Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1

D


ENTDECKEN


Es ist, als ob die Neo-Kreuzberger sagen: Euren


Lifestyle, den finden wir ganz fancy. Aber das mit der


Solidarität, das lassen wir lieber weg


en Trend »Gemüse aufessen« habe ich nicht
kommen sehen. Hätte man mir als Sechs-
jähriger gesagt, dass der Tag kommen wird,
an dem alle Leute ganz verrückt sind nach
Brokkoli, Radieschen und Grünkernbrat-
lingen, so verrückt, dass sie sogar ihr Ge-
müse fotografieren, ich hätte demjenigen
einen Vogel gezeigt. 1981 wohnte ich mit
meinen Eltern in einer großen Hausge-
meinschaft in der westdeutschen Provinz.
Mitbewohnerin Bine* hatte sich gerade
eine Körnermühle gekauft. Bei Gudrun*
nebenan gab es mittags Vollkornnudeln
und Möhren, die nicht aus der Dose ka-
men. (Für alle, die nicht dabei gewesen
sind: In den Siebzigern kannte man Gemü-
se – also Erbsen und Möhren – nur aus der
Dose, und wer sich die Arbeit machte, fri-
sches zu kochen, musste fanatisch sein. So
wie Gu drun, die in der Clique meiner El-
tern den Ruf einer Hardlinerin hatte.)
Meine Mutter hingegen kochte weiterhin
weiße Spaghetti mit roter Soße aus Dosen-
tomaten. Was zur Folge hatte, dass alle
WG-Kinder bei uns mitessen wollten und
Bine auf ihren Grünkernbratlingen und
Gudrun auf ihren Vollkornnudeln sitzen
blieb. Als Sechsjährige hätte ich daraus
folgern können, dass der Markt sich selbst
reguliert. Doch es sollte anders kommen.
Knapp vierzig Jahre später. Es ist wie in
einem schrägen Science-Fiction-Thriller:
Stell dir vor, du trittst eines Morgens auf die
Straße, und alle sehen aus wie deine Eltern.
Alle tragen die gleichen Jeans wie deine El-
tern und die gleichen Vollbärte, alle essen die
gleiche Vollwertkost, fahren die gleichen
Lastenfahrräder, die gleichen VW-Busse und
haben sogar die gleichen fucking Fjällräven-
Rucksäcke dabei. Damals waren diese Ruck-
säcke Trophäen aus einem überstandenen
Skandinavien-Zelturlaub; heute kannst du
sie bei Zalando bestellen.
Und gerade als du denkst, dass darin
irgendwo ein Hinweis versteckt sein könn-
te, zündet der Grusel die zweite Es ka la-
tions stufe: Diejenigen, die nicht aussehen
wie deine Eltern, sehen aus wie du selbst!
Sie tragen dieselben Bomberjacken, die du
als Vierzehnjährige angezogen hast, nach-
dem du den kratzigen Wollpulli deiner
Kindheit den Eltern vor die Füße geworfen
hast. Alle hören halb ironisch Hip-Hop
und tragen die entsprechenden Turnschuhe
dazu. Auf diesen berufsjugendlichen Ein-
heitslook können sich erschreckend viele
Leute einigen, ob Teenagertochter türki-
scher Einwanderer oder ergrauter Rechts-
anwalt. Dazu wollen alle plötzlich selbst-
bestimmt arbeiten und hängen mittags im
Café und abends mit einer Flasche Bier auf
den Bordsteinkanten rum. Alle!
Das ist der schräge Albtraum, in dem
ich mich gerade wiederfinde.
Es sind nicht alle so, komm mal raus
aus deiner linksgrün versifften Blase!, hör
ich da rufen. Und ihr habt recht, ich lebe
in einer Blase, und das schon lange: Kind-
heit in dieser Wohngemeinschaft, Jugend
in den unzähligen linksalternativen Kultur-
zentren in Bremen, ab Mitte der Neunzi-

ger habe ich dann das Epizentrum dieser
Blase als Wohnort gewählt, Berlin-Kreuz-
berg. Da lebe ich bis heute. Problem nur:
Ich finde den Ausgang nicht mehr, so sehr
hat sich diese Blase aufgebläht. Der grün-
individualistisch-hedonistische Lebensstil
scheint eine immense Sogwirkung zu ha-
ben. Sicherlich nicht auf alle, aber eben
auf viele. Die Ergebnisse der Europawahl
nähren meinen Wahn.
Ist doch schön, könnte man sagen. Alles
wird ein bisschen gesünder,
selbstbestimmter, umwelt-
bewusster, das tut auch
dem Klima gut. Und sogar
der junge BWL-Student,
der vor Jahren noch von
seinem Schlips drangsa-
liert, von seiner Ak ten-
tasche gebeugt und vom
Familienjoch geknechtet
wurde, dieser BWL-Stu-
dent sitzt jetzt mit seinem
Fjällräven-Rucksack und
einem Bierchen auf dem
Bordstein vor meiner
Haustür in der Abend-
sonne und fragt fröhlich:
So what?
Wenn du aus dem Haus
trittst, und plötzlich sehen
alle aus wie du und deine
Eltern, scheint das zu-
nächst nicht mehr zu sein
als ein crazy Selbsterfah-
rungstrip. Was ist, wenn
plötzlich alle Welt im Stra-
ßencafé draußen Cappuccino trinken will,
wie meine Eltern 1977 in der ersten italie-
nischen Eisdiele im Ort? Was ist, wenn
plötzlich alle das kalt gepresste Olivenöl
haben wollen, das 1983 aus dem Italien-
urlaub mitgebracht wurde? Was ist, wenn
plötzlich alle Avocados essen wollen? Was
ist, wenn alle Bulli fahren wollen? Was ist,
wenn sogar alle diese scheußlichen Outdoor-
klamotten haben wollen, die meine Eltern
in den Neunzigern für sich entdeckten? Die
beige Rentnerkleidung, die davor Standard
war, war wenigstens kompostierbar, weil
nicht aus Multifunktions-Kunstfasern.
Das ist immer noch kein Problem, nur
ein lustiges Gedankenspiel. Genauso lustig
wäre es, wenn plötzlich alle Welt aussehen
würde wie die Eltern anderer Leute. Alle
würden Kaffee mit Dosenmilch trinken
oder Dujardin im Cognacschwenker und
dann besoffen auf den Tennisplatz gehen
oder so. (So was machen zurzeit nur Mitt-
zwanziger, und das auch nur ironisch und
nur in Musikvideos.)
Aber wieso find ich’s nicht lustig? Was
brodelt da in mir, wenn ich beobachte, wie
eine Mutter im Berliner Graefekiez oder in
Hamburg-Ottensen, eine Mutter mit Bir-
kenstocks, ihrem Kind das Dinkelbrötchen
in den Kinderwagen reicht? Ich könnte
doch auch einfach denken: Süß, guck mal,
genau wie Gudrun früher. Doch ich muss
gestehen, wenn ich tief in mich reinhor-
che: Da ist nicht nur Liebe in mir. Irgend-

was in mir will dieser Frau vors Schienbein
treten. Würd ich nie machen, siehe pazifis-
tische Erziehung. Ich atme schwer und
gehe weiter.
Vielleicht ärgert mich, dass die Verspre-
chen meiner Kindheit gebrochen wurden.
Damals, als meine Eltern jung waren, und
neulich, als ich jung war, durften noch alle
mitmachen, die Lust dazu hatten. In den
Wohngemeinschaften meiner Eltern gin-
gen die unterschiedlichsten Leute ein und

aus. Es galt die stille Übereinkunft: Solan-
ge du dich von deinen Nazi-Eltern distan-
zierst, solange du die richtigen Jeans trägst
und den richtigen Parka, solange du die
richtige Musik hörst und solange du die
richtigen drei, vier Bücher im Regal stehen
hast, darfst du dabei sein. (Du musst sie
nicht gelesen haben, das kann ich bezeu-
gen. Ich habe meinen Vater so gut wie nie
lesen sehen, und er durfte trotzdem dabei
sein. Vielleicht weil er tolle Kindermöbel
bauen und Autos reparieren konnte.)
Und sogar was diese kulturellen Codes
betraf, wurde oft ein Auge zugedrückt. Bei
uns wohnte jahrelang eine Frau, die defini-
tiv die falschen Hosen trug und mit ihrer
falschen Frisur an der Supermarktkasse saß,
selbst gestochene Unterarmtattoos hatte und
mit ihren zwei Kindern vor ihrem prügeln-
den Mann geflohen war. Alle durften mit-
machen, auch die Türkin mit Kopftuch von
nebenan saß im Sommer mit am WG-
Gartentisch, weil meine Mutter auf ihre
kleine Tochter aufpasste, während sie ar-
beiten ging. Wie gesagt, das war 1981 in der
ostwestfälischen Provinz.
Und das ist der entscheidende Unterschied
zu damals: Das Versprechen »Alle dürfen mit-
machen« gilt nicht mehr. Die Birkenstocks
von der Frau mit dem Kinderwagen und dem
Dinkelbrötchen sind nur ein Paar von viel-
leicht dreißig Paar Schuhen, die sie zu Hause
hat, und ihr Kinderwagen kostet so viel wie
das gebrauchte WG-Auto meiner Eltern.

Früher wurden wir Kinder in selbst gestrickte
Pullover und billige Gummistiefel gesteckt.
Heute tragen die Kleinkinder in den links-
alternativen Stadtteilen dieser Republik
Outdoorklamotten, Wollwalk-Overalls und
skandinavische Schuhe im Wert eines Hartz-
IV-Monatssatzes. Damals fuhr man Bulli, weil
acht Personen mitfahren konnten, und man
wohnte mit fünf Erwachsenen und vier Kin-
dern in einer Sechszimmerwohnung. Heute
wohnt in der gleichen Wohnung eine Klein-
familie, und der Multivan-
Bulli ist teurer als ein Merce-
des S-Klasse. Damals durfte
jeder in Kreuzberg wohnen,
der keine Angst vor Klo auf
dem Gang, Ofenheizung
und Türken hatte. Heute
dürfen nur noch diejenigen
in Kreuzberg wohnen, die
das Geld dafür haben.
Ich heule nicht dem Aus-
verkauf eines Lebensstils
hinterher. So was passiert.
Was mich allerdings ankotzt,
ist, dass er äußerlich nach-
geahmt, aber innerlich aus-
gehöhlt wird. Es ist, als ob
die Neo-Kreuzberger sagen:
Euren Life style, den finden
wir ganz fancy, nur die Sache
mit dieser Solidarität, das
haben wir noch nie verstan-
den, das lassen wir mal lieber
weg. Die Dinkelmütter von
damals haben Kinderläden
und freie Schulen gegründet,
die Dinkelmütter von heute pirschen sich am
Kuchenstand auf dem Schulfest an die Direk-
torin ran, damit ihr Kind nicht nur auf die
beste Schule, sondern auch in die beste Klasse
mit der besten Lehrerin kommt. Damals warf
man mit drei, vier Familien die Miete für
einen baufälligen Bauernhof auf dem Land
zusammen, als Wochenendhaus. Heute stehen
sich Familien, die genauso aussehen wie die
von damals, als erbitterte Konkurrenten ge-
genüber, im Kampf um eine Datsche in der
Kleingartensiedlung.
Dass der Wind sich dreht, habe ich zum
ersten Mal vor ungefähr zwölf Jahren auf
einem Kreuzberger Spielplatz bemerkt.
Mein damals einjähriges Kind stritt sich mit
einem anderen Kind um ein Sandkasten-
Förmchen. Die Reflexe meiner eigenen Er-
ziehung funktionierten einwandfrei, doch
ehe ich sagen konnte: »Guckt mal, ihr könnt
doch zusammen damit ...«, rief die andere
Mutter (die genauso aussah wie ich) ihrem
Kind schon zu: »Jetzt lass dir doch nicht
immer jedes Spielzeug abnehmen! Setz dich
mal durch!« Ich blieb bestimmt zehn Minu-
ten mauloffen im Sand stehen.
Dass Durchsetzungsvermögen der neue
Kreuzberger Soft Skill ist, wurde mir in
den nächsten Jahren klar, als der Run auf
bezahlbare Altbauwohnungen, auf Kinder-
gartenplätze, Schulplätze, Parkplätze, Plät-
ze im Fußballverein, Plätze in der Musik-
schule und so weiter begann. Glück für
alle, die rechtzeitig ihr Durchsetzungsver-

mögen trainiert haben. Für alle anderen ist
das Leben eine Warteliste.
Kann sein, dass ich die Vergangenheit in
nostalgischem Licht sehe. Meine Mutter er-
innert mich immer wieder daran, dass in
unseren WGs auch viel gestritten wurde.
Doch ich glaube, dass das bisschen Streit
um Abwasch und Rasenmähen nicht halb
so schlimm für den Seelenfrieden war, wie es
das nagende Gift eines Lebens in chroni-
scher Wettbewerbsvorteilsverschaffung ist.
Mit grün im Sinne von umweltverträg-
lich hat das, was wir in Kreuzberg veran-
stalten, ohnehin schon länger nichts mehr
zu tun. Während Bine und ihre Freundin-
nen damals Yoga in der Volkshochschule
gemacht haben, fliegen Julia und ihre
Freundinnen ins Yoga-Retreat nach Thai-
land. Und was ist an einem VW-Bus
eigent lich grüner als an einem SUV? Ein-
fach mal Maße und Spritverbrauch ver-
gleichen, schon bröselt einem das Selbst-
bild unter den Fingern weg.
Wahrscheinlich hätte ich gar nichts be-
merkt von diesen Widersprüchen, wenn die
Reichen brav auf ihren Golf- und Tennis-
plätzen geblieben wären und nicht auf
Birkenstocks in meine Blase reingelatscht
wären. Beim Nächsten, der bei mir im Hof
steht, um einen unverbindlichen Small Talk
über Immobilienpreise anzufangen, ver-
gesse ich meine pazifistische Erziehung.
Ich werde wahrscheinlich noch eine
Weile in diesem schrägen Science-Fiction-
Thriller leben. So lange, bis ich mir die
steigende Miete wirklich nicht mehr leis-
ten kann. Wenn dann die deutschen In-
nenstädte für Normalverdiener unbezahl-
bar werden, so wie in London oder San
Francisco, wenn der Verteilungskampf
noch verschärft wird, weil Firmen wie
Google oder Zalando oder irgendeine KI-
Klitsche ihre Mitarbeiter ganz dringend in
den »angesagten Trendbezirken« unter-
bringen wollen, haben all diejenigen
Glück, die sich rechtzeitig eine Immobilie
gesichert haben. Alle anderen können
gehen. Das Kreuzberger Kreativprekariat
hätte zumindest noch die Möglichkeit,
einen Deal mit den neuen Platzhirschen
einzugehen und seine herrlich unkonven-
tionelle Kreativität zur Verfügung zu stel-
len, damit die ganze Sache authentischer,
rougher und auch: grüner rüberkommt.
Hab ich behauptet, ich wisse nicht, wo
der Ausgang aus der Blase sei? Vielleicht
weiß ich’s doch. Vielleicht bau ich mir eine
Holzhütte auf dem Golfplatz, da ist ja kei-
ner mehr. Oder ich ziehe in einen verwais-
ten Bungalow, den die Erben nicht wollen
und für den sie wegen Asbest keinen Käufer
finden. Angst vor Ungesundem hatte ich
noch nie. Ich koche weiße Nudeln mit roter
Soße, vielleicht kommt ja jemand zum
Essen vorbei. In der Hausbar finden wir
Dujardin. Den Rasen mähen wir morgen.

* Name von der Redaktion geändert

Tina Thoene ist Drehbuchautorin und lebt
in Berlin

Früher war mehr Öko

VON TINA THOENE

Öko original: Unsere Autorin mit ihrer Mutter.
Auf der vorigen Seite mit ihrem Vater (oben, Mitte),
dazu die Eltern von ZEIT-Redakteuren

Foto: privat

46 22. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 35


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