Neue Zürcher Zeitung - 13.09.2019

(Romina) #1

Freitag, 13. September 2019 INTERNATIONAL


QUELLE: NATIONAL CENTER FOR HEALTH STATISTICS NZZ Visuals/efl.

DieZahl derDrogentoten durchOpioide in denUSA ist explo diert


Heroin Opioid-Schmerzmittel Synthetische Opioide (z. B. Fentanyl)

Tote durch Überdosis nachTy p, pro 100 000 Einwohner

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2000 2005 2010 2015

Amerika entkommt der Opioid -Flut nicht

Ein Hersteller einigt sich mit Kläger n auf einen Vergleich – doch ein Ende de r Epidemie mit Hunderttause nden von Toten ist nicht absehbar


SAMUEL MISTELI


Die Zahlenerzählen eineamerikani-
scheTragödie.Alle 11 Minuten stirbt in
den USA jemand an einer Opioid-Über-
dosi s. 2017 forderte die Epidemie 47 600
Opfer. In den letzten 20Jahren sind über
200000 Amerikanerinnen und Ameri-
kaner an Opioid-Überdosen gestor-
ben.Laut offiziellen Angaben richtet
die Krise jährlich einen volkswirtschaft-
lichen Schaden von 500 Milliarden Dol-
lar an. Ein Ende ist nicht in Sicht: Die
Zahl der Überdosistoten ist in den letz-
tenJahren wegen der zunehmenden
Verbreitung des besonders gefährlichen
OpioidsFentanyl weiter gestiegen.
Wie hat die Opioid-Krise, die bereits
mehrTote gefordert hat als die Kriege in
Vietnam und im Irak zusammen, ihren
Anfang genommen?WelcheVerantwor-
tung tragen die Pharmakonzerne? Und
welches sind dierechtlichenFolgen?



  1. Der Anfangder Krise


Die Krise begann mit der rasanten
Zunahme bei derVerschreibung von
Opioid-basierten Schmerzmitteln in
den1990erJahren. Medizinische Studien
behaupteten, dass rund 100Millionen
Amerikanerinnen und Amerikaner, also
ein Drittel der Bevölkerung,anchroni-
schen Schmerzen litten. Medikamenten-
hersteller begannen mit der aggressiven
Vermarktung der Schmerzmittel.Bis da-
hin waren Ärzte zurückhaltend gewesen
bei derVerschreibung von Opioiden –
unter anderem wegen des Stigmas, das
an dem ursprünglich als Medikament
entwickelten Opioid Heroin haftete.
Als Pionierin gilt dieFirma Purdue
Pharma, die1996 das Schmerzmittel
Oxycontin auf den Markt brachte. Ob-
wohl das Unternehmen früh Hinweise
ha tte, dassdas Medikament ein hohes
Abhängigkeitspotenzial aufwies, ver-
marktete es Oxycontin als harmlose All-
zweckwaffe gegen alle möglichen Arten
von Schmerzen, zum BeispielRücken-
beschwerden.Die Aktion war eine
der aufwendigsten Marketingkampa-
gnen in der Geschichte der amerikani-
schenPharmaindustrie.Andere Herstel-
ler bedienten sich bald ebenso forscher
Methoden wie Purdue, um den Absatz
ihrer eigenen Opioide zu steigern.
Die Opioid-Flut wurde begünstigt
durch die Beschaffenheit des amerika-
nischen Gesundheitssystems. Private
Krankenversicherer sind oft nicht be-
reit, längerfristigeTherapien zu finan-
zieren. Sie fördern stattdessen kurzfris-
tige Massnahmen wie dieVerschrei-
bung von Pillen, gerade bei ärmeren
Versicherten.Auch die laxeRegulie-
rung des Medikamentenmarktes för-
derte die Opioid-Schwemme.
Zwischen 1991 und 2011 verdrei-
fachten sich dieVerschreibungen von
Schmerzmitteln in den USA von 76 Mil-
lionenauf 219 Millionen proJahr. 2016
händigtenÄrzte über 289 Millionen
Verschreibungen für Opioid-basierte
Schmerzmittel aus. Das macht die USA
zu demLand, in dem mit Abstand am
meisten Opioidekonsumiert werden
(ein Drittel des globalen Marktes).Mit
fatalenFolgen.



  1. Das Ausmass


70 200Amerikanerinnen und Amerika-
ner starben 2017 an Überdosen. In 68
Prozent derTodesfälle waren Opioide
im Spiel. Im Durchschnitt starben somit
täglich 130 Amerikanerinnen und Ame-
rikaner an Opioid-Überdosen. Zwischen
1999 und 2017 hat sich die Zahl der
Todesfälle versechsfacht. Opioid-Über-
dosen sind noch vorVerkehrsunfällen
die häufigste Ursache für nicht natür-
licheTodesfälle. Die Opioid-Epidemie
gilt auch als Hauptgrund dafür, dass die
Lebenserwartung in den USA ab 20 15
erstmals seit den1960erJahren zu sin-
ken begann.
Stark betroffen von der Opioid-
Krise sind weisse, ländliche Bevölke-
rungsschichten mit eher tiefem Bil-
dungsniveau.West Virginiaund Ohio
sind die beiden am stärksten betroffe-


nenTeilstaaten.Auch unter den ame-
rikanischen Ureinwohnern ist die Zahl
der Todesfälle durch Opioid-Überdosen
stark gestiegen – sie hat sich zwischen
1999 und 2015 verfünffacht. Die afro-
amerikanische Bevölkerungist weni-
ger stark betroffen. Experten glauben,
dass das auch mitRassismus zu tun hat:
Viele Ärzte haben weniger Skrupel,
weissenPatienten potenziell abhängig
machende Medikamente zu verschrei-
ben als schwarzenPatienten. Diese ste-
henrascher imVerdacht, die Medika-
mente zu missbrauchen.
Die Schmerzmittel, die ab den1990er
Jahren millionenfach verschrieben wur-
den, sind nicht allein verantwortlich für
die dramatische Zunahme der Über-
dosen. Man spricht von dreiWellen
der Opioid-Epidemie: Als ersteWelle
wird die Schmerzmittel-Schwemme be-
zeichnet, die in den1990erJahren be-
gann. Eine zweiteWelle brachte ab
2010 einenrasanten Anstieg derTodes-
fälle durch Heroin-Überdosen. Meh-
rereFaktoren hatten diese zweiteWelle
ausgelöst: Opioid-basierte Schmerz-
mittel waren weniger leicht zu erhalten,
weil die Behörden begonnen hatten, die
fahrlässigeVerschreibungspraxis zu er-
schweren. Viele Abhängige,die keine
Rezepte mehr erhielten, stiegen um auf
das illegale – und günstigere – Opioid
Heroin. Heroin war an vielen Orten
leicht erhältlich, weil die kriminellen
Organisationen die Nachfrage früh er-
kannten und gezielt bedienten. Die Pro-
duktion von Heroin in Mexikoverviel-
fachte sich nach derJahrtausendwende.
Zwischen 2005 und 2018 stieg sie um
mehr als das Zehnfache.
Der Heroin-Boom wurde aber von
der dritten Opioid-Welle noch über-
holt. Seit 2013 ist die Zahl der Über-
dosis-Todesfälle durch illegale syntheti-
sche Opioide explodiert.Das hängt vor
allem mit derVerbreitung vonFentanyl
zusammen, einem Opioid, das bis zu 50-
mal stärker wirkt als Heroin. Die Pro-
duktion vonFentanyl ist günstiger als
jene von Heroin, da es imLabor her-
gestellt werden kann (für die Produktion
von Heroin wirdSchlafmohn als natür-
licherRohstoffbenötigt).Wegen seiner

Potenz kannFentanyl zudem viel stär-
ker gestreckt werden als Heroin – das
macht das Opioid für kriminelle Orga-
nisationen lukrativer.Viele Opioid-Ab-
hängigekönnen das brandgefährliche
Fentanyl schlecht dosieren – tödliche
Überdosen sind dieFolge.
Ein Ende der Opioid-Epidemie ist
nicht absehbar. Die jährlichenVer-
schreibungen von Opioid-Medikamen-
ten sind im letztenJahrzehnt zurück-
gegangen, doch 2017 wurden pro 100
Amerikaner immer noch 58 Opioid-
Rezepte ausgegeben. 2017 schätzten
Gesundheitsexperten, dass im nächsten
Jahrzehnt über 500000 Personen der
Epidemie zum Opfer fallen.


  1. DieVerantwortlichen


Die Pharmafirmen, die Opioid-Schmerz-
mittel produzieren und damit Milliar-
den verdienen (Purdue Pharma allein
machte mit Oxycontin zwischen Mitte
der1990erJahre und2016 31 Milliar-
den Dollar Umsatz) bestreiten vehe-
ment, die Krise mitverursacht zu haben.
Ihr Argument lautet: Nicht die Medika-
mente seien das Problem, sondern die
Menschen, die Opioide missbrauchten.
Doch die Beweislage ist eindeutig.Am
bestendokumentiertistabermalsdasBei-

spiel Purdue. Unter anderem belegen in-
terne Dokumente, an die dieRecherche-
plattform Pro Publica gelangte, dass die
Firmenspitze bereits1997 um die Gefähr-
lichkeit von Oxycontin wusste.Dennoch
ging die Marketing-Offensive – die die
Vorzüge des Medikaments übertrieb und
das Suchtpotenzialverharmloste– unge-
bremst weiter. Purdue bezahlteTausende
von Medizinern,die beiÄrzten,Kliniken
und Pflegepersonal für Oxycontin war-
ben. DieFirma verfügte auch über ein
internesKontrollsystem, das Ärzte und
Apotheker identifizierte, die ungewöhn-
lich grosse Mengen Oxycontin verschrie-
ben. Diese wurden von PurduesVertre-
tern gezielt angegangen.
Purdue und dieanderen Opioid-Pro-
duzentenkonnten auf willige Helfer zäh-
len. KorrupteÄrzte undApotheker stell-
ten Rezepte ab Fliessband aus, in dubio-
sen Schmerzkliniken gingen Millionen
vonTabletten ohneKontrolle über den
Verkaufstisch. Diese sogenannten «pill
mills» (Pillenfabriken) lagen oft in der
Nähe vonAutobahnen, damit sie für
Dealer undKonsumenten, die von weit
her anreisten,bequemerreichbar waren.
Auch dieAufsichtsbehörden drück-
ten oft mindestens einAuge zu, was
unter anderem mit persönlichenVer-
flechtungen zu tun hatte. So nahm etwa

der Prüfer derFood and DrugAdmi-
nistration (FDA), der die Zulassung
von Oxycontin verantwortet hatte, zwei
Jahre nach der Einführung des Medika-
ments einenJob bei Purdue Pharma an.
Nach derJahrtausendwende wurden
die ersten Klagen gegen Purdue einge-
reicht. 2007 willigte dieFirma inVirginia
in eine Straf- und Schadenersatzzahlung
von rund 600 Millionen Dollar wegen
betrügerischen Marketings ein. In den
Jahren darauf verdiente dieFirma mit
Oxycontin weiterhin Hunderte von Mil-
lionen Dollar.
In den letztenJahren haben sich die
Klagen gegen Hersteller undVertrei-
ber der Opioid-Schmerzmittel gehäuft.
EndeAugust 2019 verurteilte ein erst-
instanzliches Gericht im Gliedstaat
Oklahoma den PharmakonzernJohn-
son &Johnsonzu einer Entschädigungs-
zahlung von 572 Millionen Dollar, weil
die Firma die Opioid-Epidemie mitver-
ursachthabe.Vermutlich im Oktober
müssen sich rund zweiDutzend Unter-
nehmen vor einem Gericht in Cleveland
einer Klage von rund 2000 Städten, Be-
zirken und Indianerstämmen stellen.
Das Vorbild für die Klage ist einVer-
gleich, den dieTabakindustrie1998 mit
mehrerenDutzendTeilstaaten schloss:
Die Industrie willigte damals in Ent-
schädigungszahlungen im Umfang von
246 Milliarden Dollar ein.
Purdue Pharma ist bemüht, es nicht
bis zum Prozess in Clevelandkommen
zu lassen. DieFirma verhandelt mit den
Klägern über einenVergleich.Am Mitt-
woch wurde bekannt, dass Purdue eine
Einigung mit der Mehrheit der Kläger
erzielt habe. DerVergleichsvorschlag
sieht Zahlungen von bis zu 12 Milliar-
den Dollar vor. DerKonzern würde in
einenTrust zum Nutzen der Öffentlich-
keit («public beneficiary trust») umge-
wandelt, was erlauben würde, die Ge-
winne für die Entschädigung der Op-
fer zu verwenden. Ein grosserTeil der
Gliedstaaten, unter i hnen NewYork und
Massachusetts, lehnen denVergleichs-
vorschlag jedochab.AmEnde muss ein
Konkursrichter denVergleich genehmi-
gen.Oberdas unter diesen Umständen
tun wird,ist f raglich.

Jedes Jahr sterben in den USA mehr Menschen an Opioid-Überdosen als anAutounfällen. NICHOLAS ZIEMINS/REUTERS
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