Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 35


W


er sich in diesen tagen
den Wahlkampf der
grünen im Osten an­
sieht, erlebt einen über­
raschenden Kontrast zur
erwarteten stimmungs­
lage. Nicht Einheits­
frust, antiwestliche Aversionen oder Ressenti­
ments gegen die Eliten prägen die Atmosphäre
auf den Veranstaltungen der Ökopartei, eher das
gegenteil. Wo die grünen­Vorsitzenden Anna­
lena Baer bock und Robert Habeck, die den
August im sächsischen und brandenburgischen
Landtagswahlkampf zubringen, bei den town­
hall­Meetings ihrer Partei auftreten, treffen sie
auf ein unaufgeregt­interessiertes Publikum.
Keine aggressiven Fragen zu Flüchtlingen, Asyl,
Kriminalität. stattdessen drehen sich die Veran­
staltungen um Klima und Ökologie, um wirt­
schaftliche Perspektiven – vor allem aber um
gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Zu­
kunft der Demokratie. Nicht einmal als störer ist
die politische Rechte präsent.
Als Robert Habeck an einem Dienstagabend
in Freiberg auftritt, einer ehemaligen Bergwerks­
stadt zwischen Dresden und Chemnitz, kommen
400 Leute. sie scheinen es zu genießen, dass sich
da einer auf ihre Fragen nach den grünen Vor­
haben einlässt und dann doch immer wieder fast
mantra haft auf die Verantwortung für das gan­
ze, Zuversicht und den Wert demokratischen
Mit ein an ders zu sprechen kommt. Demokratische
Ermutigung ist das heimliche Motto der Kam­
pagne. Die grünen wollen damit der Polarisie­
rung der ostdeutschen Verhältnisse durch die
AfD etwas entgegensetzen, ohne dass sie auf ih­
ren Wahlveranstaltungen die Partei auch nur er­
wähnen. Denn auf einen Wahlkampf, in dem die
AfD als Hauptgegner fungiert, wollen sie sich
gerade nicht einlassen. sie glauben, dass selbst
der negative Bezug auf die AfD im Wahlkampf
eher nutzt als schadet. »Wir wollen unser eigenes
Ding machen«, sagt Habeck.
Erste Anzeichen, dass das selbst im Osten
funktionieren könnte, gibt es inzwischen. In
eini gen großen städten wurden die grünen bei
der Europawahl stärkste Kraft, in Rostock und
Leipzig, aber auch in Potsdam und Dresden,
den Hauptstädten der beiden Länder, in denen
am 1. september gewählt wird. Auch in den
Kommunen verzeichnen sie deutliche gewinne.
umfragen zu den bevorstehenden Wahlen zei­
gen die Partei noch lange nicht auf Westniveau,
aber stabil im zweistelligen Bereich.
In sachsen könnten die grünen wie schon
in sachsen­Anhalt zur Regierungsbildung ge­
braucht werden, weil für die große Koa li tion
keine Mehrheit mehr in sicht ist. Auch wenn der
Dauerkonflikt mit einer nach rechts driftenden
CDu in sachsen­Anhalt die grünen immer wie­
der an den Rand des Koa li tions bruchs bringt,
würden sie sich wohl auch in sachsen auf eine
ähnlich schwierige Kon stel la tion einlassen. Man
müsse »dafür sorgen, dass die Demokratie stark
bleibt«, sagt Annalena Baer bock auf einer Wahl­
veranstaltung in Meißen. »Es wäre fahrlässig, die
Koa li tion mit einer demokratischen Partei von
vornherein auszuschließen« und »Parteiinteres­
sen über die Interessen des Landes zu stellen« –
so skizziert die Vorsitzende ein grünes selbstver­
ständnis, das deutlicher als früher auf Ko ope ra­
tion und Kompromissbereitschaft abstellt: in
sachsen mit der union, in Brandenburg wahr­
scheinlich mit der sPD und der Linken, mög­
licherweise sogar unter grüner Führung.
solche Aussichten wirken fast schon spekta­
kulär. Denn der Osten und die grünen, das ging
lange nicht zusammen, eigentlich seit der Wende
1989/90. Obwohl Bündnis 90/Die grünen die
einzige gesamtdeutsche Partei ist, die West­
politiker und ehemalige DDR­Bürgerrechtler in
einem Verhandlungsprozess tatsächlich gemein­
sam schufen, blieb sie im Osten von Beginn an
chancenlos. selbst während sie von 1998 bis
2005 im Bund regierte, war sie in den neuen
Ländern nahezu irrelevant. grüner Erfolg im
Osten bedeutete, dass die Partei nicht an der
Fünfprozenthürde scheiterte.
Das lag zuerst einmal daran, dass die West­
grünen, die die gemeinsame Partei dominierten,
kein wirklich passendes politisches Angebot hat­
ten, um nach dem Zusammenbruch des Real­
sozialismus die ehemaligen DDR­Bürger zu er­
reichen: Postmaterialismus, Ökologie und ein
beachtlicher Restbestand an linkem Radikalis­
mus stießen bei ihnen auf unverständnis oder
Aver sion. Dass die grünen die deutsche Na tion,
die sich in einem historischen Überraschungs­
coup vereint hatte, mehrheitlich für ein von der
geschichte überholtes, wenn nicht sogar fatales
gebilde hielten, half ihnen im Osten auch nicht.


U


nter der Parole »Alle reden von
Deutschland. Wir reden vom Wet­
ter« scheiterten die grünen bei der
Bundestagswahl 1990 an der Fünf­
prozenthürde. selten hat eine Partei
ihr trotziges unverständnis gegenüber einer über­
mächtigen Entwicklung stolzer zur schau gestellt
als die Ökopartei mit ihrem legendären Wahl­
slogan. Immerhin lässt sich 30 Jahre nach dieser
spektakulären Fehlleistung feststellen, dass das
grüne ur thema Klima inzwischen die politische
Debatte dominiert und dass die Na tion noch
immer unter den politischen, ökonomischen und
mentalen Verwerfungen leidet, die ein überstürz­
ter, vom Osten erzwungener, vom Westen do­
minierter Einheitsprozess mit sich brachte.
Aber die westgrüne Ignoranz war nur die eine
seite bündnisgrüner Randständigkeit. Auch die
Bürgerrechtler trugen ihren teil dazu bei, dass
die gemeinsame Partei bei ihren Landsleuten aus
der ehemaligen DDR nicht ankam. Zwar hatte
die Protestbewegung im Herbst 1989 Anteil am


2 POLITIK


Neue Mehrheiten


Ergebnisse der Landtagswahl 2014 und Prognosen für die Wahl 2019, Angaben in Prozent

Sachsen Brandenburg

5,

12

Grüne

39,

26

CDU

18,
15

Linke

12,
9

SPD

3,8^5

FDP

9,

26

AfD

6,

17

Grüne

23,

17

CDU

18,
14

Linke

31,

Ergebnis
2014

Prognose
2019 18

SPD

1,

5

FDP

12,

21

AfD
ZEIT-GRAFIK/Quellen: Bundeswahlleiter, Prognosen: infratest dimap, Stand: 6. August (Sachsen) 9. August (Brandenburg)

Im Osten geht


das Grüne auf


Bei den Landtagswahlen in sachsen und Brandenburg winken der Partei ungekannte Erfolge.


Dahinter steckt mehr als nur das Charisma ihrer Vorsitzenden VON MATTHIAS GEIS


Parteichefin Annalena Baerbock bei einem Wahlkampfauftritt in Teltow (Brandenburg) im August

Foto: Marlene Gawrisch/ullstein

sturz des Re gimes, doch nur für einen kurzen
Moment, zwischen september und November,
befand sie sich auf der Höhe der Entwicklung
und im Einklang mit der gesellschaftlichen
stimmung.
sowohl vor wie nach der Wende waren die Op­
positionellen marginalisiert. Vorher, weil die über­
wältigende Mehrheit der DDR­Bevölkerung nichts
mit der politischen Op po si tion gegen die sED zu
tun haben wollte – und danach, weil den DDR­
Bürgern der sinn nicht nach Runden tischen und
demokratischer selbstermächtigung, sondern nach
Freiheit und Wohlstand sowie der Einheit als ver­
meintlich sicherem Weg dahin stand. so entschie­
den sich bei der ersten und letzten freien Volks­
kammerwahl im März 1990 gerade einmal 2,
Prozent für die Bürgerrechtler von Bündnis 90.
Kein halbes Jahr nach der Wende war ihr Ansehen
beim gros der Bevölkerung zerstoben.
Das doppelte Handicap, unter dem Bündnis
90/Die grünen im Osten litt, wurde durch die
inner par tei liche Fremdheit noch verschärft. Die
Westgrünen waren 1989 eine junge Partei, gera­
de zehn Jahre alt. Bis in die Neunzigerjahre wa­
ren die fundamentalistischen Züge ihrer grün­
dungszeit noch stark, ihre systemoppositionellen
und kapitalismuskritischen Impulse lebendig.
Die trafen nun auf die tra di tion der Bürger­
rechtler, die nicht nur – anders als die Westgrü­
nen – eine erfolgreiche Re vo lu tion hinter sich
hatten, sondern sich jetzt auch vorbehaltlos auf
die neu errungenen demokratischen Verhältnisse
einlassen wollten. Während die Westgrünen
noch darüber stritten, ob Beteiligung an der
Macht den Verrat an der eigenen Identität be­
deute, wollten die Bürgerrechtler die neuen Ver­
hältnisse kompromissbereit und ohne Vorbehalt
mitgestalten.
Auf diese tradition beziehen sich heute die
grünen Vorsitzenden. »Das Konstruktive, Ko­
operative der Bürgerbewegung ist in der grünen
Bundespartei erst spät zum tragen gekommen«,
sagt Annalena Baer bock. Die grünen im Westen
hätten verkannt, »was für einen schatz wir da
haben«, erklärt Habeck seinen Zuhörern in Frei­
berg. Das ist nicht nur für das sächsische Publi­
kum eine passende Ansprache.
Die Wertschätzung für die vergessenen Bür­
gerrechtler passt ja wirklich zu dem Impetus,
mit dem die aktuellen grünen Vorsitzenden ihre
Partei seit eineinhalb Jahren zu erneuern versu­
chen. Emphase für das demokratische gemein­
wesen, Verantwortungsbereitschaft, Ermutigung
zur teilhabe, das alles erinnert aber nicht ein­
fach nur an die vergangene Bürgerbewegung.
Als strategie passt es eben auch, besser als vor 30
Jahren, zu den neuen Herausforderungen des
Rechtspopulismus, zur schwäche der zivilgesell­
schaftlichen strukturen und zur Notwendigkeit
neuer politischer Bünd nisse.

A


uch weil im Osten das demokrati­
sche Erbe der Friedlichen Re vo lu­
tion zugunsten des schnellen An­
schlusses und der freiwilligen Über­
nahme aller strukturen aus dem
Westen gekappt wurde, konnten in den Folge­
jahrzehnten politische Apathie, Enttäuschung
und Entfremdung den Boden für den populisti­
schen Protest bereiten. und deshalb könnten sich
nun auch die grünen im Osten zu einer relevan­
ten Kraft entwickeln. Auf sie richte sich die
»sehnsucht nach einem Leben jenseits des rech­
ten Randes«, wie es eine Frau aus dem Publikum
in Meißen formuliert.
Der Aufstieg der AfD zu einer 25­Prozent­
Partei im Osten und die stimmungsprägende
Rolle, die der Rechtspopulismus dort spielt, ak­
tivieren nun auch die gegenkräfte aus der Mehr­
heitsgesellschaft. Das Publikum, das die grünen
in diesen Wochen mit ihren Wahlveranstaltun­
gen anziehen, gehört zu den 75 Prozent, die sich
mit der AfD­fixierten Wahrnehmung der ost­
deutschen Verhältnisse nicht abfinden wollen.
In normalen Zeiten hätten sich dafür auch
die Parteien angeboten, die in der ostdeutschen
politischen Landschaft seit je eta bliert sind.
Doch die grünen kommen ins spiel, weil CDu,
sPD und Linke selbst teil der Krise geworden
sind. Die CDu ist sich angesichts rapide schwin­
dender Zustimmung nicht mehr sicher, ob sie
sich weiter in der politischen Mitte verorten oder
künftig stärker nach rechts orien tie ren soll. Im
Osten spaltet dieser Konflikt die Partei. Die
Rolle als unzweideutige Alternative zur AfD kann
sie nicht mehr ausfüllen. Eine sPD wiederum,
die sich in sachsen langsam der Fünfprozent­
hürde nähert, wird kaum mehr als eindrucksvolle
demokratische gegenmacht wahrgenommen.
und die Linke? sie hat lange den Ostprotest von
links organisiert und sieht nun einen teil ihrer
Anhängerschaft ins rechte Protestlager wechseln.
Die AfD treibt die Linken in die Krise, nicht in
die Offensive.
Allerdings ergibt sich aus der Misere der an­
deren nicht automatisch, dass die grünen ihrer
neuen Rolle gerecht werden. Aber Habeck wirkt
nicht, als sei er anfällig für solcherart skepsis.
Zuversicht ist bei ihm Programm. »Wir waren
lange nur eine Nischenpartei«, variiert er in Frei­
berg eine seiner Lieblingsvorstellungen: »Aber
nun tragen wir Verantwortung für das ganze.«
Wenn er zu Beginn des Jahres Ausblick hielt,
standen die ostdeutschen Wahlen im Zentrum.
gerade hier, unter den denkbar schwierigsten Be­
dingungen für seine Partei, werde sich zeigen, ob
sie die Rolle als stabilisierende Kraft im neuen
deutschen Parteiengefüge ausfüllen könne, sagte
Habeck damals. Die grünen im Osten werden bei
den kommenden Wahlen passabel abschneiden. sie
werden die lange Phase ihrer Erfolglosigkeit be­
enden. Aber es sind große Ambitionen, an denen
man sie nach dem 1. september messen wird.
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