Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1
Kleines Foto: Kiyoshi Ota/Bloomberg/Getty Images; Illustration: DZ

WISSEN 27

TITELTHEMA: WARUM WIR UNS NICHT MEHR VERSTEHEN


In den USA geht ein mysteriöses Lungen-
leiden um: Die Betroffenen – meist jüngere
Menschen – befällt bisweilen so heftige
Atemnot, dass sie ins Krankenhaus eingelie-
fert und beatmet werden müssen. Manche
leiden auch an Fieber, Husten, Erbrechen
und Durchfall, wie die Washington Post be-
richtet. Die fast hundert Fälle haben die
Gesundheitsbehörde Centers for Disease
Control (CDC) auf den Plan gerufen. Ein
möglicher Auslöser der Lungenerkrankun-
gen: Nikotin spendende E-Zigaretten.
Mit dieser Meldung geht die Debatte um
den dampfenden Tabak-Ersatz in die nächste
Runde. Alles begann damit, dass echte Glimm-
stängel in Verruf geraten waren und Raucher
weniger gesundheitsschädliche Alternativen
suchten. Die Industrie lieferte: E-Zigaretten
sollten 95 Prozent weniger schädliche Sub-
stanzen abgeben und Raucher trotzdem mit
Nikotin versorgen. Besonders unter Jugend-
lichen kam die Botschaft an. Die sogenannten
Verdampfer wurden zum Renner. Gerät jetzt
auch die Rauchalternative ins Zwielicht? Be-
fördern nun ausgerechnet die scheinbar weni-
ger schädlichen E-Zigaretten junge Konsu-
menten reihenweise
ins Krankenhaus?
Die Gegner der
elektrischen Rauch-
ware spüren jeden-
falls Aufwind. Behör-
den wie die CDC
oder die amerika-
nische Food and
Drug Administration
haben die Produzen-
ten der nikotinhalti-
gen E-Zigaretten schon lange im Visier –
weil diese offensichtlich auf Absatzsteige-
rungen unter Jugendlichen zielen. Schließ-
lich sehen die Geräte aus wie USB-Sticks, es
locken verschiedene Geschmäcker, das soll
insbesondere die junge Generation an-
sprechen. Hintergedanke: Wer früh an das
abhängig machende Nikotin herangeführt
wird, will oft nicht wieder davon lassen.
Bei Erwachsenen können E-Zigaretten
zwar tatsächlich die Rauchentwöhnung er-
leichtern. Die jungen Konsumenten aber, so
die CDC, würden später häufig von der
nikotinhaltigen E-Zigarette auf herkömm-
liche Tabakprodukte umsteigen. Viele Jugend-
liche wissen noch nicht einmal, dass E-Ziga-
retten Nikotin enthalten, und zwar zum Teil
ebenso viel wie Zigaretten. Haben die aktuell
erkrankten amerikanischen Patienten Nikotin-
vergiftungen erlitten, weil sie ahnungslos via
Verdampfer exorbitante Mengen des Nerven-
gifts einsogen?
Nun sind hundert Erkrankungsfälle
unter der Gesamtzahl der Elektro-Qualmer
eine verschwindende Minderheit. Durch
allergieauslösende Erdnüsse erkranken weit
mehr Menschen. Klar ist aber: Was der
Dauerkonsum von Nikotindämpfen in
den Gehirnen von Jugendlichen anstellt,
ist noch überhaupt nicht ausreichend un-
tersucht. Die Hersteller verweisen gerne
darauf, dass E-Zigaretten keine Arzneimit-
tel sind; deshalb müssen sie vor der Zulas-
sung auch nicht so akribisch auf (Neben-)
Wirkungen getestet werden. Dennoch
sollten bei potenziell suchterzeugenden
Stoffen solche Daten gesammelt werden.
Die jahrzehntelange Verharmlosungstaktik
der Tabakindustrie darf sich nicht wieder-
holen. HARRO ALBRECHT

Im Blindf lug


in die Sucht


Über die Gesundheitsrisiken von
E-Zigaretten ist wenig bekannt

Ist Dampfen eine
gute Alternative
zum Rauchen?

Mit Birkenpech klebten Steinzeitler Klingen
fest. Die Herstellung dieses Leims aus der Holz-
rinde gilt als uraltes komplexes Verfahren.
Denn beim Einkochen des Rohstoffs muss die
Temperatur angeblich zwischen 340 und 370
Grad Celsius stabil gehalten werden. Lange
bevor der moderne Mensch den Kontinent
betrat, fabrizierte vor 200.000 Jahren der Ne-
andertaler in Europa Birkenpech. Der Kleb-
stoff gilt daher als Beweis für den genialen Geist
unseres Vetters. Tübinger Forscher aber belegen
jetzt: Es reicht, wenn ein Stein direkt neben der
brennenden Birkenrinde liegt, schon bleibt
Pech daran haften. Einfach Kruste abkratzen
und leimen. Auch darauf muss der Hoch-
intelligente erst einmal kommen. WILL

Natürlich genial


HALBWISSEN

Zwei Dürren in Folge:


Der Wald ist gestresst.


Über den Umgang mit


der Krise herrscht Streit



  1. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 35 Seite 31


Fortsetzung auf S. 28

Die Hochzeit


der Deutschen


Von Ost nach West, von West nach Ost – und irgendwann


vielleicht zurück. Jedes Jahr ziehen Zehntausende über


die einstige innerdeutsche Grenze um. Die 30-jährige Suche


nach dem Glück hat das Land geeint und getrennt


VON MARTIN MACHOWECZ, FOTOS: MARIO WEZEL

W


enn Manfred Pointner
über die Zuwanderer aus
dem deutschen Osten
spricht, klingt es ein we-
nig, als rede er wohlwol-
lend über Migranten aus
einem fernen Teil der
Erde. »Das waren freundliche, fleißige Menschen«,
sagt Pointner in erdigem Bairisch. »Wir brauchten
sie an jeder Stelle. Ich kann nur Gutes über sie sa-
gen.« Die Ostdeutschen, findet Pointner, hätten
sich hier »hervorragend integriert«.
Pointner, 76, war Bürgermeister der bayeri-
schen Gemeinde Hallbergmoos, als die Mauer fiel.
Mitte der 1990er wurde er Landrat für die Freien
Wähler im Kreis Freising, nördlich von München.


In jener Zeit nach der Wiedervereinigung ström-
ten Ostdeutsche in großer Zahl in seinen Land-
kreis, weil zwei gegensätzliche Entwicklungen pa-
rallel abliefen. Im Osten brachen Industrien ein,
Arbeit ging massenhaft verloren, Millionen büß-
ten ihre Jobs ein. In Freising hingegen setzte ein
Boom ein. Hier, vor den Toren Münchens, wo im
Mai 1992 Bayerns neuer Großflughafen Franz Jo-
sef Strauß eröffnete, fehlten Arbeitskräfte an jeder
Ecke. Vor allem: gut ausgebildete, fleißige, junge.
Freising und seine Nachbarstadt Erding wurden
nun zu Wende-Gewinnern. Keine andere deutsche
Region profitierte, im Verhältnis zur Einwohner-
zahl, dermaßen von den Zuzügen aus dem Osten.
27.000 Ostdeutsche, so hat es ZEIT ONLINE auf
Basis der Daten aus den Einwohnermeldeämtern

errechnet, zogen seit 1991 hierher. Pointner sagt:
»Ohne die Ostdeutschen wäre Freising nicht so
stark, wie es jetzt ist.«

Offene Schleusen
30 Jahre nach dem Mauerfall rückt ein Phänomen
in den Blick, das die Republik so sehr geprägt hat,
ihre innere Verfasstheit so stark verändert hat wie
kaum etwas sonst: die massenhaften Umzüge der
Deutschen seit 1989 – von Ost nach West und von
West nach Ost. Binnen dreier Jahrzehnte holten die
Menschen nach, was ihnen in all den Jahren zuvor
verwehrt worden war: überzusiedeln in den jeweils
anderen Teil des Landes. Deutschland vereinigte sich,
als habe sich eine Schleuse geöffnet; und die Deut-
schen strömten ineinander. Sie feierten Hochzeit.

4,8 Millionen Umzüge gab es zwischen 1989
und 2017 aus dem Osten ins alte Bundesgebiet.
Und 2,9 Millionen Umzüge fanden in derselben
Zeit in die Gegenrichtung statt, aus dem Westen
in die fünf neuen Länder und nach Ostberlin. Das
heißt, es gab fast acht Millionen Umzüge zwischen
Ost und West.
Die große deutsch-deutsche Völkerwanderung
betrifft also fast jeden Bürger dieses Landes. Im
Osten tatsächlich jeden, weil jeder Menschen
kennt, die fortgingen. Söhne, Töchter, Cousinen
und Cousins, Freunde, Mitschüler, Kommilito-
nen. Im Westen betrifft sie praktisch jeden, weil
jeder jemanden kennt, der zugezogen ist: Kolle-
gen, neue Freunde, neue Nachbarn. Oder einfach
nur den Verkäufer in der Bäckerei.

Wolfgang Voß Kassel/Hessen Hannover/Niedersachsen Moritzburg/Sachsen Anne-Katrin Scharlach Weißwasser/Sachsen Bielefeld Minden/NRW

Mike Winkel Canow/Mecklenburg-Vorpommern Düsseldorf Andorra
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