Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 35


D


a sitzt er, Hemd aus der Hose, ver-
schwitzt und fahrig. Arme mal überm
Kopf, mal dahinter. Der ungepflegte
glatzkopf fährt kurz aus der Haut,
gibt schneidige Kommandos und ver-
schwindet in einer Abstellkammer.
Dort brütet er vor sich hin. Hört er
stimmen? Zurück im Büro, nimmt er einen Filzstift und
ergänzt ein Plakat um ein einziges Wort: back. Auf dem
Plakat steht nun »Take back control«.
Der verrückte typ ist der fabelhafte schauspieler Bene-
dict Cumberbatch im Film Brexit: The Un civil War. Er spielt
dort den Mann, ohne den es den Brexit nie gegeben hätte –
jenen diabolisch-geheimnisvollen Dominic Mckenzie Cum-
mings, der mit einer faustdicken Lüge die Vote Leave- Kam-
pa gne gewonnen und großbritannien aus der Eu katapul-
tiert hat. toby Haynes, der Regisseur, muss nichts übertrei-
ben. Cummings (47) ist tatsächlich ein Besessener und ver-
folgt nur ein Ziel: Er will das politische system hacken und
das Virus der Re vo lu tion einschleusen, vorbei an der regie-
renden Klasse, den Bull shit tern, den Anzugträgern und
Kretins. Er bekämpft sie, wo immer er sie trifft, er zer-
quetscht sie mit Worten. Den ehemaligen Brexit-Minister
David Davis nannte er dumm wie Brot, dick wie eine Frika-
delle und faul wie eine Kröte.
umgekehrt werfen auch Cummings’ gegner nicht mit
Koseworten um sich. sie nennen ihn wahlweise »Karriere-
psychopath« (David Cameron), »verdammter Rasputin« (The
Guar dian) oder kurz »Arschloch« (Craig Oliver, der
Kampagnenleiter der Remainer). Lange Zeit hatten
sie gehofft, den Flegel end- lich losgeworden
zu sein, doch nun der schock: Er ist
wieder da.
Boris John-
son hat
ihn zu

seinem special advisor ernannt, der sogar an Kabinettssitzungen
teilnehmen darf. Mitarbeiter beschreiben seine Amtsführung
als terrorherrschaft, was in Cummings’ Ohren wie Musik
klingen wird. Die Verachtung, die ihm die Welt entgegen-
bringt, ist der Beweis seiner historischen unverzichtbarkeit.
gelegentlich wird Cummings mit stephen Bannon ver-
glichen, trumps ehemaligem Wahlkampfstrategen. Viel bes-
ser passt der Vergleich mit gianroberto Casaleggio, dem ver-
storbenen Mastermind der italienischen Bewegung Cinque
stelle. Mit ihm teilt Cummings den fanatischen glauben an
die digitale Re vo lu tion, an Wissenschaft und technik. und
wie Casaleggio fühlt er sich als Kämpfer für eine Zukunft
jenseits von links und rechts – als einer, der weiß, dass die
Zeit der alten Institutionen abgelaufen ist. Aus, vorbei.
Cummings’ Zukunftsglaube kam überraschend. Wie
Boris Johnson ist er von Haus aus Althistoriker und verließ
die universität Oxford mit Bestnoten. Dann ging der sohn
einer sonderschullehrerin und eines Projektleiters für Erd-
ölbohrungen ein paar Jahre nach Russland und wurde zum
intellektuellen Allesfresser. Er las die Bücher nicht, er stopfte
sie in sich hinein. Vor allem Mathematiker faszinieren ihn
maßlos, zum Beispiel genies wie John von Neumann. Aber
auch strategen wie sun sunzi (»siegen, ohne zu kämpfen«),
Clausewitz oder Bismarck empfiehlt er dringend zur Lektüre.
Alte Ware, aber gerade topaktuell.
Nur Philosophen mochte Cummings nie besonders, abge-
sehen von Leibniz und Nietzsche. Warum? Weil sie mit ihren
antiquierten gedanken Politikerhirne infiziert hätten. Ob Kon-
servative, Liberale oder sozialisten – ihre Programme seien mit
alter philosophischer tinte geschrieben, aus ihnen ströme der
Muff aus der Welt von gestern. Doch der Westen brauche einen
neuen, einen revolutionären geist: den von Kybernetik, Infor-
matik, Mathematik, Ökonomie, Quantenmechanik, Physik,
Robotik, Verhaltensgenetik und Ko gni tions wis sen schaft.
Diese Wissenschaften haben die Welt bislang nur verschieden
interpretiert. Jetzt kommt es darauf an, sie zu verändern.
Cummings tut immer ganz geheim, doch seine Ziele liegen
offen zutage, beispielsweise in einem Elaborat über »Erziehung
und politische Prioritäten«. Entscheidend ist darin die Frage:
Wer macht’s? Wer zündet die szientistische Re vo lu tion? Die
Europäische union jedenfalls nicht, sie erinnert Cummings an
die Ming-Dynastie kurz vor ihrem Fall. Die Eu werde an ihrer
Währung zerbrechen, vi sions los treibe sie vor sich hin, rolle
Megakonzernen den roten teppich aus und sei unfähig, auf
Digitalisierung und Klimawandel zu reagieren. Also bleibt
nur ein Held übrig, der die neue Epoche der Weltgeschichte
einleitet, nur das Vereinigte Königreich. und so wie Perikles
einst Athen zur schule griechenlands gemacht habe, so
könne großbritannien »zur schule der Welt werden«.
Marina Hyde, die hinreißend unverfrorene Kolumnis-
tin des Guar dian, hat sich angesichts von Cummings’ ge-
dankengestrüpp gefragt, ob sich tief unten eine »Bedeutungs-
prinzessin« verbirgt oder ob der schlossgärtner bloß zu faul
war, die Zweige wegzuräumen. Man kann sie beunruhigen:
Es gibt im undurchdringlichen Dickicht ein heimliches Zen-
trum, und zwar die Idee der technopolis, also einer gesell-
schaft, in der sämtliche Probleme durch Einsatz von Exper-
tenwissen gelöst werden. Kapitalismus plus Wissenschaft heißt
Cummings’ sanierungsprogramm, und damit will er erst Eng-
land und dann die ganze Menschheit beglücken. Im Jahre
2050 werde sich die Weltbevölkerung bei zehn Mil liar den
Menschen stabilisieren, und neun Zehntel davon würden
ein Leben in Frieden und Wohlstand führen. Auch eine
gemeinsame Mondstation zur Förderung der Völkerver-
ständigung schwebt ihm vor. »Märkte und Wissenschaft
zeigen, dass einige Erfindungen besser funktionieren als
die herkömmliche Politik, die nicht in der Lage ist, lang-
fristige strategien und Verpflichtungen zu bewältigen.«
Wie viele Autodidakten, so malt Cummings gern mit brei-
tem Pinsel und liebt fugendichte Weltbilder. In seiner privaten
Kosmologie wird immer alles gut; die Evo lu tion stellt den
Menschen stets genügend neues Wissen bereit, um die Proble-
me, die durch die Anwendung von altem Wissen entstanden
sind, zu lösen. Der Kapitalismus, räumt er ein, strebt nicht von
sich aus nach einem gleichgewicht, doch es gebe immer genug
pro gnos ti sches Wissen, um Katastrophen wie den Beinahe-
Crash von 2008 vorherzusehen. Was dann noch an unbere-
chenbarem bleibt, zum Beispiel der Auf- und Abstieg großer
unternehmen, folgt – das glaubt er wirklich – dem Mu ta tions-
mus ter biologischer Arten. soziale ungleichheit findet Cum-
mings nicht gut und will sie durch an reiz opti mier tes Lernen
bekämpfen. Doch auch ungleichheit habe zum teil biologische
ursachen; sie wird, wie er unter Berufung auf seinen Lieblings-
genforscher Robert Plomin spekuliert, vererbt.
»technokrat im t-shirt« hat man Cummings genannt,
und in der tat fragt man sich, wofür er die Demokratie über-
haupt noch braucht, sofern er sie nicht gleich durch eine
Kombipackung aus systemtheorie, Neoliberalismus und digi-
taler Menschenführung ersetzen will. Doch damit er seinen
traum verwirklichen kann, benötigt er einen türöffner in die
Politik, und so wie Casaleggio und der Ex-Komiker Beppe
grillo zusammenfanden, so haben sich nun Cummings und
Boris Johnson gefunden. Der Clown und der technokrat
ergänzen sich perfekt. Johnson verwandelt die Politik in eine
Zirkusaufführung, während Cummings mit seinem Zauber-
trick, dem Data-Mining, die gefühle des Publikums dirigiert:
Wenn wir die gegenwart in trümmer legen, so tönt es, wird
sich die Zukunft wieder so anfühlen wie die Vergangenheit.
Erst nachdem die Akropolis zerstört worden war, erlebte Athen
sein goldenes Zeitalter. Cummings bewundert übrigens China.
Die Entscheidungsfindung sei »sehr effizient«.

http://www.zeit.de/audio

B


oris Johnson, der neue Premier der Briten,
hat, was häufig erwähnt wird, einen sati-
rischen Roman über den islamischen terro-
rismus mit dem aufreizenden Namen
72 Jungfrauen geschrieben und auch eine
unterhaltsame Churchill-Biografie. Weni-
ger bekannt ist hierzulande dagegen sein
Werk zur römischen geschichte mit dem titel The Dream
of Rome. Es erschien 2006 und wurde bislang nicht ins Deut-
sche übersetzt. Das sollte sich bei gelegenheit bitte ändern,
denn Johnson, ein Altertumsforscher, schreibt hier nicht
etwa die tausendste Abhandlung zum Aufstieg und Fall des
Imperiums. Nein, jedenfalls nicht nur. Er stellt sich bei die-
sem unternehmen eine noch heute sehr aktuelle Frage:
Warum war das Römische Reich über so viele Jahrhunderte
so erfolgreich und so attraktiv für andere Völker, und warum
gelingt es der Eu nicht, im gleichen Ausmaß eine solche
strahlkraft zu entfalten? Wer meint, vor 13 Jahren sei ein
glühender Europa-Feind am Werk gewesen, der sich ledig-
lich über die Eu-Normierung des zulässigen Krümmungs-
grads von gurken oder der zulässigen Lautstärke von staub-
saugern lustig macht, sieht sich während der Lektüre erstaunt
eines Besseren belehrt. Nicht dass spott fehlt, keineswegs,
dafür ist der Autor viel zu sehr in Pointen und herbe, gerne
auch schlüpfrige scherze verliebt. Aber das proeuropäische
Pathos, das dem Buch die ideologische Richtung weist, ist so
unmissverständlich wie überraschend. Johnson ist jedenfalls
ungemein fasziniert von jenen, die eine gemeinsame öko-
nomische und politische union zu verwirklichen suchen:
»Dies ist eine gewaltige Herausforderung, und man muss ein
ziemlich hartgesottener Euro-skeptiker sein, um nicht mit
Bewunderung für das, was sie erreichen wollen, erfüllt zu
sein. Nennen sie mich idealistisch, aber ich denke, es wäre
eine wunderbare sache, wenn die Menschen in Europa in
der tat den gleichen geist und Willen hätten.«
Zwar hält es Johnson für unwahrscheinlich, dass dies
rasch gelingen dürfte, aber von Austrittsgelüsten findet sich
in diesem Buch keine spur. Im gegenteil: Das Buch gipfelt
in einem emphatischen Aufruf, doch endlich die türkei in
die Eu zu lassen. Man muss an dieser stelle etwas aus-
führlicher zitieren, weil es so schön und so lustig ist:
»Wir wären verrückt, die türkei abzulehnen, die nicht
nur das ehemalige Kernland des Römischen Reiches
war, sondern auch, wie ich sehe, heute einer der füh-
renden Lieferanten britischer Kühlschränke ist. Al-
lein ein einzelnes türkisches unternehmen hat
einen Anteil von 15 Prozent am britischen Kühl-
schrankmarkt. Denken sie an all diese tür-
kischen Kühlschränke, die über die Pässe des
Balkans nach Deutschland und großbri-
tannien donnern. (...) Eines tages, wenn
wir uns mit der türkei geeinigt haben,
könnten wir die gesamte alte harmo-
nische union rund um das Mittelmeer
wieder aufbauen, die reiche und freie
Verbreitung von Erzeugnissen (...)
von der straße von gibraltar bis
zum Bosporus; von tunis nach
Lyon.« Das könnte, sagen wir,
Claudia Roth nicht prachtvol-
ler sagen, und, Freude, schö-
ner götterfunken!, worum es
Johnson geht – wir sind im
letzten Absatz des Buches –,
ist die Erschaffung eines
wahrhaft multikulturellen
Friedensprojekts: »Einer der
gründe, warum das römi-
sche system so lange so gut
funktionierte, war, dass
unterschiedliche Rassen
und Religionen eher
eine Frage der Neugier und
des Respekts als eine Frage der
Paranoia waren. Das ist ein traum,
den es zu beleben lohnt.«
Dass Johnson so sehr von der türkei beseelt ist, liegt
nicht nur an seiner Herkunft. Es scheint phänotypisch un-
wahrscheinlich, aber es ist verbürgt, dass Johnsons urgroß-
vater väterlicherseits ein türke namens Ali Kemal war, kurz-
zeitig sogar der Innenminister des Osmanischen Reiches.
Wenn die türken in die Eu kämen, wäre nicht nur die
Herkunft Johnsons gewissermaßen harmonisiert, sondern –
folgt man seinem Buch – auch der große Riss beseitigt, der
durch Europa seit der Reichsteilung von 395 geht, als sich
die Welt in ein Weströmisches und Oströmisches, heute
Byzantinisch genanntes Reich aufspaltete. Überhaupt wird
ja bei Johnson immer, und in diesem Buch ganz besonders,
groß und grob, erfrischend originell und erfrischend plump
zugleich gedacht: Die schmucklosen europäischen geld-
scheine werden mit den römisch-imperialen Münzen ver-
glichen, der anarchische Welthandel der Römer mit der
Normierungsfreude der Europäer, Vergils Aeneis mit dem
bürokratischen geist der Eu, die derzeit nur partikulare
Verbreitung der britischen gewürzpaste Mar mite mit
dem römischen garum, einer angeblich superleckeren
Fischsoße, die es einst im römischen Britannien wie in
Konstantinopel als auch in Nordafrika gab. Kurzum, es
geht um majestätische größe, Zusammengehörigkeit
und Pomp – und klar, all dies kann die Eu nicht lie-
fern. Dass der Eu-Rom-Vergleich schief und krumm
ist – trotz zahlreicher, süffiger Bildungsreferenzen –
und im ganzen Buch, um es in einer Wendung von

Kleist zu sagen, Wissenschaft und Irrtum geknetet, innig,
wie ein teig, zusammenliegen, macht die Lektüre zum frivo-
len Vergnügen.
und man fragt sich natürlich, was diesen Johnson, der
so herrlich pathetisch und fröhlich spöttisch, aber ziemlich
zukunftsfroh über die Eu dachte, zum entschiedenen Bre-
xiteer werden ließ. Noch vor 13 Jahren wünschte er sich
nichts mehr als europäische Einheit, Frieden und toleranz.
Warum der stimmungswandel? War es die Entfremdung
der Eu von der türkei, die so dramatisch zugenommen
hat, dass er sich um seine orientalische Herkunft betrogen
sah? Man darf das genealogisch unbewusste ja nie unter-
schätzen. Oder waren es nackte Machterwägungen, das
machiavellistische Ergreifen einer gelegenheit, um sich an
die Macht zu putschen, what ever it takes?
Im Jahr 2016, nachdem er sich der Leave-Kampagne an-
geschlossen hatte, gab Boris Johnson dem Telegraph ein auf-
sehenerregendes Interview, in dem er auf verquere Weise auf
sein Rom-Buch verwies; verquer, weil er seine Eu-Freundlich-
keit von einst glatt unterschlug. seit tausenden von Jahren,
sagte er, habe es Versuche gegeben, Europa zu vereinigen,
Napoleon habe es versucht, auch Hitler (sic!) – vergeblich. so
werde es auch der Eu ergehen, wegen eines ewigen Problems:
Es gebe heute keine denkbare Autorität, der sich alle unter-
werfen wollten. und das erzeuge eine demokratische Leere.
Das ist nun nicht britisch-pragmatisch, sondern ganz
groß, ganz in welthistorischen Maßstäben gedacht, regel-
recht deutsch-hegelianisch. Es fehlt ja Johnson zufolge
offenbar ein »Weltgeist zu Pferde«, um den Kontinent
zu einen. und da so jemand gerade nicht zur Hand
ist und er, nur so nebenbei, vielleicht so wün-
schenswert auch nicht ist, muss man die Eu ver-
lassen, um den ganzen globus kapitalistisch zu
erobern. so ist das also, wenn man Althistori-
ker Politiker werden lässt, und Politiker Alt-
historiker.

http://www.zeit.de/audio

FEUILLETON 35


Wenn Althistoriker die


Welt aufmischen


Boris Johnson hat 2006 ein Buch über das antike Rom geschrieben. Er beschwört


darin ein geeintes Europa. Wie kann das sein? VON ADAM SOBOCZYNSKI


Dominic Cummings, wie Johnson ein Altertumsforscher, hat die Brexit-Kampagne


organisiert. Jetzt ist er Berater des Premiers. Was treibt ihn an? VON THOMAS ASSHEUER


Illustration: Jules Julien für DIE ZEIT/wildfoxrunning


Welche Vision
verbirgt sich hinter
dem britischen
Premierminister?
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