Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1
nen Sinn in Treue in memoriam. Unserer Ansicht nach wäre
der gestorbene Partner – wir dachten immer, das würde ich
sein – ja eben nicht mehr da und hätte aber gewusst, dass er
oder sie für immer geliebt worden war. Also, Liebling, keine
Scheu, verpasse keinen Augenblick. Carol sagte mir am Ende
dies: »Wenn du innerhalb eines Jahres keine Neue gefunden
hast, komme ich zurück und bestrafe dich.«
Ich glaube ja, dass jeder Mensch auf der Welt heute Nacht
mit jemandem zusammen sein möchte, gemeinsam in der
Dunkelheit, die süße Wärme einer Hüfte oder eines Fußes
oder einer entblößten Schulter in Reichweite. Die von uns,
die all dies verloren haben, egal wie alt, verlieren doch nie die
Sehnsucht. Und wenn es noch einmal zurückkehrt, ergreifen
wir es, verblüfft und aufs Neue verwandelt.
Die Frau, die ihn ergriff, heißt Peggy.
Wird Roger hundert werden? Er würde gern. Er muss
nicht. »Professionelle Athleten werden vom eigenen Stolz
angetrieben«, sagt Angell, »mich aber treibt nichts mehr.
Am Leben zu bleiben wäre eine gute Idee. Aber Stolz
beschäftigt mich nicht mehr. Meine Augen beschäftigen
mich, sie lassen nach, das ist ein großer Verlust.«
Als Literatur-Redakteur des New Yorker betreute er einst
Alice Munro, Vladimir Nabokov und John Up dike, als
Reporter schrieb er über alles, was sich halt ergab, und als
Base ball- Autor wurde Angell berühmt.
Wie in jedem Leben gab es auch im Leben des alten Man-
nes Wendepunkte.
Irgendwann, als Schüler, beschloss Roger, den Nachmit-
tagsunterricht auszulassen und regelmäßig ins Kino zu
gehen. Gebeichtet hat er es nie jemandem, doch auf diese
Weise lernte er, wie man Geschichten erzählt.
1942 schloss er das College ab, wurde sofort eingezogen,
war im Pazifik, aber nicht in Gefahr. Dann die erste Ehe, zu
schnell, zu früh, eine junge Frau in der Redaktion des New
Yorker, Evelyn. Zwei Kinder. Schließlich die Scheidung.
Der Suizid der älteren Tochter, viel später, ohne Erklärung,
ohne Ankündigung. Roger sagt, er habe gedacht, damit nun
wirklich nicht weiterleben zu können, und dann seien auch
die folgenden Jahre vergangen wie alle Jahre zuvor.
All diese hundertjährigen Leben sind Leben voller Weg-
marken – so viele Entscheidungen, so viele Zufälle auch.
Und lenkende, prägende Menschen gab es. Die Mutter,
den Vater, den Stiefvater.
Der Vater war der Aktive. Er schleppte den Sohn in
Museen, zum Tennis, zum Kanufahren, zum Base ball.
Dann schrieb der Sohn eine Kurzgeschichte über einen
Vater, der beim Tennis einen Herzinfarkt hat, und wenig
später passierte der Herzinfarkt im wahren Leben. Die
Mutter war Redakteurin beim New Yorker. Unterstützend,
gewiss liebend, aber keine Umarmerin. Sehr, sehr invol-
viert in der Redaktion.
Und der Stiefvater, das war E. B. White, jener Dichter und
Großmeister, der eine der schönsten Hymnen auf eine Stadt
verfasst hat, die je geschrieben wurden: Here is New York.
Ach, Roger hört noch den Klang der Schreibmaschine. In

Maine stand das Zweithaus, dort war der Stiefvater Bauer,
dort erlebte Roger die Sommer der Kindheit.
Auch dies ist etwas, das uns alle Hundertjährigen, die wir
trafen, sagten: wie grausam die Erkenntnis des Alters ist,
dass all das, was war, nie mehr wiederkehrt. Alle, ohne
Ausnahme, sagten uns, dass die Zeit so rasend verrinne,
selbst dann, wenn man volle hundert Jahre lang Zeit habe.
»Nutzt eure Jahre«, sagt Roger, »lebt.«
Das Alter, sagt er, sei ein Grund, dankbar zu sein, selbstver-
ständlich, aber es sei auch eine Plage. »Alle alten Menschen
wollen wieder 17 sein, wollen wie früher leben, und es geht
nicht.« Das New York von früher hätte Roger auch gern
zurück: jene Stadt, in der es noch Nachbarschaften gab,
also auch Schuster, Klempner, Marktstände und Lädchen
und nicht nur Reiche hier auf der Upper East Side.
Peggy legt eine Sinatra-CD auf. Regrets ... he has a few. But
then again ... too few to mention?
Einige Dinge bedauert er ernsthaft, weil sie ernst und
bedeutend waren. Den Eltern habe er wenig Empathie
und viel Arroganz entgegengebracht, sagt Roger Angell.
Und nein, von seiner Arroganz seien nicht allein die Eltern
betroffen gewesen.
Was bereuen Sie? Vor all diesen Besuchen bei all diesen
Hundertjährigen haben wir uns solche Fragen überlegt.
Worauf sind Sie stolz? Wie wird man hundert Jahre alt?
Mit Hilde Hefti, 98 Jahre alt, aber kann man kein Inter-
view führen, das geht nicht. Es kommt vor, dass wir eine
Frage fünfmal wiederholen, also sechsmal stellen, weil sie
uns wichtig ist – aber das Ganze wird sich später, beim
Abhören der Aufnahme, einigermaßen bescheuert anhö-
ren, da Hilde Hefti sechsmal lieber jene Geschichte zu
Ende erzählen möchte, die sie begonnen hat; und solch
eine Geschichte braucht ihre Zeit.
Am 13. Mai 2018 sind wir erstmals bei ihr in dem Einfa-
milienhaus in Riehen, einem Vorort von Basel. Sie ist eine
gewiefte Gastgeberin: Es gibt Joghurt-Törtchen in Herz-
form und Tee, Kaffee, Wein, und sie singt und tanzt für
uns. Sie kann das sehr, sehr gut: tanzen. Denn von Mitter-
nacht bis zwei Uhr morgens tanzt sie in jeder Nacht, ver-
mutlich so wie jetzt: mit langen Tüchern, mit den Armen
spannweitenbreit ausholend, singend. Are you lone some
tonight, singen Elvis und Hilde.
Sie trägt eine blaue Stoffhose, ein grünes Wolljackett, und
ein seidenes Haarband hält die langen weißen Haare zu-
rück. »Wissen Sie«, sagt sie, »die meisten Leute finden mich
schräg. Sie halten mich für seltsam. Aber ich bin glücklich,
dass ich so bin. Ich stehe zu all meinen Macken.«
Wir verstehen schnell, was sie meint, denn sie ist anders als
die anderen Alten, denen wir begegnen: Sie tanzt nicht nur,
sie verfasst auch Gedichte. Und lädt uns zum Essen ein,
bei jedem Besuch. Schickt uns Basler Süßigkeiten, Verse,
Geschichten. Und sie war 1945 in einem Zug, der Rich-
tung KZ fuhr, und entkam haarscharf, dazu später.
Hilde Hefti kommt aus Lindau am Bodensee. Ihre Eltern
sind lange tot, ihr kleiner Bruder starb vor einem Jahr. Hilde

Foto Kijoka Bashofu Association

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