Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1

RECHT & UNRECHT


Illustration: Lea Dohle

VERBRECHEN
DER KRIMINALPODCAST

EIN PODCAST ÜBER VERBRECHEN –
UND WAS SIE ÜBER DIE
MENSCHHEIT ERZÄHLEN
JETZT ANHÖREN:
http://www.zeit.de/verbrechen

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  1. August 2019 DIE ZEIT No (^3510)
    Meine urteile (IV): Entscheidet ein Richter eigentlich
    härter über einen Handydieb,
    wenn ihm selbst vor Kurzem ein Mobiltelefon
    im Bermudadreieck der Deutschen Post abhandenkam?


D


as größte Risiko für
ein in A aufgegebenes
Päckchen, nicht in B
anzukommen, lauer-
te früher, im Zeitalter
der Postkutschen, in
einem dunklen deut-
schen Eichenwald.
Heute, in Zeiten In-
ternet-getriebener Lieferflotten, ist die ge fah ren-
lage komplizierter.
Wir hatten unserer Mutter zu Weihnachten ein
smart phone geschenkt, ihr erstes. Weil ich es wäh-
rend der Festtage nicht schaffte, es für sie einzu-
richten, packten wir es wieder ein. Zu Hause über-
trug ich Mutterns handschriftliche Kontaktliste in
das telefonverzeichnis und richtete zur Pflege der
Enkelbindung Whats App ein. Dann brachte ich
das Handy, verpackt in einen genoppten um-
schlag, zu einer Postfiliale und gab es für 3,70 Euro
als Einschreiben auf. Für jemanden, der eigentlich
nie ein smart phone haben wollte, erkundigte sich
Muttern in den folgenden tagen recht oft nach
dem Verbleib ihres telefons. Auf einer Internet-
seite der Post gab ich die trackingnummer der
sendung ein und stellte fest, dass sie über die ört-
liche Filiale noch nicht hinausgekommen war. Als
ich mich dort anderntags erkundigte, löste ich
keine suche aus, sondern bekam die griffbereiten
Kontaktdaten der DHL-Vermisstenzentrale in die
Hand gedrückt. Nach zwei Wochen, das Handy
hatte sich auf der trackingseite noch immer nicht
von der stelle bewegt, kaufte ich dasselbe Modell
erneut. Mutter stand kurz vor einer Kur und musste
erreichbar sein. Dann erstattete ich strafanzeige
wegen Diebstahls und Verletzung des Post-
geheimnisses.
szenenwechsel, ein ähnlicher Fall: Die Verle-
sung der Anklageschrift durch den staatsanwalt
dauerte länger als das nachfolgende geständnis des
Angeklagten – in allen ihm vorgeworfenen 26 Fäl-
len des gewerbsmäßigen Diebstahls und Betruges
bekannte sich sören Meyer (Name geändert)
schuldig. Die Beweislage ließ ihm keine vernünfti-
ge Alternative: Wohnungsdurchsuchung, Konto-
auszüge und eBay-Auskünfte überführten Meyer
lückenlos als kriminellen Profiteur des Internet-
handels. Der gelernte Einzelhandelskaufmann
hatte als Paketzusteller unter dem Dach der DHL-
Paketbasis Lindenberg im Norden von Berlin ein
blühendes geschäft mit dem Diebstahl und Ver-
kauf von Mobiltelefonen aufgezogen. Aus Roll-
containern, in denen die auszuliefernden touren
bereitgestellt werden, hatte er ausschließlich Päck-
chen entnommen, deren Verpackung zuverlässig
auf Apple- oder samsung-Inhalt schließen ließ.
Da die sendungen von den Zustellern selbst beim
Beladen der Autos gescannt werden, fiel es Meyer
leicht, immer wieder Kartons am scanner vorbei-
zuschleusen. Deren codierte Existenz endete damit
für immer in der DHL-Basis Lindenberg.
Doch wir lebten nicht im Hier und Jetzt, gäbe
es im Datenhimmel kein Folgeleben. Jedes Mobil-
telefon hat eine IMEI-Nummer, die seine Wege
nachvollziehbar macht. Das wurde Meyer zum
Verhängnis. Im Polizeicomputer wurde nach einer
gerätenummer gleich doppelt gefahndet. Ein von
Meyer aus dem regulären Verkehr gezogenes und
unter dem Namen »cubanito84« auf eBay verstei-
gertes Handy wurde wenig später dem Erwerber
gestohlen. Er zeigte den Diebstahl unter Angabe
der IMEI-Nummer an. Nun musste nur noch zu-
rückverfolgt werden, wem der eBay-Account des
Verkäufers gehörte. Am Ende der Ermittlungen
stand der gesamte schaden fest, den »cubanito«
Meyer verursacht hatte: 13.788,34 Euro. Der
größte Anteil entfiel auf die Deutsche Post Ag, die
als Eigenversicherer an jeden Kunden bis zu 500
Euro zahlen musste. Lag der Kaufpreis für ein
Handy höher, blieb der Restschaden beim privaten
Opfer. Noch am tag der alles erhellenden Woh-
nungsdurchsuchung hatte das gericht Meyers
Bankkonto eingefroren. Nun bestätigte es im ur-
teil den dinglichen Arrest über 12.500 Euro, aus
dem fortan der schaden beglichen werden konnte.
Doch das war nur eine Nebenentscheidung. Ver-
urteilt wurde Meyer zu zwei Jahren Freiheitsstrafe,
verbunden mit der Freiheit, sich in drei Bewäh-
rungsjahren den straferlass zu verdienen.
Man darf getrost annehmen, dass Meyer neben
den 26 vom gericht festgestellten taten zahlreiche
weitere Diebstähle begangen hat, die ihm nicht zu-
zuordnen waren. Als Verursacher für das ver-
schwundene Handy meiner Mutter kommt er
gleichwohl nicht in Betracht. Die interessante
Frage ist aber: Was war zuerst – mein urteil gegen
Meyer oder der Diebstahl meines Weihnachts-
geschenkes?

V


on Belang ist das deshalb, weil man
natürlich fragen muss, ob die strafe je
nach zeitlicher Reihenfolge anders
ausgefallen wäre. Hätte sich die per-
sönliche Betroffenheit – und sei es
unbewusst – auf die strafzumessung ausgewirkt?
Richter sind auch nur Menschen. Reflexe wie Wut,
Zorn, Rachedurst sind ihnen nicht fremd. und
Richter werden auch Opfer von straftaten. In den
Neunzigern stand innerhalb eines Jahres zweimal
mein VW golf morgens nicht dort, wo ich ihn
abends abgestellt hatte. Es dauerte ein bisschen, bis
die Erkenntnis dämmerte, dass das Auto gestohlen
war. Der Keller unserer Wohnung ist in den letzten
Jahren mehrfach aufgebrochen worden, fast jedes
Mitglied der Familie hat mindestens ein Fahrrad
durch Diebstahl verloren, und zuletzt fanden wir
den im Hausflur abgestellten Kinderwagen voller
urin. Nein, auch bei Richtern ist der Rechtsstaat
nicht im limbischen system zu Hause, wo die Evo-
lu tion Emotionen und triebe angesiedelt hat.

einem schweren unfall, den er als Rettungssanitä-
ter erlitten hatte, arbeitslos geworden und finan-
ziell ins schleudern geraten. Die Paketzustellung
versprach erstmals wieder ein geregeltes Einkom-
men – aber nicht vor Mo nats ende. seit drei Jahren
war Rath in Privatinsolvenz. Er ist Vater von sie-
ben Kindern, fünf bis 17 Jahre alt. Die große
tochter unterstützt er finanziell in der Berufsaus-
bildung. Der kleine sohn ist wegen einer chro-
nischen Krankheit nicht Kita-tauglich, weswegen
Raths Frau zum Familieneinkommen nichts bei-
steuern kann. Manchmal wünscht man sich als
Richter, das Leben sei weniger streng zu den Pro-
banden. Mit der richterlichen strenge könnten sie
besser leben. Dem Amtsrichter erscheint das straf-
gesetzbuch nicht selten wie für eine Bullerbü-
gesellschaft gemacht, in der gelegentlich ein
Landstreicher die Idylle bricht, ansonsten aber
Recht und unrecht auf geordneten Verhältnissen
gründen. Die staatsanwaltschaft, über meine Ex-
ploration der Rathschen Lebenssituation in
Kenntnis gesetzt, nahm den Antrag auf Bewäh-
rungswiderruf zurück.

A


uch privat erhielt ich Post von der Er-
mittlungsbehörde: Das wegen des
mutmaßlich geklauten mütterlichen
Handys eingeleitete Verfahren sei
eingestellt worden, ein täter nicht
festzustellen gewesen. Ich beauftragte eine Rechts-
anwältin, die Ermittlungsakte einzusehen. Nach
der Lektüre von 50 seiten konnte ich die Einstel-
lung nachvollziehen. Zwei Zeugen waren vernom-
men worden, eine schalterbedienstete und der
Fahrer, der an jenem tag die Post in der Filiale
abgeholt und ins Zustellzentrum gebracht hatte.
Ein tatverdacht war danach nicht zu begründen.
gleichwohl barg die Akte Überraschungen. Der
speditionsfahrer schilderte das Rangieren der Roll-
wagen beim Be- und Entladen seines transporters,
15 bis 20 Kisten, normale Briefe gemischt mit Ein-
schreiben: »Der Briefbehälterwagen steht dann
kurz in der Nähe meines Fahrzeuges. Leider kann
jeder, der an den Behältern vorbeigeht, sich aus
diesen was rausnehmen, da sie nicht verschlossen
sind.« Möglicherweise bin ich ja altmodisch – den
umgang der Post mit manchmal ja durchaus
sensiblen Einschreiben hatte ich mir irgendwie
anders vorgestellt. Bei DHL/Deutsche Post grif-
fen verschiedene sicherheitsmechanismen in ein-
an der, schreibt die Pressestelle: Einsatz professio-
neller sicher heits exper ten, Aware ness- Maß nah men,
sicherheits-Audits der Betriebsstätten, Einsatz
moder ner sicherheitstechniken. Ja, es gebe eine
Videoaufzeichnung in der Filiale, gab die schalter-
bedienstete in ihrer Zeugenvernehmung an, aller-
dings werde diese nach 24 stunden überspielt.
Dass die sicherheitsexperten der Post sich irgend-
wie dafür interessiert hätten, was die Ermittlungen
der Kripo in sachen mütterliches Handy ergaben


  • oder gar selber zu diesen Ermittlungen beigetra-
    gen haben –, ist der Akte nicht zu entnehmen.
    sören Meyer sagte in der Hauptverhandlung
    aus, er habe es sich von Kollegen abgeguckt, wie
    diese sich aus den Rollcontainern bedienten. Nein,
    eine Videoüberwachung gebe es für das Beladen
    der tourenwagen in der Zustellbasis Lindenberg
    nicht, bekundete vor gericht die zuständige si-
    cherheitsexpertin der Post. Wir bitten um Ver-
    ständnis, dass wir uns im Detail zu unseren sicher-
    heitsmaßnahmen nicht äußern, schreibt der
    DHL-Pressesprecher. Ebenso wenig wie zur sta tis-
    tik der verlorenen sendungen. Die Verlustquote
    sei niedriger als ein Prozent, schreibt der Wett-
    bewerber DPD. Für dieses Logistikunternehmen
    sind aktuell 11.000 Zusteller im Einsatz, in den
    letzten Jahren wurden jeweils 250 zusätzlich ein-
    gestellt. Die Deutsche Post hatte Ende 2018 in
    Deutschland 50.500 Fahrzeuge in der Brief- und
    Paketzustellung im Einsatz, 1200 mehr als im Vor-
    jahr. Das Paketvolumen wuchs in Deutschland zu-
    letzt jährlich um gut fünf Prozent; das entspricht
    fast einer Mil liar de im gesamten Bundesgebiet zu
    verteilenden Paketen.
    Vor ein paar Wochen schickte ich großmutter
    einen ganz gewöhnlichen Brief. sie lebt seit 1959
    in einem kleinen Ostseedorf. Das Haus war stets
    dasselbe, nur die Nummerierung der straße wur-
    de vor Jahren geändert. Ich kann mir die neue
    Nummer einfach nicht merken und lag so auch
    diesmal mit meiner Adresse um zwei Ziffern da-
    neben, 9 statt 11. Der Brief kam zurück, mit dem
    stempelaufdruck »Empfänger konnte nicht er-
    mittelt werden«.
    Ich glaube, dass diese Retoure und die von mir
    verhandelten Diebstähle mit ein an der zu tun ha-
    ben. sie sind symptome einer Entfremdung. Vor
    einem Jahr wurde unser altehrwürdiges Postamt in
    der Berliner torstraße geschlossen. Bis zuletzt ar-
    beiteten an dessen schaltern ergraute Postbeamte,
    deren Aura keinen Zweifel daran ließ, dass sie sich
    unverändert in einem treueverhältnis zur Bundes-
    republik Deutschland und zu deren Bevölkerung
    wähnten, obwohl schon seit 1995 im Nachfolge-
    unternehmen der Deutschen Bundespost keine
    Beamten mehr eingestellt werden. sie kannten,
    ohne nachzuschauen, den tarif eines Luftpost-
    Einschreibens nach Aserbaidschan, und wenn man
    ihnen das Kuvert anvertraute, schien es garantiert
    zu sein, dass die Post dort auch ankam.
    Für das scheunenviertel war die schließung der
    Filiale ein Ärgernis. Aus beruflicher sicht halte ich
    sie für konsequent. Dem Anschein, den die uni-
    formierten Beamten in ihrer ehrwürdigen schalter-
    halle vermittelten, wird das Ende der Logistikkette
    nicht mehr gerecht.


thomas Melzer ist Richter in Brandenburg.
In »Meine urteile« schreibt er in loser Folge über
geschichten, die hinter seinen Fällen stecken

Gefährliche


Lieferketten


VON THOMAS MELZER

Bei der strafzumessung in sachen Meyer hat das
gericht – Rechtskundige erkennen das sofort – den
zweiten schritt vor den ersten gesetzt: Es hat sich
zunächst festgelegt, Meyer nicht ins gefängnis zu
schicken, sondern ihm eine Bewährungschance zu
geben. Danach stellte es – was dogmatisch der
erste schritt zur Bemessung der schwere einer tat
wäre – die eigentliche unrechts-Rechnung aus,
mit der Freiheitsstrafe und ihrer Dauer. Höchstens
zwei Jahre Freiheitsstrafe können zur Bewährung
ausgesetzt werden; ein tag mehr, und zur ge-
siebten Luft ließe das strafgesetzbuch keine Al-
ternative. geht ein gericht exakt an diese grenze,
bedeutet dies meist: Eigentlich wäre mehr ange-
messen. Aber es überwiegen gute gründe, eine
strafe festzusetzen, die nicht automatisch ins
gefängnis führt.
Die guten gründe liegen hier, wie so oft, nicht
in der Person des Angeklagten selbst. Wer meint,
mit 1500 Euro monatlichem Nettoeinkommen
ein Haus bauen zu können, und in den prekären
Finanzplan lange Finger als Eigenkapital einbringt,
verdient keine Nachsicht. Was aber ist mit den drei
Kindern im Alter von einem, sechs und 13 Jahren?
Den Vater ins gefängnis zu sperren hieße, sie mit-
zubestrafen: Die väterliche Zuwendung entfiele,
das Familieneinkommen halbierte sich, das stress-
potenzial der Mutter stiege. Von der stigmatisie-
rung – »Dein Vater ist ja im Knast!« – ganz zu
schweigen. um Kinder so in sippenhaft zu neh-
men, muss es in der Person des Vaters und der
schwere der tat zwingende gründe geben. Be-
deutet dies: Ohne Familie wäre Meyer im Knast
gelandet? Wahrscheinlich ja. Ist diese unter-
scheidung nicht ungerecht? Im unrecht gibt es

Beruf zur Jobbeschreibung und zum selbstan-
spruch, sich über die eigenen Emotionen zu erhe-
ben. Vielleicht ist es sogar das, was aus diesem Be-
ruf eine Berufung macht. Man muss sich aber der
gefahr bewusst sein, dass die richterliche Ratio
vielen torpedos ausgesetzt ist. und nicht alle sind
erkennbar.
Es war nicht überraschend, dass alsbald nach
dem verschollenen mütterlichen smart phone das
nächste strafverfahren aus diesem themenkreis
auf meinen tisch kam. Moritz Rath (Name geän-
dert) war noch keinen Monat als Paketzusteller im
Einsatz, da hatte er sich schon sein erstes 500-
Euro- Handy selbst zugestellt. Damit war nicht nur
die Probezeit schnell zu Ende, auch seine Freiheit
war in gefahr. Anders als Meyer bei seinen taten
war Rath nämlich vorbestraft. Es verrät viel über
den heiß gelaufenen stellenmarkt der Branche,
dass die unternehmen – in diesem Fall ein sub-
unternehmen von uPs – einen Fahrer einstellen,
der wegen vierfachen Betruges und sechsfacher
urkundenfälschung unter Bewährung steht. Offi-
ziell schließen die großen Logistiker das aus: uPs
teilt mit, ein polizeiliches Führungszeugnis zu ver-
langen, um die Einstellung von vorbestraften Zu-
stellern zu verhindern. DHL informiert, dass man
bei Neueinstellungen sicherheitsüberprüfungen
vornehme. und auch DPD schreibt, man kon-
trolliere regelmäßig anhand der Führungszeugnis-
se, dass die subunternehmer nur unbescholtene
Mitarbeiter beschäftigten.
Für den vorbestraften Moritz Rath beantragte
die staatsanwaltschaft den Bewährungswiderruf.
Nach Aktenlage eine klare sache, nach Lebenslage
eine erbarmungswürdige si tua tion: Rath war nach

keine gleichheit. Der eine Autofahrer wird ange-
halten, der nächste rast ungeschoren an der Laser-
pistole vorbei.
Meyer wurde verurteilt, bevor das Handy mei-
ner Mutter einem Meyer-Epigonen zum Opfer
fiel. Wäre das urteil in anderer Reihenfolge härter
ausgefallen? Ich denke: nein. Es gehört in diesem

Illustration: Julia Ossko und Eugen Schulz für DIE ZEIT

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