Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1

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Manche Gruppen, die sich von der Politik übersehen füh-
len, gehen für ihr Anliegen auf die Straße. Andere gründen


ihr eigenes Parlament. Im November 2018 schreitet im
Sorbischen Kulturzentrum des Dorfes Schleife Martin Wal-


de ans Pult: »Dies ist eine besondere Stunde – der Serbski
Sejm tritt ins Leben.« Der Kulturwissenschaftler ist einer


der Väter dieses politischen Experiments. Vielleicht, sagt
er auf Sorbisch, werde es in den Geschichtsbüchern einmal


heißen: »Kurz vor ihrem drohenden Untergang haben sich
die Sorben und Wenden auf sich selbst besonnen.«


Immer weniger Menschen im Siedlungsgebiet der Sorben,
der Lausitz, beherrschen die Sprache der slawischstämmi-


gen Urbewohner oder fühlen sich der Volksgruppe zugehö-
rig. Die bisherigen Institutionen und Minderheitenrechte


genügten nicht, um diese As si mi la tion zu stoppen, sagen
die Initiatoren des selbsterklärten Parlaments. Mit Erspar-
nissen und Spenden organisierten sie eine Briefwahl, luden
zur Auszählung Wahlbeobachter aus dem Ausland ein. Zwar
gaben weniger als 1000 der 60.000 Sorben und Wenden, die
laut Schätzungen noch in Deutschland leben, ihre Stimme
ab. Aber, so die Sejm-Aktivisten, auch die politischen Vertre-
tungen anderer kleiner Völker in Europa – Samen, Ålander,
Ungarndeutsche – hätten irgendwie angefangen.
Nun wollen die 24 Parlamentsabgeordneten kämpfen, gegen
weitere Schließungen von Schulen im sorbischsprachigen
Kerngebiet, für den Erhalt ihrer Dörfer und von ländlichen
Traditionen und für neue Jobs in der Region. Darunter zwei
Politiker (auf dem Foto oben links), eine Buchhalterin und
die Rentnerin Edith Penk (mit Mikro), die sich auch gegen
die Rodung bei Mühlrose engagiert. Vom Bund und von
den Landesregierungen Sachsens und Brandenburgs fordern
die Sorben mehr Geld und Befugnisse. Heimat, so sehen sie
das, funktioniert am besten selbstorganisiert.

Gründung eines sorbischen Parlaments,
Schleife, 17. November 2 018
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