Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1
ging einst in eine Klosterschule, wo es genau eine säkulare
Lehrerin gab, und die entdeckte Hildes Talent. »Dann sagte
meine Lehrerin, dass sie mich für eine Tanzausbildung in
München anmelden wollte.« Der Vater aber klopfte daheim
auf den Tisch und sagte: »Nein. Ich habe dich bei der Baye-
rischen Vereinsbank angemeldet. Du machst die Lehrzeit
dort.« Auch auf solche Weise können Träume enden.
Sie stellt Schnapsgläser auf den Tisch. »Sie sind ja nicht mit
dem Auto da. Da können wir ja schon ein Schnäpschen
trinken. Jetzt nehmen wir unseren Fridolin noch mit dazu.«
Sie greift nach einem Foto. »Vor zwölf Jahren ist er gestor-
ben. Aber ich bin nie allein. Ich rede mit ihm. Ich singe für
ihn. Und ich tanze für ihn. Er ist noch im Spital gewesen.
Und da sagte der Arzt zu mir: Wollen Sie bei ihm bleiben?
Denn ich kann Ihnen keine Hoffnung mehr machen. Dann
blieb ich acht Tage lang bei ihm. An einem Samstag war es,
als er unruhig wurde. Und dann habe ich gemerkt: Er atmet
anders. Da habe ich ihn hochgenommen, in den Arm, dort
im Bett, und da ist er mir eingeschlafen. Er war auch im
Sterben noch der schönste Mann. Ich konnte nicht weinen.
Denn wir hatten es so schön zusammen. Als er starb, guckte

er mich an und sagte: Dass es bei uns so gut gegangen ist,
das ist allein dein Verdienst. Und dann habe ich da spä-
ter drüber nachgedacht und dachte: Er hat recht. Denn er
war ein sehr gescheiter Mann, aber auch stur. Und ich war
gerade das Gegenteil. Wenn zwei Sture zusammentreffen,
klappt es nicht. Aber wenn ein Sturer auf eine flexible Frau
trifft, kann das gut gehen. Ich bin so. Sehr flexibel und sehr
zugänglich. Ich habe nicht gerne Unfrieden. Genau deshalb
ist es so gut gegangen.«
Sie macht einen Sprung, einen großen. Hinein in die
Kriegsjahre. 1943 wurde Hilde Hefti zum Nachtflug-
geschwader 102 auf dem Fliegerhorst in Echterdingen bei
Stuttgart kommandiert, wo sie Munition abfüllen sollte.
Nachts, so hieß es, stünden die jungen Frauen den Män-
nern der SA und der SS zur Verfügung, aber der Komman-
dant sagte: »Mein Gott, so ein junges Ding«, und machte
sie zu seiner Sekretärin. Sie führte die Listen: Wer lebte
noch, wer lag im Lazarett, wer lebte nicht mehr?
Sie werden nach Ostpreußen verlegt, nach Polen. Hilde
begegnet dem Krieg. Der Kälte. Der Verwüstung. Män-
ner, mit denen sie gestern sprach, sind heute tot. 1945, als
nichts mehr zu gewinnen ist, weist der Kommandant sie
an, über Hannover heim nach Memmingen zu fahren. Als
Proviant hat sie eine Stulle. Im Bahnhof Hannover wartet
sie, setzt sich auf den Koffer. Hilde Hefti erzählt:
»Endlich kommt ein Zug, einer mit Viehwaggons, die
keine Fenster haben, nur diese Schlitze. Der Zug hält. In
dem Moment recken sich aus den Schlitzen ganz schmale
Finger, nur Haut und Knochen. Von innen höre ich es
gottsjämmerlich schreien, ich kann das nicht anders sagen:
Hunger. Hunger. Hunger. Ich gebe mein Brot diesen Fin-
gern. In dem Augenblick springt ein Soldat aus dem Zug,
packt mich, zerrt mich hinauf und wirft mich in den Zug.
Ich sage: Das können Sie nicht machen, ich muss weiter
nach München. Er schreit: Halt die Schnauze, du Dreck-
sau. Du gehörst dorthin, wo diese hinfahren. Es ist ein
Zug ins KZ von Bergen-Belsen, ich werde gefesselt, die
Jüdinnen sagen: Du Engel, du Engel, du Engel. Hilf, En-
gel, hilf. Ich sage ihnen: Ich kann nicht helfen. Ich rede
mit dem Soldaten, der befiehlt mir zu schweigen, aber
dann holt er einen Kollegen, und der sagt: Wirf sie besser
raus. Da werfen sie mich aus dem fahrenden Zug. Irgend-
wo zwischen Hannover und Bergen-Belsen. Alles tut mir
weh, aber nichts ist gebrochen. Ich gehe zu Fuß die Gleise
entlang. Und als ich wieder in Hannover ankomme, steht
mein Koffer noch auf dem Bahnsteig.«
Es kann exakt so oder ungefähr so gewesen sein; nach-
prüfbar ist diese Geschichte nicht mehr. Es gibt, natürlich,
keine lebenden Zeugen mehr.
Hilde Hefti sagt, sie sei im Reinen mit ihrem Leben und
sich selbst. »Man muss sich gern haben. Man muss sich
selbst lieben. Gib nie auf, an dich selbst zu glauben! Man
muss spüren können. Die Feinheiten des Lebens. Die
zarten Klänge hören. Wisst ihr, dass ich so alt geworden
bin und noch so glücklich sein darf, das gibt mir aber eine

Die Zeit verrinnt rasend, selbst dann, wenn man viel
Zeit hat. »Nutzt eure Jahre«, sagt der

Amerikaner Roger Angell, »lebt.« Er ist heute 98 Jahre alt


Foto

Al Tielemans / Getty Images
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