Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1
Andrea Steinert, mit zwei ihrer Kinder
Niederwiesa/Sachsen Frankfurt (Main) Wien Kairo Marienberg/Sachsen

nach München, Düsseldorf, Moskau, wieder nach
Düsseldorf, seine letzte Station war: Personal- und
Produktionsvorstand. Schon mit 33 Jahren habe er
zum Top-50-Führungskreis von E.on gehört, sagt
Winkel. Immer schaffte er das, was er schaffte, be-
sonders früh. Seine Ost-Vita sei ihm dabei nie von
Nachteil gewesen, sondern stets von Vorteil. »Viel-
leicht habe ich aus dem Osten mitgenommen, bo-
denständig zu sein, immer mehr zu wollen«, sagt er.
»Als Jugendlicher in der DDR war ich nicht privile-
giert. Meine Eltern hatten einen Gasthof. Ich kann
mich mit normalen Leuten normal unterhalten, ich
war nie ein Vorstand, der eine Jacht oder vier Häuser
gebraucht hätte.«
Am Anfang stellten sich noch Unsicherheiten
ein. Das Gefühl, nicht so weltläufig zu sein wie die
West-Kollegen. Aber: »Wenn Sie mit 29 ein großes
Kraftwerkstilllegungsprogramm leiten, und Sie
machen das erfolgreich, dann wächst der Respekt
vor Ihnen – und Ihr eigener vor sich selbst. Und
dann wird es egal, woher Sie kommen.«
Vielleicht, vermutet Winkel, gab ihm seine
Herkunft auch die Freiheit, sich an keinen Job
ketten zu müssen. Dax-Vorstand ist er inzwischen
nicht mehr. Er hat aufgehört, weil er »selbstständi-
ger arbeiten« wolle, »mehr Zeit für sich haben«,
und weil er als Ostdeutscher »nicht an Posten kle-
be«. Er sitzt jetzt im Aufsichtsrat eines japanischen
Unternehmens, arbeitet für eine Consultingfirma
und ist nach Andorra gezogen, weil das strategisch
günstig liegt, zwischen Frankreich und Spanien.
Und weil seine Frau Spanierin ist. Er hat sie im
Westen kennengelernt. Die DDR-Geschichte,
sagt er, sei für sie gar nicht greifbar. Nur sein Sohn
fange langsam an, sich für die Wurzeln des Vaters
zu interessieren. In den Osten zurückgehen wird
Mike Winkel so schnell nicht. Deshalb fehlt er
seiner Heimat, wie Millionen andere auch.


Gewinner und Verlierer
Petra Köpping kann erklären, warum gerade die
Abwanderung Hochtalentierter eine Hauptursache
ist für den Groll in jenen ostdeutschen Regionen,
wo heute bis zu 30 Prozent AfD wählen. Köpping,
61, sächsische Integrationsministerin von der SPD,
hat es zu Bekanntheit gebracht, weil sie sich in den
vergangenen Jahren vorgenommen hat, erst ein-
mal die Ostdeutschen in die Gesellschaft zu inte-
grieren, sich deren Nöte und Nachwende-Sorgen
anzuhören. An einem Freitag im August steht sie
auf dem Marktplatz im sächsischen Markranstädt
und spricht mit Senioren – denn sonst ist niemand
da. »Unserer Gesellschaft fehlt die mittlere Gene-
ration«, sagt Köpping. »Uns fehlen die jungen
Männer und noch mehr: die jungen Frauen.« Das
sei zunächst ein finanzielles Problem, weil es den
Gemeinden ohne junge Arbeitskräfte an den
wichtigsten Steuerzahlern mangle. Es sei aber auch
ein politisches Problem. Schon heute zeichnet sich
ab, dass in den am dünnsten besiedelten Regionen



  • zugleich jene mit dem höchsten Altersdurch-
    schnitt – am häufigsten AfD gewählt wird. Köp-
    ping spricht von einer Gesellschaft der Vereinsa-
    menden, die dort schon zu beobachten sei.
    Köpping berichtet von älteren Leuten, die sag-
    ten: Es gehe ihnen, rein finanziell, gut. »Das Pro-
    blem ist, sie fühlen sich allein. Die Leute erklären
    mir, es wäre schön hier, wenn nicht unsere Kinder,
    unsere Enkel im Westen wären.« Die Menschen in
    Ostdeutschland hätten so was noch nie erlebt. »In
    der DDR waren die Familienzusammenhänge so
    wichtig wie etwa in Ost- oder Südeuropa: Ver-
    wandte halten zusammen. Plötzlich sind sie zer-
    rissen, in alle Richtungen verteilt.« Auch zwei ihrer
    drei eigenen Kinder sind gegangen, nach Ham-
    burg und Düsseldorf. Auch die, sagt Köpping,
    seien wohl für immer weg.
    Doch verloren nicht alle ostdeutschen Orte
    gleichermaßen an den Westen, sondern vor allem
    jene, die weder groß noch attraktiv waren, wirt-
    schaftliche Probleme hatten und weitab vom
    Schuss liegen. Wie Suhl in Thüringen, Cottbus,
    Dessau-Roßlau, Stendal, Frankfurt (Oder). Das
    sind Orte, die 12, 13, 15 Prozent ihrer Einwoh-
    ner abgaben.


Und weil besonders viele 18- bis 25-Jährige
abgewandert sind, wirkt die Alterspyramide der
ostdeutschen Provinz gar nicht mehr wie eine Py-
ramide, sondern wie ein Stundenglas mit Wespen-
taille. Tim Leibert, der Forscher, sagt: »Die im
Rentenalter sind noch da. Es fehlen die, die beim
Mauerfall jung waren. Und es fehlen die, die um
das Jahr 2000 jung waren und deren Kinder eben-
falls. Und das wird uns die nächsten Jahre noch
große Probleme bereiten.«
Viel diskutiert ist auch der Frauenmangel im
Osten. Tatsächlich gibt es Gegenden in der ländli-
chen Provinz, in der auf 100 junge Männer weni-
ger als 80 junge Frauen kommen. Zwischen 1989
und 2017 hat der Osten per Saldo 900.000 Män-
ner, aber eine Million Frauen verloren. Das liegt
nicht nur daran, dass vor allem unter den Jüngeren
tendenziell häufiger Frauen in den Westen ab-
wanderten. Sondern auch daran, dass die West-
deutschen, die im Gegenzug (unter anderem als
Aufbauhelfer) in den Osten gingen, eher männ-
lich waren.

Ein westdeutsches Glück
Lebt es sich irgendwo besser als in Moritzburg, jenem
bezaubernden Dresdner Vorort mit eigenem Schloss?
Ein Städtchen von pittoresker Schönheit. Wer kurz
vor dem Schloss links abbiegt, landet bei Wolfgang
Voß, der hier eine Heimat gefunden hat, die er sich
vor drei Jahrzehnten nicht erträumt hätte.
Voß, 69, ist vielleicht der Prototyp des West-
deutschen, der um 1990 in den Osten kam. Ein
Mann, dem der Mauerfall unvermittelt eine Chan-
ce eröffnete, von der er, damals 40 Jahre alt, gar
nicht erwartet hätte, dass sie ihm noch zuteilwer-

den könnte. Und Voß kam in den Osten, um den
Leuten hier ebenfalls Chancen zu eröffnen. Es
sähe, das muss man zugeben, ohne die Millionen
West-Einwanderer, zu denen auch Voß gehört,
heute sehr viel trister aus im Osten. 1990 kamen
25.000 Männer und 11.000 Frauen in den Osten,
das war der Tross, dem sich auch Voß anschloss.
1991 waren es 55.000 Männer und 24.000 Frau-
en, bis 1997 stieg die West-Ost-Wanderung an, in
jenem Jahr waren es 157.000 Menschen.
Voß, gebürtiger Hesse, arbeitete zur Wendezeit
im niedersächsischen Finanzministerium, und er
hatte es dort gemütlich. Im 1990er-Urlaub auf Gran
Canaria wurde es ihm zu viel mit der Gemütlichkeit.
»Wenn die Welt im Umbruch ist, willst du doch
dabei sein!«, habe er damals bei sich gedacht. Nach
den Ferien sei er zu seinen Vorgesetzten marschiert
und habe um Abordnung in die neuen Länder ge-
beten. Man schickte ihn nach Sachsen, dort brauch-
te es einen, der sich mit dem kommunalen Finanz-
ausgleich der Bundesrepublik auskannte – und was
für ein Zufall, darüber hatte Voß promoviert.
Der Neuankömmling übernahm direkt eine
Referatsleitung im Dresdner Finanzministerium,
»und als Hesse war ich da der Exot«. Denn die meis-
ten Aufbauhelfer waren aus Baden-Württemberg und
Bayern, den beiden sächsischen Partnerländern, die
in rauen Mengen Leute gen Osten entsandten.
Voß sagt, die Neunziger seien gleichermaßen
aufregend wie bedrückend gewesen, und den
Westdeutschen – jedenfalls denen, die etwas im
Kopf hatten – sei von Anfang an klar gewesen,
welche Härten der Osten zu bestehen hatte. »In
Zeiten, in denen die Arbeitslosigkeit bei 30 Pro-
zent liegt«, sagt Voß, »sitzt man im Ministerium

und fragt sich: Mann, wie kriegen wir das heute
wieder in den Griff? Ich hatte ja auch noch keine
Wiedervereinigung bewerkstelligt. Man musste
sich ständig bewähren. Der Druck auf das per-
sönliche Wachstum, auf die eigene innere Weiter-
entwicklung, war immens.« Es habe Westdeutsche
gegeben, die diesem Druck nicht gewachsen wa-
ren, die sich herrisch aufführten und die Ostdeut-
schen malträtierten, statt ihnen zu helfen. Aber das
seien die Ausnahmen gewesen.
Das Problem ist: Solche Ausnahmen waren stil-
prägend. Viele Ostdeutsche erinnern sich an die
Goldsucher und Glücksritter, an Vorgesetzte aus
dem Westen, die glaubten, die »Ureinwohner« be-
lehren zu müssen oder knechten zu dürfen. Viel
von der ostdeutschen Wut hat mit den Karrieren
der Westdeutschen im Osten zu tun.
Voß stieg in Sachsen bis zum Finanzstaatssekre-
tär auf und wurde dann noch Thüringer Finanz-
minister. Er holte seine Frau aus Hannover nach,
sie eröffnete in Moritzburg eine Pension, heute
besitzen die beiden ein riesiges Grundstück mit
zwei Häusern und Garten. Die Zugereisten gehö-
ren im Osten zur absoluten Oberschicht. Voß sagt,
er verstehe die Empfindungen vieler Ossis. Aber er
ärgere sich auch, dass von ein paar miesen Erfah-
rungen auf alle westdeutschen Einwanderer hoch-
gerechnet werde. Dankbarkeit einfordern – das
würde Voß nie. Er ist Beamter auf eine fast preu-
ßische Weise. Aber man hört doch heraus, dass ein
bisschen Anerkennung auch für einen wie ihn et-
was Schönes wäre. »Dass die Ostdeutschen ihr
Schicksal heute in die eigene Hand nehmen kön-
nen«, sagt Voß, »das war es doch, wofür wir Auf-
bauhelfer da waren.«

Wird alles gut?
Das Paradies der Andrea Steinert ist ein wuchernder
Garten in Marienberg im sächsischen Erzgebirge.
Einst hat sie die Flucht ergriffen aus jener Gegend,
dann kam sie zurück, um das Schicksal ihrer Heimat
positiv zu beeinflussen. Steinert ist 51, sieht aber zehn
Jahre jünger aus. Hier sitzt sie im Sportdress, gerade
war sie noch auf einem Badminton-Turnier, jetzt
erzählt sie aus ihrem wilden Leben.
Als sehr junge Frau ging Steinert in den Westen,
lebte in Frankfurt und Wien und zum Schluss noch
in Kairo, weil sie sich in einen Ägypter verliebt hatte.
Sie war eine der erfolgreichsten Werberinnen Öster-
reichs, entwarf große Kampagnen für Radiosender
und Banken, gewann Preise auf der ganzen Welt. »Ich
hatte immer das Gefühl: Den Osten hast du hinter
dir«, sagt Steinert, »der bietet dir nichts, da gibt es
nichts mehr für dich.« Mit Ende 30 hatte sie drei
Kinder und trennte sich von ihrem Ehemann. Und
plötzlich entdeckte sie eine Sehnsucht: danach, heim-
zukehren. Und das tat sie, 2010.
Ostdeutsche Politiker setzen große Hoffnun-
gen auf Menschen wie Andrea Steinert. Wenn
Frauen wie sie (am besten mit Kindern) jetzt wie-
der in den Osten kommen, in die alte Heimat –
dann sind das jene Arbeitskräfte, jene Bürger, die
der Osten so dringend braucht.
Dabei ist die Rückkehr, findet Steinert, für
beide Seiten schwer – für die Rückkehrer und für
jene, die zu Hause geblieben sind. »Die Rückkeh-
rer haben sich komplett verändert in der Zeit, in
der sie weg waren«, sagt Steinert. »Vor allem aber
hat sich die alte Heimat verändert. Da ist auch
nichts mehr wie damals, als wir gegangen sind.
Wieder anzukommen war ein schmerzhafter Pro-
zess.« Mit den Menschen, die man seit 20, 25
Jahren kannte, gab es plötzlich keine gemeinsame
Ebene mehr; Freundeskreise drehten sich kom-
plett. Steinert stellte fest: Am besten verstehe ich
mich jetzt mit Leuten, die ebenfalls zurückgekehrt
sind. »Rückkehrer ähneln einander, die sind en-
thusiastischer, haben die Welt gesehen, wollen hier
was bewegen, etwas aufbauen.« Wie sie.
Dennoch: Ihr neuer Mann ist einer, der nach der
Wende hiergeblieben ist. Mit ihm hat sie in Marien-
berg einen riesigen Hof gekauft und saniert, ein Teil
der Gebäude ist vermietet, in einem anderen befindet
sich Steinerts Agentur, mit der sie anderen Unter-
nehmern helfen will, originelle Ideen zu vermarkten.
Eine Studie des Leibniz-Instituts für Länder-
kunde besagt: Rückkehrer in den Osten nehmen
verringerte Karriere- und Verdienstchancen in
Kauf, denn sie kommen vor allem, weil sie zurück-
wollen zu Familie und Freunden. Sie sind keines-
wegs im Westen gescheitert, sondern kommen mit
dem Stolz derer, die es auch in der Fremde schaf-
fen. Allerdings wäre es illusorisch, sich von ihnen
allein die Lösung aller Probleme zu erhoffen.
Die Rückkehr in den Osten sei kein Massen-
phänomen, sagen die Leibniz-Forscher. Die Er-
fahrung zeige, dass nur ein Sechstel der Abwande-
rer wiederkomme. Und je länger jemand abwesend
sei, umso wahrscheinlicher bleibe er für immer
weg. Wer in den Neunzigern gegangen ist, kommt
vermutlich nie wieder. Und wenn doch, dann als
Rentner und nicht als Motor der Innovation.
Trotzdem: 2017 wanderten erstmals 3997 Men-
schen mehr aus dem Westen in den Osten als aus dem
Osten in den Westen. Die innerdeutsche Migrations-
bilanz hat sich – ganz zaghaft – umgedreht.
Andrea Steinert hält jene Ostdeutschen, die im
Westen gelebt haben – und jene Westdeutschen,
die im Osten gelebt haben oder leben –, nun für
die wahren Architekten der Einheit. »Wenn wir
darüber sprechen, was wir im Westen erlebt haben


  • und die Hiergebliebenen darüber sprechen, was
    sie im Osten erlebt haben –, dann erst kommen
    wir voran.« 30 Jahre nach dem Mauerfall könnte
    es nun an der Zeit sein, endlich über alles zu reden.
    Frau Steinert hat damit begonnen.


Mitarbeit: August Modersohn und Martin Debes

S


pätestens seit 2015 wird in Deutschland
viel über Zuwanderung geredet: über
Flüchtlinge, Asylbewerber, Obergrenzen.
Wenig dagegen über die vielen Menschen,
die aus der Bundesrepublik auswandern, darunter
jährlich Hunderttausende deutsche Staatsbürger.
Im vergangenen Jahr zählte das Statistische
Bundesamt etwa 1.185.000 sogenannte Fortgezo-
gene (2017 waren es ähnlich viele). Der größte Teil
davon – rund 885.000 – waren Ausländer, von
denen wohl wiederum die meisten in ihre Heimat-
länder zurückkehrten. Aber auch 262.000 Deut-
sche verlegten ihren Wohnsitz aus der Bundes-
republik ins Ausland. Auf der anderen Seite waren
unter den 1,585 Millionen Zuwanderern knapp
202.000 deutsche Rückkehrer.
Auswanderer gab es immer, ihre Geschichten
faszinieren die Menschen und füllen Reality-TV-
Dokumentationen. Allein – wie viele Deutsche
ihr Land in den vergangenen Jahrzehnten verlas-
sen haben, kann das Statistische Bundesamt nicht
genau sagen. Erst seit 2016 werden die Zahlen
von Ein- und Auswanderern flächendeckend er-
fasst. So gilt nunmehr jeder Deutsche, der sich
bei seinem Einwohneramt abmeldet und sich da-
nach nicht wieder in der Bundesrepublik anmeldet,


als ausgewandert. Das führte dazu, dass sich 2016
die Zahl der fortgezogenen Deutschen gegenüber
2015 verdoppelte. Auch wenn es sich wahr-
scheinlich vor allem um einen statistischen Ef-
fekt handelt: Ein zeitlicher Vergleich wird da-
durch erschwert.
Aber wer sind die Auswanderer? Ziehen nur die-
jenigen fort, von denen man dies erwarten würde, also
Auslandsstudenten, Ärzte, Akademiker und Ange-
stellte weltweit tätiger Konzerne? 2015 befragten das
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) und
die Universität Duisburg-Essen 800 deutsche Aus-
wanderer und etwa ebenso viele Rückkehrer. Deren
Hauptzielländer waren die Schweiz, die USA,
Österreich, Polen, Großbritannien und andere
Länder der Europäischen Union.
72 Prozent gaben als wichtigstes Motiv für die
Ausreise an, dass sie neue Erfahrungen sammeln
wollten (wobei es erlaubt war, mehrere Gründe an-
zugeben). Gut zwei Drittel folgten neuen beruf-
lichen Herausforderungen, die Hälfte gab familiäre
Gründe an. Das Einkommen spielte für knapp
47 Prozent eine Rolle, 41 Prozent sagten, dass sie
mit dem Leben in Deutschland unzufrieden waren.
17 Prozent gingen wegen einer Ausbildung oder
eines Studiums ins Ausland.

Oft zogen Auswanderer irgendwann zurück nach
Deutschland, die Forscher sprechen von einem »ten-
denziell zirkulären Charakter« von Emigration und
Migration. Bei den Rückkehrgründen standen Fa-
milie oder Partner mit fast 64 Prozent ganz oben,
gefolgt vom Beruf (56 Prozent). Interessant ist: Auch
bei den Rückkehrern gaben gut 40 Prozent an, un-
zufrieden zu sein – nun allerdings mit dem Leben im
Ausland. Oft war der Auslöser banal: Für 22 Prozent
endete das Studium oder die Ausbildung, bei knapp
13 Prozent lief das Visum aus. Auffällig war, dass das
Einkommen für Rückkehrer ein deutlich geringeres
Motiv ist als für die Auswanderer.
Derzeit arbeiten BiB und Uni Duisburg-Essen
an einer (deutlich größeren) Neuauflage der Stu-
die. Dazu wurden in einer ersten Welle rund
11.000 Menschen befragt; die zweite Welle läuft,
wobei die Forscher die Auswanderer und Rück-
kehrer über einen längeren Zeitraum immer wie-
der befragen. Damit, sagt Nikola Sander, For-
schungsdirektorin für Migration am BiB, werde
man auch erstmals herausfinden, wie lange die
Deutschen im Ausland bleiben. »Da haben wir
noch eine echte Datenlücke.«
Auch ob die regionale Herkunft eine Rolle
spielt, zum Beispiel ob eher Ost- oder Westdeut-

sche ins Ausland gehen, muss noch detailliert un-
tersucht werden. Daten des Statistischen Bundes-
amts zeigen nur in der Tendenz, dass Ostdeutsche
etwas seltener ins Ausland emigrieren – und wenn,
dann eher nach Österreich oder in die deutsch-
sprachige Schweiz.
Ende des Jahres sollen die ersten Ergebnisse
veröffentlicht werden. Einiges zeichne sich be-
reits ab, sagt die BiB-Forscherin Sander. So gehe
es vielen Auswanderern in erster Linie gar nicht
um mehr Geld, sondern um das Neue, das Ande-
re. »Sie sind risikofreudiger, abenteuerlustiger.«
Auffällig sei zudem, in wie viele exotische Welt-
gegenden es die Deutschen ziehe. Jenseits der
Topziele wie der Schweiz oder den USA ziehe es
Menschen auch in kleinste afrikanische Länder
oder auf karibische Inseln. »Die Weltkarte, auf
der wir in unserem Institut die Wanderungs-
bewegungen abbilden, ist wirklich sehr bunt«,
sagt die Wissenschaftlerin.
Politische Gründe spielen bei Auswanderern
wie Rückkehrern kaum eine Rolle. »Die einzige
Ausnahme sind die Rückkehrer aus Großbritan-
nien«, sagt Sander. Von ihnen gibt ungefähr jeder
zweite an, wegen des drohenden Brexits zurück in
die Bundesrepublik zu ziehen.

Was die neue Studie bestätigen wird: Vor allem
Junge und Hochqualifizierte gehen. »Die große
Mehrheit hat einen sehr hohen Bildungsgrad«, sagt
Sander. Von den aktuell Befragten besäßen 63 Pro-
zent einen Bachelor, 13 Prozent einen Doktortitel.
Darunter befinden sich so einige Mediziner: Die
Bundesärztekammer erhebt seit Jahren selbst, wie
viele Kollegen ins Ausland wechseln. 2018 waren es
1941 – von denen allerdings 840 nicht aus
Deutschland stammen. Auch hier war das belieb-
teste Ziel mit großem Abstand die Schweiz.
Wissenschaftler verlassen Deutschland wegen
der oft nur befristeten Verträge an hiesigen Uni-
versitäten. Oder weil ihnen Länder wie die USA
bessere Forschungsmöglichkeiten bieten. Die
Hochschulrektorenkonferenz warnte mehrmals
vor einem Brain-Drain. Doch die Bundesregierung
gibt sich gelassen. Im November 2018 verwies sie
in der Antwort auf eine Bundestagsanfrage der AfD
darauf, dass bei Wissenschaftlern das Verhältnis
von 81.656 Einreisenden zu 85.857 Ausreisenden
»nahezu ausgeglichen« sei.
2018 befragte das Meinungsforschungsinstitut
Yougov übrigens gut 2000 Deutsche, ob sie gerne
für eine Weile oder für immer im Ausland leben
wollten. 55 Prozent von ihnen antworteten mit Ja.

Jedes Jahr verlassen mehr als eine Million Menschen die Bundesrepublik VON MARTIN DEBES


Tschüss, Deutschland!


TITELTHEMA: WARUM WIR UNS NICHT MEHR VERSTEHEN


Siehe auch die Infografik zu noch bestehenden
Unterschieden zwischen Ost und West auf Seite 30


  1. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 35 WISSEN 29

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