Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1

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Eine so große Menge hat sich seit dem Besuch von Helmut
Kohl im Jahr 1990 nicht mehr auf den Straßen von Görlitz


versammelt: Im Januar 2018 demonstrieren 7000 Menschen
gegen die geplante Schließung der Werke von Siemens und


Bombardier. Sie zählen zu den größten Arbeitgebern der
Stadt, weshalb Zeitungen in diesen Wintertagen vorrech-


nen, dass 25 Prozent Arbeitslosigkeit drohten. Die bundes-
weit niedrigste Kaufkraft hat der Kreis Görlitz bereits.


So schreiten an der Seite der Beschäftigten an diesem Tag
nicht nur Gewerkschaftler – IG Metaller, die Solidarność


aus Polen –, sondern auch Menschen aus der Gegend. Zwei
Schülerinnen der Oberschule Rauschwalde wollen zwar


ihre Ausbildung in Dresden absolvieren, »aber ich mach
das heute für die anderen«, sagt eine. Die »Linksjugend


’solid Görlitz« entrollt ein Laken: »Arbeit nervt. Keine
aber auch. Siemens bleibt offen.« Ein Malergeselle, noch
in weißer Arbeitskluft, reiht sich mit Frau und Kind ein in
den Zug. Auch das Rentnerpaar Piche aus dem Görlitzer
Arbeiterviertel Weinhübel. Sie liefen mit für ihren jüngsten
Sohn, erzählen sie, der sei Leiharbeiter im Bombardier-
Werk. Ihre drei älteren Kinder lebten im Westen, »unseren
Paule wollen wir unbedingt hierbehalten«.
Vor seinem Laden »Berliner Döner« sieht Mehmet Ates
den vorbeiziehenden Fahnen zu. »Machen die Werke zu«,
sagt er, »ist Görlitz eine tote Stadt.« Mitarbeiterinnen einer
Bank stehen applaudierend vor der Tür. Der Weinhänd-
ler und das Buchgeschäft schließen für die nächste Stun-
de, damit ihre Mitarbeiter demonstrieren können. Unter
Trommelschlägen erreicht der Protestzug eine Bühne. Einer
hält ein Transparent: »Das Problem heißt Kapital.« Viele
sehen den Kapitalismus als Wurzel von Spaltung und Ver-
einzelung. Die Görlitzer führt er an diesem Tag zusammen.
Und beide Werke sollen nun übrigens erhalten bleiben.

Demonstration,
Görlitz, 19. Januar 2 018
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