Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1

Sieht super aus,


ist aber geklaut


Das Milliarden­


geschäft mit


gefälschten


Markenprodukten
Wirtschaft, Seite 17

Kleine Fotos (v. o.): privat; Westend61/ullstein


  1. AuguSt 2019 No 35


»Ihr müsst über


uns berichten!«


Jemen: Versuch, in


ein Land zu


gelangen, das viel zu


verbergen hat
Dossier, Seite 11

Am Ende


glücklich


Wie kann ein Leben


gelingen? Besuche


bei Hundertjährigen


auf der ganzen Welt
Titelfoto [M]: Peter Timm/ullstein (Grenzübergang Checkpoint Charlie, eine West-Berlinerin begrüßt eine DDR-Bürgerin, Berlin, 10.11.1989) ZEItmagazin, Seite 16

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DIE ZEIT


Niedergang


In vielen Bundesländern wurden
oder werden jetzt die Erstklässler
eingeschult, und weil der erste
Schultag für Eltern wie Kinder ein
Ereignis ist, freuen sich alle über
das Klassenfoto. Alle? Nein, man­
che Eltern fürchten, die Bilder im
Netz zu sehen. Also haben viele
Schulen das Fotografieren strikt
verboten. Das Klassenfoto, seit
ewig ein Monument deutscher
Kultur, ist am Verschwinden. So
beginnt der Niedergang. GRN.

PROMINENT IGNORIERT

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W


as für Bilder: 1,7 Millionen
Menschen mit Regenschir­
men. Junge und Alte. Ein
Kleinkind, das von einer
Fußgängerbrücke die Menge
anfeuert. Die großdemons­
tration am Sonntag war ein Erfolg für die Regie­
rungsgegner in Hongkong. Das erste Wochen­
ende seit mehr als zwei Monaten ohne gewalt,
ohne tränengas. Nach den hässlichen Ausfällen
am Flughafen Anfang vergangener Woche sandte
die Protestbewegung eine wichtige Botschaft an
die Welt: Wir bleiben friedlich, wir sind vereint,
und wir sind viele. 1,7 Millionen, das ist ein Vier­
tel der Hongkonger Bevölkerung.
Die chinesische Führung treibt dies in ein
Dilemma. Denn alle Einschüchterungsversuche
haben nichts geholfen: Der Elan der Demons­
tranten ist ungebrochen. Die Drohung mit einem
Einsatz des Militärs macht sie nur trotziger. Soll
die Volksbefreiungsarmee doch kommen, sagen
viele Hongkonger: Dann gehen wir eben nach
Hause. und wenn die Soldaten abziehen, strö­
men wir wieder auf die Straße. Die hügelige
topografie der Stadt erschwert einen Einmarsch
mit Panzern; die flexible taktik der Demons­
tranten – schnell auf­ und ebenso schnell wieder
abtauchen – bedeutet, dass Pekings gegner über­
all sind und nirgends. Darum ist es alles andere
als ausgemacht, dass sich die Proteste mit militä­
rischer gewalt niederschlagen ließen. Hongkong
2019 ist nicht tiananmen 1989.

Viele Tote wären zu befürchten,
Hongkongs Wirtschaft käme zum Erliegen

Wahrscheinlicher ist ein Einsatz der chinesischen
Militärpolizei. Die trainiert seit 1989, Massen­
aufstände mit minimaler gewaltanwendung ein­
zudämmen. In einem Sportstadion in Shenzhen,
Hongkongs Nachbarstadt auf dem Festland,
laufen sich Hundertschaften warm. Die chinesi­
sche Führung ist bereit, bei der nächsten Eskala­
tion den Marschbefehl über die grenze zu ertei­
len. Daran lässt Peking keinen Zweifel.
Dennoch wäre auch ein Einsatz des Parami­
litärs wenig geeignet, die Proteste zu befrieden.
Chinas Machthaber müssten sich darauf einstel­
len, dass sich Hongkongs Bürger mit aller Kraft
wehren. Viele tote wären zu befürchten, eine
humanitäre Katastrophe. Hongkongs Wirtschaft
käme zum Erliegen. Das Scharnier zwischen

dem noch immer verschlossenen Festland und
den globalen Märkten wäre gebrochen. Chinas
schwächelnde Konjunktur würde mitten im
Handelskrieg mit den uSA in die tiefe gezogen.
Hierin liegt die wahre gefahr für die politi­
sche Stabilität, die Pekings Herrscher unentwegt
beschwören – nicht in einem Überspringen des
Demokratiefunkens von Hongkong auf das
Festland. Dort reagieren die meisten Chinesen
mit erstaunlicher innerer Abwehr auf die aufsäs­
sigen Hongkonger. Nur ein teil dessen lässt sich
der Propaganda zuschreiben. Die Erinnerung an
die britische Kolonialherrschaft ist lebendig;
Hongkonger klammerten sich an Privilegien, die
ihnen einst von einer korrumpierten Fremd­
macht gewährt wurden, so das häufige Lamento.
Das moralische Versagen des Westens bei seinen
Auslandseinsätzen hat außerdem dazu geführt,
dass immer mehr Chinesen in jedem Einfordern
von Freiheiten leere Worte wittern – und einen
versteckten Angriff des Auslands auf den eige­
nen wirtschaftlichen Aufstieg.
Eine allzu vehemente unterstützung durch
den Westen würde es Peking erleichtern, die
Demonstranten zu Agenten des Auslands zu
stempeln. Solche Hilfe wäre womöglich sogar
kontraproduktiv. Vereinter diplomatischer Druck
auf Peking, eine friedliche Lösung zu suchen,
wäre es nicht. In Hongkong verläuft eine Front­
linie im globalen Kampf um Demokratie. Druck
lassen westliche Regierungen allerdings vermissen.
Auch in Berlin herrscht weitgehend Schweigen.
In Wahrheit sind die Hongkonger auf sich
gestellt. Eine Ironie dieser tage ist, dass verein­
zelter Beistand für die Demonstranten ausge­
rechnet aus der Wirtschaft kam. Die Firmen sind
für ihr China­geschäft auf Hongkongs Rechts­
sicherheit angewiesen. Peking zwingt sie nun mit
aller Macht zurück auf Linie. Weltkonzerne
werden in politische Komplizenschaft gedrängt.
Wer in China geld verdienen will, ist erpressbar.
Hongkongs Demonstranten dagegen sind es
offenbar nicht: Viele sind bereit, einen hohen
Preis zu zahlen. Mit gewehren wird die chinesi­
sche Führung diese Bürger nicht zum Verstum­
men bringen. Mit Massenverhaftungen, wie sie
die Polizei bereits vornimmt, übrigens auch
nicht: tausende ins gefängnis zu stecken, so ein
Kommentator, käme dem Versuch gleich, »Lava
zurück in den Vulkan zu quetschen«.

In der Falle


Peking bereitet eine Niederschlagung der Proteste vor. Aber gewehre


werden Hongkongs Bürger nicht verstummen lassen VON XIFAN YANG


http://www.zeit.de/audio

AUFSTAND GEGEN CHINA

Millionen Deutsche sind von Ost nach West gezogen und umgekehrt. Das führt


die Menschen zusammen – und trennt sie doch. teil 1 der neuen ZEIt­Serie WISSEN


Warum wir uns nicht


mehr verstehen



  1. JAHRgANg C 7451 C


N


o


35


W


ie mit Rechten reden? Nicht
nur Annegret Kramp­Kar­
renbauer glaubt, man brau­
che in dieser Frage vor allem
eine moralisch starke Hal­
tung – aber keine Strategie.
Diese Haltung, für die alle rechten Katzen grau
sind, lautet, kurz gesagt: Nazis raus (wohin
eigentlich?). Sie sollen weg, einfach nicht mehr
da sein. Mit Rechten diskutiert man nicht, das
wertet sie nur auf. Man trinkt ganz sicher kein
Bier mit ihnen. Die CDu­Spitze meidet den
Osten schon seit Jahren weitgehend – strategisch
gesehen der helle Wahnsinn. Höchste Zeit, sich
aus diesem Rechthabistan herauszuschälen.
Denn was passiert, wenn man auf solche Wei­
se »Haltung gezeigt« hat, ist bekannt. Die Neue
Rechte – die so heißt, weil ihr Markenkern gera­
de die Abwesenheit von Springerstiefeln ist –
steckt sich eine weiße Rose ans Revers und mar­
schiert schweigend als Märtyrer durch die Stadt.

Antifaschismus allein ist in
dieser Lage kein guter Ratgeber

Keine Frage: Aus den Kreisen dieser Rechten
kommen immer wieder Bemerkungen, die men­
schenverachtend und revisionistisch sind – was
der AfD­Bundesvorstand selbst bestätigt hat.
Aber nach zwei Jahren AfD im Bundestag und
angesichts bevorstehender Wahlsiege in drei ost­
deutschen Bundesländern dämmert vielen, dass
Antifaschismus allein in dieser Lage kein guter
Ratgeber ist. Denn wären die Neuen Rechten
alle Nazis, Holocaustleugner und Brandstifter,
dann gäbe es gar kein politisches Problem. Dann
würde man einfach den Verfassungsschutz ein­
schalten oder die Polizei holen. Aber wenn einer
der prominentesten Neuen Rechten selbst an der
Spitze des Verfassungsschutzes stand und oben­
drein Mitglied der CDu ist, wird man sich auf
etwas anderes verlegen müssen.
gerade in ihren Provokationen wird nämlich
deutlich, wie sehr die Neue Rechte auf den
politischen Fundus der Nicht­Rechten angewie­
sen ist: Sie versuchen, das Hambacher Fest für
sich zu kapern, die Weiße Rose, den Feminismus
(solange es gegen Muslime geht) und neuerdings
die Friedliche Revolution von 1989. Dieses
Angewiesensein der Neuen Rechten auf die
Erfolge der anderen Seite muss doch zu denken
geben! gespräche darüber, was die Friedliche

Re vo lu tion eigentlich war, wem der Feminismus
»gehört«, sind doch – selbst wenn sie gar nichts
»bringen« – einfach höllisch interessant! Nichts
ist entwaffnender als echtes Interesse. Wer sol­
chermaßen ins gespräch verwickelt wurde, kann
keinen Märtyrerstatus mehr geltend machen.
und was hätte die CDu­Spitze zum Beispiel
dabei zu verlieren, wenn sie mit Hans­georg Maa­
ßen über sein Deutschlandbild diskutierte? Wenn
Wolfgang Schäuble fragen würde, warum der
Mann bis vor einem Jahr offenbar sehr gern einem
Staat gedient hat, den er nun mit der DDR ver­
gleicht? Was hält die »Werte­union« von obersten
Staatsdienern, die über Monate durch die Haupt­
stadt tingeln und ihre eigene Regierung anschwär­
zen, wie es Maaßen als amtierender Verfassungs­
schutzpräsident getan hat? Wie lange hätte wohl
Helmut Kohl oder gar der umschwärmte Alfred
Dregger sich derlei Illoyalität gefallen lassen, bevor
er einen solchen Beamten achtkantig vom Dienst
suspendiert hätte?
Auf den Vorwurf eines AfD­Mannes, sie habe
das Land in die Diktatur geführt, sagte die Kanz­
lerin neulich, was zu sagen war: dass er keine
Repressalien zu befürchten habe, seine Frage
beantwortet werde und auch im Bundestag von
unterwerfung der AfD­Opposition keine Rede
sein könne. Juristisch stimmt das. Niemand wan­
dert nach Bautzen, weil er Merkel kritisiert hat.
Wenn aber trotzdem annähernd zwei Drittel der
Deutschen laut einer Allensbach­umfrage der
Meinung sind, man müsse »heute sehr aufpassen,
zu welchen themen man sich wie äußert«, führt
das eben zurück auf den ritualisierten Nazi­Vor­
wurf. Es rächt sich, dass zu lange von »Alternativ­
losigkeit« in mindestens drei großen gesellschaft­
lichen Fragen (Euro, Flüchtlinge, Ökologie) die
Rede war und jetzt viele das gefühl haben, es
gäbe nur noch 50 Shades of green und alles
andere läge jenseits der Demarkationslinie.
Die Neuen Rechten sind gekommen, um zu
bleiben. Magisches Denken wird sie nicht
beseitigen. Demokratie ist keine glaubensrich­
tung. Sie lebt von Praxis, und es stinkt und
knirscht und schmerzt gelegentlich. Aber die
CDu ist eine Volkspartei mit jahrzehntelanger
Regierungserfahrung in den Knochen. Sie hat es
nicht nötig, sich zu verstecken und mit Verbo­
ten zu fuchteln. Runter vom Balkon, rein ins
politische Handgemenge!

Runter vom Balkon


Die CDu meidet die Auseinandersetzung mit der Rechten. Sie sollte


sich stellen – mit Argumenten statt nur mit Haltung VON MARIAM LAU


VOR DEN WAHLEN IM OSTEN

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30 JAHRE NACH DEM MAUERFALL


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