Die Zeit - 22.08.2019

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36 FEUILLETON 22. August 2019 DIE ZEIT No 35


Die »Versifften« wehren sich


Vor den Landtagswahlen in Ostdeutschland hat die AfD den angeblich vom Multikulturalismus durchsetzten Theatern


den Kampf angesagt. Doch die halten dagegen – mit ihren ganz eigenen Mitteln VON PETER KÜMMEL


M


anche sätze wirken erst
durch ihren Nachklang.
Der AfD-Kulturpolitiker
Marc Jongen hat schon
im Januar 2017 gesagt, er
freue sich auf den Mo-
ment, da seine Partei an
einer Regierung beteiligt sein werde und er die
»Entsiffung« des Kulturbetriebs in Angriff neh-
men könne. Am 1. september 2019 wird in zwei
ostdeutschen Bundesländern gewählt, in sachsen
und Brandenburg, und am 27. Oktober zieht
thüringen nach. Die dortigen theater fürchten,
Jongen könne der Erfüllung seines Wunsches
recht nahe kommen: Die Prognosen stehen güns-
tig für die AfD. schon seit einiger Zeit versucht
diese Partei, den theaterbetrieb zu verunsichern:
mit parlamentarischen Anfragen, mit Anzeigen
gegen einzelne Häuser, mit der Drohung, die
Kulturförderung zu hinterfragen und unliebsa-
men theatern die Zuschüsse zu kürzen oder ganz
zu streichen.
Aber zurück zum Kampf gegen die Versif-
fung. Was ist mit Jongens Ansage gemeint?
Wenn man davon spricht, etwas sei »versifft«, so
suggeriert man, es sei in einem für die Allgemeinheit
bedrohlichen Maß verdreckt. Das Wort leitet sich
von der syphilis ab, einer geschlechtskrankheit,
und man darf Jongen unterstellen, dass er, der
Kulturpolitische sprecher seiner Partei, ein sprach-
bewusster Redner ist und diese Konnotation mit-
gemeint hat: dass nämlich im deutschen Kultur-
betrieb einer den anderen lustvoll und besinnungs-
los anstecke mit demselben gehirnerweichenden
linken geist. Dieser geist ist, in der sprache der
AfD, die »Ideologie des Multikulturalismus«, wel-
che als »ernste Bedrohung für den sozialen Frieden
und für den Fortbestand der Nation« einzustufen
sei. Demgegenüber formuliert das Landeswahl-
programm der AfD von sachsen-Anhalt folgende
Maxime: »Museen, Orchester und theater sind in
der Pflicht, einen positiven Bezug zur eigenen Hei-
mat zu fördern. Die Bühnen des Landes sollen
neben den großen klassischen internationalen
Werken stets auch klassische deutsche stücke
spielen und sie so inszenieren, dass sie zur Identifi-
kation mit unserem Land anregen.« Hans-thomas
tillschneider, Islamwissenschaftler und AfD-
Abgeordneter im Landtag von sachsen-Anhalt, sagt
es so: »Wenn wir eine starke theaterkultur wollen,
brauchen wir also zuerst eine starke Nationalkultur.«
Die »Versiffung« des deutschen Kultur- und
theaterbetriebs zeigt sich dieser Logik zufolge wo-
möglich schon in der physischen, konkret: interna-
tionalen Zusammensetzung der Ensembles (na-

mentlich im Musiktheater- und tanzbereich). Es
liegt nahe, bei diesem Wort auch an eine parlamen-
tarische Anfrage zu denken, welche die baden-
württembergische AfD-Landtagsfraktion im Juni
2019 im stuttgarter Landtag einbrachte. Die AfD
forderte Auskunft darüber, wie viele tänzer, schau-
spieler, sänger und Musiker der staatstheater stutt-
gart keinen deutschen Pass haben – als sei mit der
Frage ein erster Beitrag zur »Entsiffung« schon
geleistet. und als sei die aggressive Energie von
Alexander gaulands satz »Wir werden sie jagen!«
probehalber auf den windstillen Korridoren der
stuttgarter Administration losgelassen worden.
Marc grandmontagne, der Direktor des Deut-
schen Bühnenvereins, spricht am telefon von einer
zunehmenden Härte der Auseinandersetzungen
zwischen theatern und rechten Kräften. Was tun?
Man müsse »gefährliche Begegnungen« zulassen,
so grandmontagne, das Wegducken helfe so wenig
wie das Ignorieren oder Dämonisieren der radikal
rechten Bevölkerungsteile.
Wie bereiten sich nun die Bühnenkünstler auf
die Wahlen in Ostdeutschland vor? Was erwarten
sie? Wir haben einige Intendanten im Osten gefragt.
Reise nach Eisenach (thüringen). Dort sitzen
seit den jüngsten Kommunalwahlen vier NPD- und
vier AfD-Vertreter im stadtrat. Aber ihnen gegen-
über sitzt, als stadtrat der Linken, auch der Inten-
dant des örtlichen theaters, Andris Plucis. Regiert
wird die stadt von einer Oberbürgermeisterin der
Linken, und die Linke ist die stärkste Partei im
stadtrat. Plucis ist ein optimistischer, weltläufiger
Mann mit deutschem und britischem Pass, der seit
zehn Jahren in Eisenach wohnt und dessen tochter
in einem stadtteil mit hohem NPD-Wähleranteil
zur schule geht. Er sagt, er lebe gern hier und wer-
de vielleicht auch nach Ende seines Arbeitslebens
bleiben; politisch sei er eindeutig links, aber er
müsse es nicht dauernd herauskehren.
Die Eisenacher tanzcompanie vereine tänzer
aus aller Welt, etliche davon schwul – »insofern für
Rechte das Feindbild schlechthin«, sagt der ausgebil-
dete Choreograf und tänzer Plucis, »aber ohne
Ausländer im Ballett bekommt man kein Ensemble
mit einer gewissen Qualität zusammen«. Es gebe in
Eisenach ein starkes Bürgertum, das diesen Zu-
sammenhang verstehe und auf dessen Engagement
er sich immer habe verlassen können. Persönliche
Anfeindungen habe er nie erlebt. Plucis: »Es kann
sein, dass ich in zwei Jahren sage: scheiße, jetzt ist
es hier gekippt. Aber ich werde immer dafür kämp-
fen, dass es nicht passiert.«
Weiter nach sachsen. Christoph Dittrich,
generalintendant der städtischen theater Chem-
nitz, hat die schwere Aufgabe, in einer durch die

Ereignisse des vergangenen sommers zerrütteten,
ja gespaltenen stadt theater für alle zu machen. Zur
Erinnerung: Am 26. August 2018 wurde ein Deut-
scher während des Chemnitzer stadtfestes ersto-
chen, der tat verdächtigt wurden ein syrer und ein
Iraker (bewiesen ist deren schuld bis jetzt nicht),
woraufhin es zu heftigen fremdenfeindlichen
Demonstrationen, aber auch zu starken bürger-
lichen und linken gegenaktionen kam.
Auch Dittrich sagt, es habe gegen ihn und
sein Haus keine persönlichen Angriffe gegeben.
Zwar mache man sich manchmal gedanken, ob
man People of Color des Ensembles nachts gewisse
Wege durch Chemnitz allein gehen lassen solle,
aber es sei nie etwas passiert. Im gegenteil hätten
die geschehnisse in der stadt auch Widerstands-
geist geweckt, es gelte, Haltung zu zeigen: »Das
Wichtigste, was wir tun, zeigt unser spielplan:
Darauf stehen Hamlet, Heiner Müller, Fidelio –
es ist ein einziger humaner Appell zur Offenheit
und Differenzierung.«
Hält er für möglich, dass eine rechte Regie-
rung mittelfristig seine Arbeit bedroht? »Wir
theaterleute stecken in festen strukturen, die
sukzessive angegriffen und ausgehöhlt werden
könnten. Das müssen wir verhindern. Ein An-
griff auf die Kunstfreiheit wäre ein Desaster.«
Dann sagt er noch: Etwa 25 Prozent der Men-
schen in seiner stadt hätten im Frühjahr AfD und
Pro Chemnitz gewählt. und natürlich frage er sich:
Wer steht einem da im Zweifelsfall gegenüber? so
bleibe nur eins: »Den Dialog suchen. Nie sagen: Ihr
seid die Falschen. Wohin soll das denn führen?«
Der generalintendant des Weimarer National-
theaters, Hasko Weber, hat einen guten Überblick
über die deutsche theaterlandschaft. Er war näm-
lich, ehe er nach Weimar ging, acht Jahre lang
schauspielchef in stuttgart: »2013 habe ich stutt-
gart verlassen. 2014 zog die AfD überraschend in
den baden-württembergischen Landtag ein. Ich war
fassungslos, weil ich diese Entwicklung in keiner
Weise wahrgenommen hatte. War ich blind? Das
treibt mich immer noch um.«
und wie schätzt er die Lage in Weimar ein? »Das
Deutsche Nationaltheater hat 400 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter und ist international besetzt.
Integration ist für uns selbstverständlich. Dafür
stehe ich auch persönlich. Wir arbeiten dafür, dass
Deutschland weiterhin zu den weltweit maßgeb-
lichen Demokratien gehört.«
Andererseits: »Weimar ist liberal und gehört
sicher nicht zu den Zentren rechter Ideologie, aber
wie die kommunalen Wahlergebnisse zeigten, teilen
viele Menschen im grundverständnis Positionen,
die vor allem von der AfD markiert werden. Inso-

fern unterscheidet sich Weimar nicht von anderen
städten und Regionen. Alle Facetten aktueller
politischer Diskurse sind auch hier wahrnehmbar.
Dazu gehören leider auch nationalistische und
rassistische Muster.«
Was kann man gegen solche Muster tun? Man
müsse, sagt Weber, als Künstler lesbar sein, man
müsse sich stellen, man müsse erkannt werden in
seinen Positionen – denn verstecken könne man
sich nicht: »Vor ein paar Jahren war noch klar: Mit
gewissen ideologischen Kräften darf es keinen Dia-
log geben. Es gab Lager, mit denen man nicht redete.
Das schließt sich heute aus. Die Auseinandersetzung
zu verweigern schadet unserer gesellschaft.«
Was hat sich noch verändert?
»teile des demokratischen Konsenses, die man
früher als selbstverständlich voraussetzen konnte,
muss man jetzt begründen und rechtfertigen. Man
muss sie neu erstreiten: Was bedeutet die Freiheit
der Kunst? Warum ist sie im grundgesetz verankert?
Es scheint an der Zeit, plausibel für die Wichtigkeit
dieses grundrechts zu argumentieren.«
Noch einmal zurück nach stuttgart. Nach-
dem die AfD dort mittels parlamentarischer An-
frage Aufschluss darüber erhielt, wie viele der
rund 1400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
staatstheater stuttgart nicht deutscher Abstam-
mung sind, war die Empörung groß. Der Perso-
nalrat der staatstheater, Klaus schrankenmüller,
stellte auf einer öffentlichen Veranstaltung die
AfD-Anfrage in folgenden Zusammenhang:
»solche Listen, auf denen Menschen in Deutsche
und Nichtdeutsche eingeteilt wurden, gab es vor
80 Jahren schon einmal.«
Wer solche Daten sammele, suggerierte der
Personalrat, wolle sie auch nutzen. Das mag ein
drastischer schluss sein. Aber unplausibel ist er
nicht. Vor allem dann nicht, wenn man das
theater politische Vokabular der AfD – theater-
kultur muss die Nation stärken; Bühnenensembles
haben dem Kernvolk vorzuführen, was es emp-
finden soll – mit den Argumentationsmustern der
deutschen theaterkritik nach 1933 vergleicht.
und grundsätzlich immer dann, wenn Nicht-
künstler sich berufen fühlen, Künstlern den Zweck
ihrer Kunst vorzuschreiben und sich Einblick in
ihre Biografien zu verschaffen, herrscht grund zur
sorge – und zwar zur sorge für das gesellschaft-
liche ganze. Die Kulturszene ist insofern ein
Warnsystem, da sie früher als andere systeme an-
gegriffen und zur Disposition gestellt wird. sie er-
innert darin, pathetisch gesagt, an die singvögel,
die Bergleute einst mit in die grube hinab-
genommen haben, da sie wussten: Wenn die nicht
mehr singen, wird es für alle bedrohlich.

Szene aus dem Theaterstück »Fear« an der Berliner Schaubühne. Darin ist auch ein Foto von Beatrix von Storch zu sehen, was die AfD-Politikerin – ohne Erfolg – gerichtlich verbieten lassen wollte

A


ls Recep tayyip Erdoğan Bürgermeister
von Istanbul wurde, bestellte er Busse von
Mercedes anstelle solcher der ungarischen
Marke Ikarus. »Zu meinen Mitbürgern passt Mer-
cedes, dachten wir, da haben wir den ersten Mer-
cedes-Bus nach Istanbul geholt«, rühmte er sich
Jahre später und scherzte: »Wir bekommen sicher
eine Kommission von Mercedes, weil wir Reklame
für sie machen.«
Was er sagte, stimmte nicht ganz, der erste Bus
von Mercedes kam bereits 1955 nach Istanbul, da
war er gerade ein Jahr alt. Als Erdoğan dann Pre-
mierminister wurde, ließ er zehn Mercedes im
Wert von 1,5 Millionen Euro für sein Amt an-
schaffen. Einen s600 ließ er restaurieren und
wählte ihn als Dienstwagen. Als die Opposition
Kritik am ständig wachsenden Mercedes-Fuhrpark
übte, hielt er dagegen: »Die fahren ja selbst alle
Mercedes. Heute ist es kein Luxus mehr, Mercedes
zu fahren.« Der letzten Inventur zufolge stehen
Erdoğan derzeit 268 Wagen zur Verfügung. Mer-
cedes ist zwar immer noch der beliebteste Dienst-
wagen des staatspräsidenten, allerdings hatte sich
die Anzahl der Volkswagen erhöht. Bei der Zäh-
lung standen 33 Mercedes und 83 VWs im Palast.
Warum ich das erzähle? Als Erdoğan letzte
Woche den Vorsitzenden des taxifahrerverbands
empfing, kündigte er an, VW werde in der türkei
eine Fabrik bauen: »Im Anschluss an diese Investi-
tion bekommt ihr alle Volkswagen. Wir bitten VW,
ein sondermodell für euch herzustellen.« Bis dahin
war bekannt, dass VW für seine neue Fabrik noch
zwischen der türkei und Bulgarien schwankte. In
Bulgarien seien zwar Arbeitskräfte günstiger, aber
Ankara habe, um die Investition ins Land zu holen,
alle Forderungen des Konzerns akzeptiert und
staatliche garantien für die
Verträge geboten, hieß es.
Das heißt natürlich nicht,
dass Erdoğan jetzt die Marke
Volkswagen bevorzugt, viel-
mehr braucht er die Investiti-
on in ökonomischer wie in
politischer Hinsicht. schließ-
lich ist es nicht leicht, Inves-
toren für ein Land zu finden,
in dem das Regime den
Rechtsstaat mit Füßen tritt
und für dessen Zukunft politische ungewissheit
und Wirtschaftskrise drohen. gelingt es ihm,
Volkswagen zu holen, kann er das benutzen, um
sein Regime zu rehabilitieren und weitere unter-
nehmen anzuziehen.
Als die Pläne von Volkswagen in Deutschland
politisches unbehagen auslösten, sah sich der
Ministerpräsident von Niedersachsen, das 20 Pro-
zent der VW-Aktien hält, gezwungen zu erklären,
die Entscheidung sei noch nicht gefallen. »Wie
auch immer diese Entscheidung ausfällt, es wird
eine wirtschaftliche Entscheidung und keine poli-
tische Aussage sein«, betonte stephan Weil. Aller-
dings weiß auch der sozialdemokrat Weil, der zu-
dem im VW-Aufsichtsrat sitzt, dass die »wirt-
schaftliche« Entscheidung bedeutende politische
Konsequenzen haben wird. Es wird der Eindruck
entstehen, Volkswagen investiere weniger in ein
Land als vielmehr in ein Regime.
Leicht verständlich ist, dass die türkische Re-
gierung nach Investoren sucht und ausländische

Investoren auf billige Arbeitskräfte, große Märkte
und Profite mit staatsgarantie aus sind. schwer
fällt es allerdings, den garantien eines Regimes zu
glauben, wenn man sieht, wie es im Inland den
Rechtsstaat missachtet. Würden potenzielle Inves-
toren Rechtsstaatlichkeit statt ökonomischer ga-
rantien fordern, wäre das allerdings sowohl für sie
selbst wie auch für die Bevölkerung des Landes
von erheblichem Nutzen.

Aus dem türkischen von Sabine Adatepe

MEINE
TÜRKEI (154)

Erdoğan will


Vo l k s w a g e n


Der Abschied von seiner bisherigen
Lieblingsmarke Mercedes hat ein
politisches Ziel VON CAN DÜNDAR

Can Dündar ist Chefredakteur
der Internetplattform »Özgürüz«.
Er schreibt für uns wöchentlich über
die Krise in der türkei

Fotos (Ausschnitte): Eventpress/dpa; Andreas Pein/laif; Illustration: Pia Bublies für DIE ZEIT

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