch ausser mir.
Aber ja, jetzt hast du mich: Natürlich
bist es nicht du,kleine Kleinstadt,der
die Grosszügigkeit fehlt. Sondern es ist
der Kleinstädter in mir, der sie dir nicht
zugestehen kann.
«Pfuus guet, chliini Stadt.»

Donat Blumist Schriftsteller, sein Roman
«Opoe» erschien 2018 im Verlag Ullstein fünf.

Erstaus einergewissen Distanzerkennt der Provinzbewohner,dass er–wollte er nu r–aus derKleinstädter-Falle entschlüpfen könnte. CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ

Wir si nd bekannt dafür,


in Zürich in die


Provinzlerfalle zu


tappen, sprich:


an Fussgängerampeln


aufden gelben Kasten


zu drücken, der nur ein


Summer fürBlinde ist.


In Kleinstädten herrscht


eine klare Ordnung,


die man nicht brechen


sollte. Entsprechend


schwer tunsich


die Bewohner


mit Veränderung.

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