Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1

D


ie Einrichtung des Thomp-
son Brooke erinnert an
eine bessere Hafenkneipe.
Eine Austernbar mit 25
Sitzplätzen im Brooklyner
Viertel Williamsburg, maritime Farben,
an der Wand hängt ein hölzernes Steuer-
rad neben Bildern von Segelbooten und
Seefahrern. Hier führt jeden Mittwoch
ein Schriftsteller durch die Nacht. Heute
ist es Julie Orringer, deren Bücher Unter
Wasser atmen und Die unsichtbare Brücke
auch in Deutschland erschienen sind. Zu-
sammen mit der Barkeeperin steht sie
hinterm Tresen, legt französische Chan-
sons von Serge Gainsbourg auf, singt leise
mit und mixt Cocktails.
»Das ist das Schöne an Brooklyn«, sagt
mein Freund Jan, der um die Ecke wohnt
und die erste Bar des Abends ausgesucht
hat: »Jeder macht hier, was er will.«
Ich frage Julie Orringer, welchen
Drink sie empfiehlt, und sie serviert mir
ihren Lieblingscocktail: einen French 75
aus Champagner, Gin, Zitronensaft und
Zucker. Der Gin hält sich vornehm hin-
ter dem Champagner zurück, der Zitro-
nensaft gibt dem Drink eine angenehme
Säure. Als Grundlage für unsere Bartour
essen wir dazu eine Portion Moules Frites.
Zu Julie Orringers Programm gehört
an diesem Abend auch ein Quiz. Wer
eine Frage richtig beantwortet, bekommt
ein Exemplar ihres neuen Romans The
Flight Portfolio geschenkt. Mir spricht sie
Mut zu, die Antworten seien für Europä-
er leicht. Erste Frage: Wer war in den
Vierzigern der politische Anführer von
Frankreich? Ein anderer Gast kennt die
gesuchte Antwort: Philippe Pétain, Chef
des Vichy-Regimes. Zweite Frage: Wer
bezeichnet sich selbst als Dekan der Sur-
realisten? Nur Orringer selbst weiß es –
der französische Schriftsteller und Dich-
ter André Breton. Aber bei der Frage, wer
die Buchstaben L.H.O.O.Q. unter ein
Bild der Mona Lisa geschrieben hat,
kann ich glänzen. Es handelt sich um
eine bearbeitete Reproduktion des

Künstlers Marcel Duchamp. Die Lettern
sind ein Wortspiel, auf Französisch aus-
gesprochen, ergeben sie »Elle a chaud au
cul« (»Sie hat einen heißen Hintern«).
Feierlich überreicht mir Orringer ihr
Buch und schreibt mir eine Widmung
hinein: »Thanks for drinking the French
75 with me!«
Ich frage unterdessen Orringers Bar-
keeper-Kollegin, welchen Laden sie uns
für unseren nächsten Stopp empfiehlt.
Das Honey’s soll eine angesagte Bar in
Bushwick sein, ein altes Arbeiterviertel

südlich von East Williamsburg mit einer
florierenden Künstlerszene. Mit dem Taxi
sind wir in zehn Minuten da.
Die Bar befindet sich in einem moder-
nisierten Fabrikgebäude mit roter Ziegel-
fassade. Die Türen haben Bullaugen, auf
dem silbrig schimmernden Tresen steht
ein üppiger Blumenstrauß. Durch eine
Glaswand hinterm Tresen blickt man auf
eine große Lagerhalle. Dort wird Met,
Honigwein, produziert. Das Honey’s, er-
klärt uns die Barkeeperin Amara, verstehe
sich nicht nur als Cocktailbar, es sei auch

ein tasting room für Met-Weine, bei denen
anstelle von Weintrauben Honig zur Gä-
rung verwendet werde: »Die New Yorker
sind gerade verrückt nach Met-Weinen.«
Ich bestelle einen »Bee Jou« aus Gin,
gelbem Chartreuse, Wermut, Bitter und
einem Met, bei dem auch Löwenzahn-
blüten mitvergoren wurden. Die kraft-
vollen Noten des Gins erinnern in Kom-
bination mit den süßlich-herben Noten
des Wermuts an einen Negroni Bianco,
die Kräuteraromen des Chartreuse und
die Orange Bitters verleihen dem Drink

eine zusätzliche aromatische Ebene. Der
Drink ist hervorragend, allerdings schme-
cke ich den Met nicht heraus. Amara
schenkt mir zum Probieren einen Schluck
Honigwein ein. Er schmeckt wie Cider,
Apfelwein. Mal sehen, wie lange der Met-
Trend anhält.
Wie beim Cider habe ich auch beim
Met das Gefühl, man kann ohne
Probleme reichlich davon trinken, so-
dass ich schon überlege, hier stilvoll zu
ver sacken. Aber wir wollen ja noch in
eine dritte Bar. Amara schlägt uns das

Elsewhere vor, einen neuen Club nur
zwei Geh minuten von hier.
Das Elsewhere hat mehrere Räume
mit Bühnen für Konzerte, eine Dach-
terrasse und im ersten Stock eine
Lounge, The Loft, die ein wenig an eine
Achtziger-Jahre-Disco erinnert. Der Bo-
den dort ist in schwarzen und weißen
Streifen gekachelt wie ein Zebrastreifen,
der Raum leuchtet mal rot, mal purpur-
farben. An der Decke hängt eine Disco-
kugel. Ich bestelle einen Fomo, den dür-
fe man hier nicht verpassen, sagt der
Barkeeper: Wodka, Ananas, Ingwer und
grüne Paprikaschoten – schmeckt wie
Sommer im Glas.
Die Gäste scheinen das Achtzigerjahre-
Thema allerdings noch nicht vollständig
verinnerlicht zu haben. Statt weißem
Don-Johnson-Anzug tragen sie Brooklyn-
Look: Dr.-Martens-Boots, dunkle Hosen,
Jeansjacken. Man gibt sich viel Mühe,
wie ein Mensch auszusehen, der es nicht
nötig hat, jeden Tag ins Büro zu gehen.
Dabei müssen viele wahrscheinlich am
nächsten Morgen pünktlich in einer
Agentur oder einem Architekturbüro
erscheinen.
Neben den Waschbecken bei den Toi-
letten sitzt Archie, ein junger, zierlicher
Mann mit Afro. Auch er sieht nicht aus,
als habe er Arbeit nötig, und schon gar
nicht danach, als putze er Toiletten: Er
trägt eine Seidenjacke mit abstraktem
Print und hat bunte Tücher um Hals und
Haarschopf geschlungen. Neben sich hat
er einen Sektkübel gestellt, dort können
ihm die Gäste Trinkgeld reinwerfen.
Inzwischen ist es früher Morgen. Die
Bar ist voll, aber nicht überfüllt. Es läuft
Dancehall. Ungefähr dreißig Leute sind
auf der Tanzfläche. Eine Frau macht
Bauchtanz. Zwei Frauen küssen sich in-
nig. Ein Paar tanzt Standard. Macht in
Brooklyn vielleicht wirklich jeder, was er
will? Ein Mann kommt auf mich zu und
sagt, dass meine Frisur komisch sitze. Ich
sage nur »Don’t worry about it« und gehe
auf die Tanzfläche.

Brooklyn


Barkeeper weisen den Weg durch die Nacht: JOHANNES DUDZIAK rätselt über die Mona Lisa und über Honigwein als Trendgetränk


IN DREI DRINKS DURCH


Honey’s


93 Scott Avenue
So–Do 17 bis 2 Uhr,
Fr/Sa 17 bis 4 Uhr

The Loft


599 Johnson Avenue
Mo–So 18 bis 2 Uhr

Thompson Brooke


631 Grand Street
Di–Do 17 bis 23 Uhr,
Fr/Sa 17 Uhr bis 24 Uhr

K


ürzlich war ich beruflich in Sy-
rien. Es war nicht immer mög-
lich, mich zu Hause zu melden.
Das fühlte sich ungewohnt an:
Reisen im 21. Jahrhundert ist doch ein
ständiges Sich-Mitteilen nach daheim –
egal ob aus Malle oder aus Aleppo. Via
WhatsApp, Facebook und Instagram in-
formieren wir unsere Lieben: Wie sieht das
Hotelzimmer aus, wie schmeckt das Essen,
wer sind die Urlaubsbekanntschaften?
Als ich später wieder gesund am Flug-
hafen Tegel stand und im Taxi zu meinen
Eltern fuhr, dachte ich darüber nach, was
eigentlich der beste Kommunikations-
kanal auf Reisen ist.
Neben Facebook und Co gibt es un-
zählige Internetseiten und Apps: Auf
»Joinmytrip« etwa kann man ein öffent-
liches Reisetagebuch anlegen, in dem
man Fotos, Standorte und Beiträge teilt,
sodass Familie, Freunde und Fremde vir-
tuell mitreisen. Mithilfe der Website las-
sen sich unterwegs auch Reisepartner
finden – Mitleser können sich beim
Tagebuchschreiber melden.
Die App »Excursion« leistet etwas
Ähnliches. Hier können andere aber auch
schon bei der Reisevorbereitung mit-
reden: Man gibt etwa an, welches Hotel
und welchen Sitzplatz im Flugzeug man
gewählt hat. Danach können andere User
Feedback geben, was sie davon halten –
sodass man notfalls noch schnell um-
buchen kann.
»Tripit« oder »Appintheair« sind Apps,
die ich regelmäßig nutze. Zum einen
können Familienmitglieder und Freunde

hier einen Reise-Kalender abonnieren, in
dem sie sehen, wo man gerade ist. Zum
anderen kann man dort auch Ankunft-
und Abflugzeiten per SMS teilen. Das ist
praktisch, fühlt sich allerdings auch ein
wenig nach Überwachung an.
Generell bedeuten diese ganzen digi-
talen Optionen aber viel Arbeit. Die Rei-
se wird zu einem ständigen Updaten,
Hochladen, Schicken. Und nach der
Reise fallen die Bildershow und die
Gespräche weg: Alle wissen ja schon alles.
Die traditionelleren Wege der Nach-
richtenübermittlung sind mir daher lie-
ber. Meine Wiederbelebung der Postkarte
ist allerdings eine Chimäre aus digital
und analog: In der App »MyPostcard«
wählt man auf dem Handy ein Foto aus
seiner Bibliothek aus, schreibt einen Text
und schickt die Karte erst einmal digital
an »MyPostcard«. Für rund drei Euro
wird sie dann in Deutschland ausgedruckt
und verschickt. So kriegen die Lieben
daheim eine Karte mit individuellem
Urlaubsmotiv.
Ich bin außerdem ein großer Päck-
chenverschicker. Der Inhalt: gepresste
Farne aus dem Amazonasgebiet, scheuß-
liche Süßigkeiten aus Japan, Datteln aus
dem Orient. So bekommt der Empfän-
ger auch haptisch von meiner Reise etwas
mit. Und beim Bedanken entwickeln
sich dann oft die schönsten rekapitulie-
renden Reise-Gespräche: Was ich ge-
sehen, was ich erlebt habe ...? Erinnerun-
gen an Orte entstehen auch durch den
Weg, den man gewählt hat, um von
ihnen zu erzählen.

Nachricht nach Hause –


aber wie?


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Fotos: Helga Traxler für DIE ZEIT; Illustration: Oriana Fenwick für DIE ZEIT


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