Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1

Heute wird offensichtlich, dass die große Wan-
derung der Deutschen ihre Licht- und Schatten-
seiten hat. Die aktuelle Debatte zwischen Ost und
West, um ostdeutsche Unzufriedenheit und die
sich zäh vollziehende Einheit, könnte einiges zu
tun haben mit all denen, die gewandert sind:
Mit den Ossis, die im Westen unglücklich
wurden – und jetzt darüber sprechen.
Mit den Ossis, die im Westen glücklich wur-
den – und jetzt im Osten fehlen.
Mit den Wessis im Osten, die sich nicht wert-
geschätzt fühlen für ihren Einsatz.
Aber auch mit den Ostdeutschen, die nach
Jahren im Westen in die alte Heimat zurückkehren
und sich fragen: Gehöre ich noch hierhin?
Unterm Strich hat der Osten seit dem Mauerfall
1,9 Millionen Menschen an den Westen verloren. Es
gibt Regionen in den fünf neuen Ländern, die aus-
gezehrt sind und überaltert. Das sind jene, in denen
heute die Wut gedeiht – und sonst nicht viel.
Es gibt aber auch: Ostdeutsche und Westdeut-
sche, die im anderen Landesteil Karriere machten,
sich ineinander verliebten, glücklich wurden. Und
die so, jeder im Kleinen, die Einheit ein Stück vo-
rangebracht haben. Manche Forscher sagen, der
Zustrom junger, gut ausgebildeter Ostdeutscher
sei für den Westen ein Konjunkturprogramm ge-
wesen, das dieser sich nicht schöner hätte erträu-
men können. Doch die beste Nachricht lautet: Seit
etwa zwei Jahren verliert der Osten gar nicht mehr
an den Westen. Im Gegenteil. Der Trend kehrt
sich, wenn auch langsam, um. Nach 30 Jahren ver-
zeichnet der Osten plötzlich Wanderungsgewinne.


Ein Geschenk für den Westen
Wer den Geografen Tim Leibert besucht, einen
führenden Forscher zur innerdeutschen Mi gra tion,
der muss weit hinaus an den Leipziger Stadtrand, in
einen grauen Neunzigerjahre-Betonklotz. Hier, im
Leibniz-Institut für Länderkunde, sucht Leibert seit
Jahren nach Antworten auf die Frage, was all diese
Umzüge in der deutschen Seele bewirken.
Leibert, 42, in Baden-Württemberg geboren und
als junger Mann nach Sachsen ausgewandert, sagt:
»Die Umzüge haben das Land zum Positiven ver-
ändert, und sie haben das Land zum Negativen ver-
ändert. Beides ist richtig. Und es ist nicht so, dass
allein der Westen profitiert hätte und dass allein der
Osten der Verlierer wäre.« Das Phänomen werde oft
zu einseitig betrachtet, als riesiger Brain-Drain, als
Verlust von Hochqualifizierten für den Osten. Kurz-
um, es werde zu häufig bloß geschimpft.
Aber: »Wir dürfen auch die andere Seite der
Medaille nicht vergessen«, sagt Leibert. »Alles, was
wir über drei Jahrzehnte erlebt haben, war ein
enormer Brain-Gain für den Westen«, also: ein un-
glaublicher Zugewinn an Hochqualifizierten für
die alten Bundesländer. »Es gab eine Zeit, da war
man im Osten durchaus froh, dass die Leute ge-
hen. Weil man andernfalls noch mehr Arbeitslose
gehabt hätte, noch mehr Verzweifelte, noch mehr
Perspektivlose. Neu ist die Erscheinung, dass ost-
deutsche Politiker den vielen, die gegangen sind,
nun nachtrauern.«
Was man über die Ost-Abwanderer wisse, sagt
Leibert, sei Folgendes: überdurchschnittlich gut
ausgebildet, eher jünger, eher weiblich. Der Osten,
könnte man sagen, schickte seine Besten in den
Westen. Mancher von Leiberts Kollegen findet
daher: Es waren die Ost-West-Migranten, die die
Einheit maßgeblich finanziert haben, denn Öko-
nomen des Instituts für Wirtschaftsforschung in
Halle haben schon vor Jahren ausgerechnet, dass
die gut ausgebildeten ostdeutschen Arbeitskräfte
im Westen ein Viertel des Wirtschaftswachstums
der alten Bundesländer nach 1990 erwirtschafte-
ten. Zähle man das zusammen, was die ost-
deutschen Zuwanderer dem Westen gebracht hät-
ten – Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts, Er-
höhung der Produktivität, viele Milliarden an ge-
zahlter Einkommenssteuer –, dann sei es nicht
verwegen, zu behaupten: Die Ostdeutschen haben
den Aufbau Ost selbst erarbeitet.


Tim Leibert sagt zwar, dass solche Berechnun-
gen in der Wissenschaft nicht unumstritten seien
und auch schwer zu überprüfen, weil sich schon
die Kosten der Einheit kaum ausrechnen ließen.
»Unbestritten ist aber das wirtschaftliche und de-
mografische Geschenk, das der Westen mit der
Wiedervereinigung erhalten hat.« Man könne fast
von einem zweiten Marshallplan für Westdeutsch-
land sprechen. Ende der Achtzigerjahre entstand
im Osten plötzlich ein neuer Absatzmarkt – und
mit den neuen Bürgern kamen die Arbeitskräfte,
die all die benötigten Waren herstellen konnten.
Eine Win-win-Situation.
Doch auch die Westdeutschen, die damals in
den Osten gingen, waren besser als heute behaup-
tet. Auch sie, sagt Leibert, seien eher jung, sehr gut
qualifiziert, eher überdurchschnittlich verände-
rungsbereit und abenteuerlustig gewesen. »Dieje-
nigen, die abwandern, wohin auch immer, ge-
hören stets zu den flexibelsten Mitgliedern einer
Gesellschaft.«

Ein ostdeutsches Unglück
Die Abwanderung aus dem Osten nach 1990 war
heftig und verlief in Intervallen. Eine gewaltige
Welle wuchs in der unmittelbaren Nachwendezeit,
allein 1991 gab es 230.000 Umzüge aus dem Os-
ten (ohne Berlin) in den Westen. 1992 waren es
176.000 Umzüge, 1993 immer noch 143.000.
Dieser erste Strom – eine regelrechte Fluchtbewe-
gung – erklärt sich mit der unmittelbaren wirt-
schaftlichen Lage, der Deindustrialisierung der
Ex-DDR, der verzweifelten Suche nach Jobs. Bis
Ende der Neunziger ließ die Abwanderung nach,
doch um das Jahr 2000 platzte die Dotcom-Blase,

im Osten schlug das besonders heftig durch. Viele
Ostdeutsche verloren nun endgültig die Hoff-
nung, dass ihre Heimat irgendwann noch Perspek-
tiven bieten könnte. Eine zweite Welle brach los.
168.000 Menschen verließen den Osten im Jahr
2000 gen Westen, dann 192.000 im Jahr 2001
und immer noch 177.000 im Jahr 2002. Es eta-
blierte sich eine regelrechte Abwanderungskultur.
Zu gehen wurde normal. Ganze Abschlussklassen
pilgerten Richtung Westen. Diejenigen, die blie-
ben, waren die Ausnahme.
Damals ging auch Anne-Katrin Scharlach, heu-
te 59 Jahre alt, aus Weißwasser, sächsische Lausitz.
Manchmal hört man die Herkunft sogar noch he-
raus, nach all den Jahren. Sie sitzt auf dem Park-
platz eines Einkaufszentrums in Minden, Westfa-
len. Eine Bäckereikette hat hier einen Freisitz ein-
gerichtet, zwischen Baumarkt und Elektroladen
gibt es zwei Pott Kaffee und die Geschichte eines
nicht immer glücklichen Lebens.
Es war im Jahr 2000, als Scharlach ihr Schicksal
in die Hand nahm und mit ihrem Sohn Paul in
den Westen zog: »Ich dachte damals, das sei eine
gute Idee, ich dachte, das mache man eben so, um
vernünftig arbeiten und Geld verdienen zu kön-
nen. Heute weiß ich, dass es keine so gute Idee war
und dass sich die Tür zurück in den Osten auf
lange Sicht geschlossen hat.«
Zu DDR-Zeiten hatte sie Bibliotheksassisten-
tin gelernt, als die Mauer fiel, arbeitete sie bei
einem Baustoffhandel. Es sei ihr gut gegangen als
alleinerziehende Mutter in einer neuen Platten-
bauwohnung, es habe kaum Sorgen gegeben. Das
änderte sich in jener Novembernacht, die Freiheit
brachte – und Unsicherheit.

Frau Scharlach verlor ihren Job, in den Neunzi-
gern schlug sie sich durch: mal arbeitslos, mal be-
fristet beschäftigt. Einmal schrieb sie im Rahmen
einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme eine Dorf-
chronik. »Die Neunziger waren eine permanente
Jagd nach ein bisschen Einkommen und einem
kleinen bisschen Glück«, sagt sie.
Für Anne-Katrin Scharlach teilen sich die Neun-
ziger in zwei Phasen. Erst, sagt sie, habe man auf den
Parkplätzen der Plattenbausiedlungen abends keinen
Parkplatz mehr gefunden, weil plötzlich jeder ein
West-Auto besaß. Dann wurden die leeren Park-
plätze wieder mehr, weil sich immer mehr Leute in
ihr neues Auto setzten und in den Sonnenuntergang
fuhren Рauf Nimmerwiedersehen. Ȇber die Jahre
leerte sich unsere Siedlung«, erinnert sich Scharlach.
»Die Fenster wurden dunkel. Ein Gefühl der Tor-
schlusspanik machte sich breit. Mir wurde klar: Ir-
gendwann ist dein Licht das letzte, das hier brennt.
Wenn du nichts unternimmst.«
Dann traf sie auf dem Supermarktparkplatz
zufällig einen alten Schulfreund, der sagte, er sei
mit seiner Familie nach Bielefeld gezogen – komm
doch hinterher! »Blauäugig, wie ich war«, sagt
Scharlach bitter, »kündigte ich meine Wohnung,
nahm meinen Sohn, zog nach Bielefeld und dach-
te, jetzt wird alles gut.« Aber nichts wurde gut.
Zunächst fing sie in einem Supermarkt an, die
Arbeit sei reine Schikane gewesen. Unbezahlte
Überstunden, Kasernenhofton, »die haben meine
Nöte ausgenutzt, die wussten genau: Mit mir kön-
nen sie es machen.« Als Arbeitskräfte seien die
Ostdeutschen beliebt gewesen. »Die Westdeut-
schen waren immer begeistert, wie arbeitsam, wie
pünktlich die Ossis waren. Man freute sich, wenn

man einen Ossi kriegen konnte. Die meckerten
nicht, waren genügsam und packten an.«
Scharlachs Geschichte ist ein drastischer Fall. Eine
Untersuchung des Leibniz-Instituts für Länder kunde
zeigte vor fünf Jahren, dass sich mehr als zwei Drittel
der befragten Ost-Abwanderer im Westen eigentlich
gut oder sehr gut aufgenommen fühlen. Die meisten
waren mit ihren Karrieren, ihrem Einkommen und
dem »Leben allgemein« zufrieden.
Aber die Untersuchung zeigte auch: Einigen
gelang es einfach nicht, glücklich zu werden. Weil
auch diese Menschen sich jetzt zu Wort melden
und ihr Scheitern thematisieren, rücken die Diffe-
renzen von Ost und West in den Blick: Unter-
schiede, die sich nicht aus Vorurteilen speisen,
sondern aus Erlebtem. Die Ost-West-Differenzen,
über die heute geklagt wird, entstanden oft gar
nicht auf DDR-Gebiet. Sondern in einer Zeit, als
der eine im Supermarkt Regale einräumte und der
andere ihm anordnete, was zu tun sei.
Die ostdeutsche Autorin und Lektorin Maike
Nedo hat geschrieben, dass ihr arbeitsbedingter Um-
zug nach Frankfurt am Main 1998 ihr Leben mehr
verändert habe als der Mauerfall selbst. »Das Leben
der Menschen, denen ich in Frankfurt begegnete,
hatte sich seit dem Mauerfall nicht verändert«,
schreibt Nedo. »Von den etwa 150 Mitarbeitern im
Verlag kamen nur vier aus dem Osten, drei davon
waren Frauen Ende zwanzig. Ich erkannte Andrea
und Jeanette an ihrem Heimweh.« Nie thematisierten
die drei Frauen vor Dritten ihre Herkunft. »Wir be-
fürchteten wohl, dass die bloße Nennung unserer
Heimatorte all die Klischees über Ostdeutsche auf
den Plan rufen könnte: faul, unflexibel, provinziell,
Jammerlappen. Wir wollten nicht für solche Schwä-
chen stehen. Stattdessen hieß unsere Zauberformel:
Fleiß und Anpassung.«
Wie bei Anne-Katrin Scharlach. Als sie aus lauter
Frust schon auf dem Sprung war zurück nach Weiß-
wasser, bekam sie das Angebot, in einer Bibliothek
anzufangen, erst in Bielefeld, dann in der Außen-
stelle im Nachbarort Minden. Ein guter Job, nicht
schlecht bezahlt. »Aber richtig heimisch und damit
glücklich bin ich in dieser Gegend trotzdem nicht
geworden«, sagt Scharlach. »In meiner Generation
sind wir in Ost und West doch noch zu unterschied-
lich, wir finden uns nicht, wir kommen einander
nicht nahe.« Einen Mann hat sie in Minden nicht
mehr gefunden, ihr Ex-Mann, der Vater ihres Sohnes,
ist im Osten geblieben. Wenn Scharlach in ihren
Wagen steigt, läuft im Auto radio MDR, der Sender
ihrer Heimat. Immer wieder habe sie versucht, in den
Osten heimzukehren, es habe sich dort aber nichts
gefunden. In wenigen Jahren jedoch, wenn sie in
Rente gehen kann, will sie heim. Ihr Sohn wird wohl
in Minden bleiben. Er ist im Westen zu Hause.

Ein ostdeutsches Glück
Mike Winkel ist gut gebräunt, er sitzt auf der Ter-
rasse eines Hotels in Rheinsberg und schaut aus
wie das blühende Leben. Er hat Urlaub. Hier, im
Landkreis Ostprignitz-Ruppin, mitten im Seen-
land, das schon Tucholsky und Fontane zu Liebes-
schwüren hinriss, war eigentlich Winkels Heimat,
er ist zwölf Kilometer von Rheinsberg entfernt in
Canow an der Mecklenburgischen Seenplatte auf-
gewachsen. Doch heute kehrt er nur in den Ferien
gelegentlich zurück. Der 48-Jährige blickt aufs
Wasser: »Das Wesentliche, das ich aus der Wende-
zeit mitgenommen habe, ist eine immense Verän-
derungsbereitschaft.«
Winkel hat eine klassische Abwandererbiografie;
ungewöhnlich ist, wie weit er es nach oben geschafft
hat – aus der Brandenburger Provinz bis in den
Vorstand des Dax-Konzerns E.on, eines deutschen
Energiegiganten. Dabei hatte er gar nicht in den
Westen gestrebt, weil er es unbedingt gemusst hät-
te – es war aber nötig, wenn man einen Topjob
wollte. Bis heute gibt es keinen Dax-Konzern in den
neuen Bundesländern, die Entwicklungsabteilungen
und Management-Tower stehen alle im Westen.
Und dort macht man auch jene Karrieren, die es für
jene nicht gibt, die im Osten bleiben.
Mike Winkel zog, nach einem Wirtschaftsstudi-
um in Zittau, 1997 nach Hannover, später für E.on

Eigentlich ist das Jahr 2019
eines der Freude: Deutschland
feiert 30 Jahre Mauerfall.
Aber das Land ist auch gespalten
wie nie, mitunter haben Ost-
und Westdeutsche das Gefühl,
sie verstünden einander nicht
mehr. Woher kommt die
Unzufriedenheit? Wieso sind
manche, die 1989/90 euphorisch
waren, heute verbittert? Dies
ergründen wir in zwölf Serien-
teilen – über ostdeutsches
Eigentum, westdeutsche Chefs,
die Treuhand, die Währungs-
union, über Thüringer Dörfer
und enttäuschte Revolutionäre.

Serie: Erklär mir


den Osten (1/12)


Die Hochzeit ... Fortsetzung von S.27


TITELTHEMA: WARUM WIR UNS NICHT MEHR VERSTEHEN


Fotos: Mario Wezel für DIE ZEIT; Illustration und Grafik: DZ

Wer zog nach der Wende wohin – innerhalb von Deutschland


Jährlicher Anteil der Menschen, die der Westen aus dem
Osten dazugewann (sortiert nach der größten Gesamtzunahme)

Jährlicher Anteil der Menschen, die der Osten aus dem
Westen dazugewann

Gesamtzahl der Umzüge zwischen Umsiedler zwischen Ost- und Westdeutschland
Ost- und Westdeutschland von 1989 bis 2017

von West nach Ost
1991 2017

1 % von Ost
nach West

1991 2017

1 %

Erding
Bayern (+6,0 %)

1991 2017

1 %

Hamburg
(+5,7 %)

1991 2017

2 %

1 %

Potsdam
Brandenb. (+4,0 %)

1991 2017

2 %

1 %

Nordwestmeckl.
Meckl.-Vorp. (+6,6 %)

1991 2017

2 %

1 %

Spree-Neiße
Brandenb. (+8,1 %)

1960 1975 1985 1995 2005 2015

1

2

3

4

in Hunderttausend

0

Freising
Bayern (+6,0 %)

4,8 Mio.
in den Westen

2,9 Mio.
in den Osten

von West nach Ost
Z E I T-GRAFIK/Quellen: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung
(BBSR), eigene Berechnungen, Statistisches Bundesamt

von Ost nach West
Im November 1989 fiel
die Mauer – und die
Abwanderung in beide
Richtungen setzte ein

keine Daten
1993

Millionen Menschen
verließen die noch junge
DDR in Richtung Westen.
Mit dem Bau der Berliner
Mauer 1961 dämmte das
SED-Regime die
Massenflucht ein

Tim Leibert
Heidelberg/Baden-Württemberg Leipzig/Sachsen

Deutsche Auswanderer
und Rückkehrer im Jahr 2018

262.000
Auswanderer

202.000
Rückkehrer

28 WISSEN 22. AUGUST 2019 DIE ZEIT N


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