Süddeutsche Zeitung - 06.09.2019

(Michael S) #1
Berlin –DieFraktionsspitzeder SPDwill
dieRenditen privater Pflegeheime begren-
zen. In einemPositionspapier,das derSüd-
deutschenZeitungvorliegt, heißtes, Pflege-
heime seien „Investitionsobjekte“ gewor-
den.Zudemwollen die Sozialdemokraten
eine „Pflegebürgerversicherung“ einfüh-
renund Angehörige mit einer bezahlten
„Pflegezeit“ entlasten, die Elternzeit und
Elterngeldentspricht.klu Seite 6

Berlin–Imisraelisch-palästinensischen
Konflikt sieht dieBundesregierung die
Zweistaatenlösung inGefahr.Ineiner der
Süddeutschen ZeitungvorliegendenAnt-
wort auf eine Anfrage der Grünen im Bun-
destag übte sie deshalb deutliche Kritik an
Israel, aber auch an der palästinensischen
Führung. Man sei in „großer Sorge“, heißt
es mehrmals.dbr Seite 7

Meinung


Deutschlandmuss seinVerhältnis


zu China neu ordnen–und


klareGrenzen ziehen 4


Politik


Nach denVerlusten bei den jüngsten


Wahlen will dieLinkspartei im


Osten einenNeustartwagen 6


Feuilleton


Könnteein Populist mit legalen


Mitteln das Grundgesetz


aushebeln?Ein Szenario 11


Wirtschaft


WasFacebook-Nutzerbefürchten


müssen,deren Handynummern


imInternetstanden 17


Medien


DieZeitungder deutschen


Minderheit inDänemark bemüht


sich umVerbindendes 31


TV-/Radioprogramm 32
Forum&Leserbriefe 26
Kino·Theater im Lokalteil
Rätsel 31
Traueranzeigen 20


Esistwahrscheinlicheinerderschönsten
Flughäfen derWelt. Werüber dieLande-
bahnvonEntebbe inUganda rast, hat das
Gefühl, insParadies abzuheben, langsam
steigt dieMaschine auf und dreht eine
Runde über den magischen Victoriasee.
Mansieht kleine Fischerboote und größe-
re Inseln,werganz vielGlück hat, kann
auch ein Krokodil beobachten.Außerhalb
Afrikas hat Entebbe einen mäßigen Ruf,
weil vor42Jahren ein palästinensisches
Terrorkommando eineBoeingder Air
France dorthinentführte und auch in den
Jahrzehntendanachdas Ansehen derafri-
kanischen Luftfahrt eher schlechtwar. In
machen Ländernkonnte man schonvon
Glückreden,wenn man eine alte russi-
scheAntonowmit nurhalbwegsbetrunke-
nen russischen Piloten erwischte.
Letztlich ist das lange her.Wohl kaum
ein andererKontinent hat in denvergan-
genenJahren so großeFortschritte im
Luftverkehr gemacht wieder afrikani-

sche. Legendär sind hier dieWorte eines
kenianischen Ministers, der einmal er-
zählte, dass er sich beim Besteigen einer
Maschine zuerstvergewisserte, ob auch
einweißer Pilot im Cockpit sitzt. Den gibt
es mittlerweile kaum noch, weil derKonti-
nent überverschiedene moderne Flug-
schulen verfügt.Undüber ein stetigwach-
sendesNetz vonVerbindungen.
Die meisten afrikanischen Staaten er-
langten in den 60er-Jahren ihreUnabhän-
gigkeit, es dauerte aber vieleJahrzehnte,
bis manvonWest- nach Ostafrika fliegen
konnte, ohne in den altenKolonialhaupt-
städten Paris oder London umsteigen zu
müssen.Nun wirdeher die Vielfalt zum
Problem. Afrika ist einer der am stärksten
wachsenden Märkte derWelt, immer

mehr Staaten gründen ihreeigene Flug-
linie, allein in denvergangenenJahren
sollen es laut Branchendienst-Berichten
fast 20 Staaten sein, dieeine eigene Air-
linewollen.
Manchmal ist das eine guteIdee, Staa-
ten wie Ruanda gehören seitJahren zu
den am schnellstenwachsenden Ländern
derWelt, die nunversuchen, ihreInfra-
struktur auf den neusten Stand zu brin-
gen. Manchmal dienen die neuen Flugli-
nien abervorallem dazu, das Ego der je-
weiligen Präsidenten zu befriedigen oder
Möglichkeiten für diekorrupte Elite zu
bieten, sich am Staatshaushalt zu bedie-
nen.ZumSpott desKontinents wurde in
dervergangenenWocheUganda Airlines,
dieauf ihremJungfernflugvonEntebbe

vonNairobi inKenia gerademal achtPas-
sagiereanBord hatte,waseinerAuslas-
tungvonetwa zehn Prozent entspricht.
Dieneuen Büros der Fluglinie hatten erst
einen Tagvordem Start geöffnet.Noch
dramatischer schätzen Experten den
Start der Fluglinie des Südsudan ein, ei-
nes derkorruptesten Bürgerkriegsländer
derWelt, das dem Klischee eines afrikani-
schen Bananenstaates entspricht.
Insgesamtist der afrikanische Luftver-
kehr aberweit besser als sein Ruf,wasvor
allemanEthiopian Airlines liegt, der größ-
ten und profitabelsten Airline desKonti-
nents, diemittlerweile mehr als 100 Ziele
weltweit anfliegt.ImMärz stürzte eine
Maschine der Airline ab,wasExperten
aber eher dem Flugzeugbauer Boeing an-
lasten. DemWachstumvonEthiopian hat
dertragische Absturznicht geschadet,ge-
rade überholte der Flughafen inAddis
Abeba den Rivalen in Dubai als dasTor
nach Afrika. bernddörries

voncerstin gammelin
undmichaelbauchmüller

Berlin–Die Bundesbürger müssen sich
nach AnsichtvonVizekanzlerOlaf Scholz
(SPD)beim Klimaschutz auf „spürbareAus-
wirkungen“einstellen. „Mit dem Klein-
klein kann es nichtweitergehen“, sagte
Scholz am Donnerstag derSüddeutschen
Zeitung.Somüsse der StaatkonkreteVor-
gaben erlassen,welchen Standards künf-
tig Heizungen entsprechen sollen.WerAu-
tos mit hohem Spritverbrauch fahrenwol-
le,müsse das bei der Kfz-Steuer spüren.
Gleichzeitig müsse dieGesellschaft sicher-
stellen, dass alleBürger mit den Belastun-
gen zurechtkämen. „Vor allem die, die
nicht so vielverdienen, dürfennicht den-
ken, dass die Klimawende sie wirtschaft-
lichvorunlösbareProbleme stellt.“

Unionund SPDarbeitengerade an der
Vorbereitungdes „Klimakabinetts“ in
zweiWochen. Bis dahin soll einPaketste-
hen, mit dem Deutschland sein Klimaziel
für 2030 erreichen kann.CDUund CSU hat-
ten schon am Dienstagerste Positionen
skizziert. Am Donnerstag legten auch die
Fachpolitiker der SPD-Fraktion ein Papier
vor, dasWege zum Klimaschutz aufweisen
soll.Neben vielemanderenenthält es den
Vorschlag, den Fleischkonsum „mit Per-
spektive 2050“ zu halbieren, „auch aus ge-
sundheitlichen Gründen“. DieEntschei-
dung über die Grundzüge eines Klimage-
setzes fällt aber zunächst im Kabinett.
Dort hat Bundesfinanzminister Scholz,
der auch für denParteivorsitz der SPDkan-
didiert, eine Schlüsselrolle. In seinem Mi-
nisteriumgehen alleVorschläge ein; sie
werden aufKosten und Effizienz geprüft.

Dort entscheidet sich auch, wie der Klima-
schutz finanziertwerden soll.
Im Zentrumwirddabei ein Preis auf
Kohlendioxid stehen. Dieser sollezwarso
gestaltetwerden, „dass nicht jeder sofort
reagieren muss“,sagte Scholz. „Aber man
muss wissen, dass es teurer wird, je länger
manwartet.“Wennvon morgenander Um-
weltverbrauch bepreistwerde, kaufe sich
keiner am nächsten Tag ein neuesAuto
oder ersetzeinder folgendenWoche die
Heizung. „Aber das nächsteAuto muss die
Umwelt weniger belasten, und dieHei-
zungsanlagen müssenwesentlich schnel-
lererneuertwerden.“Eswerdekeine Lö-
sung geben, „von der niemand etwas
merkt“.
Andersals dieUnion,die vielfördern
und anreizen will, plädiert die SPDauch
für strikteVorgaben.Förderprogramme al-

lein reichten nicht, sagte Scholz. „Deshalb
müssenwir uns auch um Ordnungsrecht
kümmern.“Somüsse festgelegtwerden,
„welche StandardsHeizungen ab 2030 er-
füllen müssen“. EineFörderung könne
aber helfen, „dass die monatlichenKosten
der neuenHeizung moderat bleiben“.
Auch beimVerkehr will Scholz umsteu-
ern und zugleich umverteilen. DasFahren
großerGeländewagen soll teurerwerden.
„Wenn fabrikneueAutos mit hohem CO 2 -
Ausstoßverkauftwerden, muss sich das
auch bei der Kfz-Steuer deutlich nieder-
schlagen.“Die Unionverfolgt ähnlichePlä-
ne.Scholzwill imGegenzugkleinereE-Au-
tos zusätzlichfördern,durch einen höhe-
renBonus fürFahrzeuge unter 30 000 Eu-
ro Listenpreis.Zudem solle es bis 2030
„eher eine Million“Ladesäulen geben.
Geplant sindbisher 300 000.

München –Premier BorisJohnson möch-
te amkommendenMontag einenweiteren
Anlauf unternehmen, um eineNeuwahl
durchzusetzen. Das teilte derkonservative
AbgeordneteJacob Rees-Mogg am Don-
nerstag in London mit.Johnson will am 15.
Oktoberwählen lassen, um zweiTage spä-
ter beim EU-Gipfel mit einem Mandat für
seinenkompromisslosen Kurszuerschei-
nen.Nachdem dasUnterhaus „dieBürger
im Stich gelassen“habe, müsse nun das
Volk den Brexit-Streit „ein füralle Mal“ bei-
legen,sagteein Regierungssprecher. John-
son griff Labour-ChefJeremyCorbyn an.
DessenNeuwahl-Blockade sei eine „feige
Beleidigung der Demokratie“. ImParla-
mentverlor diekonservativeFraktion am
Donnerstag einweiteres Mitglied:John-
sonsBruderJo Johnsontratvon seinen Äm-
tern zurück. hum Seiten 3, 4

Detmold–ImProzess um den hundertfa-
chenKindesmissbrauchvonLügdehat die
Jugendschutzkammer des Landgerichts
Detmold am Donnerstag lange Haftstrafen
gegen die beiden Hauptangeklagtenver-
hängt.Der 56-jährige DauercamperAndre-
as V. muss für 13Jahreins Gefängnis, unter
anderemwegen schweren sexuellen Kin-
desmissbrauchs in 223Fällen. Er hatte
auch seiner Pflegetochter jahrelangsexuel-
le Gewalt angetan.MarioS., 34, erhielt
zwölfJahre,weil er sich mindestens 15Jah-
re lang an Mädchen undJungenvergangen
hat.Zudem ordnete dieVorsitzende Richte-
rin AnkeGrudda anschließende Siche-
rungsverwahrung für beide Männer an.
„Nach wievorfällt es schwer,das Ge-
schehen inWorte zu fassen“, sagte Grudda.
Worte wie „abscheulich, monströs, wider-

wärtig“ reichten nichtaus.Zwei Jahrzehn-
te lang hatte AndreasV. auf einem Cam-
pingplatz im Kreis Lippe Mädchen im Alter
vonvier bis 14Jahren sexuell missbraucht.
Obwohl es immer wieder Hinweise auf sei-
ne Neigung gab, wurde er nicht gestoppt.
DieMänner fertigten zudem kinderporno-
grafisches Materialvonihren Taten an.
Lügde gilt als bisher schwersterFall von
Kindesmissbrauch in der GeschichteNord-
rhein-Westfalens. Übergriffeauf 34 Kin-
der undJugendlichewaren angeklagt,ver-
urteilt wurdenVerbrechen an 32 Opfern.
DieZahl der geschädigten Kinder sei aber
vermutlich viel höher,sagte Richterin An-
ke Grudda. Angesichts des„unfassbar lan-
genTatzeitraums“ stellesichzudem die
Frage,warum der Missbrauch so lange un-
entdeckt blieb.

Die Richterin sprach dieVerurteilten di-
rekt an: „Siehaben32Kinderund Jugendli-
che zu austauschbaren Objekten Ihrer se-
xuellen Begierden degradiert und 32 Kind-
heiten zerstört.“MarioS.hielt denKopf ge-
senkt, AndreasV. schaute dieRichterin un-
bewegt an. Die Kammer,hieß es in derUr-
teilsbegründung, habe nicht den Eindruck
gewonnen, dass dieAngeklagten auch nur
ansatzweise verstanden hätten, welche
Schuldsie auf sich geladen hätten.„Wir ha-
ben hierKinder imGerichtssaal erlebt,die
unter Schlaflosigkeit, Albträumen, Angst-
zuständen leiden. Kinder,die sich selbst
verletzen“, so Grudda.
Strafmildernd wirkte sich aus, dass die
Angeklagten am erstenVerhandlungstag
nahezu alleTaten eingeräumt hatten. Die
Höchststrafevon15Jahrenwäre nichtrevi-

sionsfrei zu begründen gewesen, sagte
Grudda. Für dasGericht bestehe aber über-
hauptkein Zweifel an der Sicherungsver-
wahrung: „Sieist zwingend erforderlich,
Siesind gefährlich“, sagte sie zu den Ange-
klagten. Eine Gutachterin hatte den bei-
den eine „pädophileStörung“ sowie eine
hohe Rückfallgefahr attestiert.
Weil im Lügde-Komplexauch Behörden
Versagenvorgeworfen wird, ermittelt die
Staatsanwaltschaft nach eigenen Angaben
unter anderem gegen acht Mitarbeitervon
Jugendämtern und gegen zweiPolizeibe-
amte. Der nordrhein-westfälische Innen-
ministerHerbert Reul(CDU)sagte nach
dem Lügde-Urteil:„Wir müssen besser
und schnellerwerden, um diese monströ-
sen Taten inZukunft zuverhindern.“
janastegemann Seite 4, Panorama

PrivatePflegeheime


sollenwenigerverdienen


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HEUTE


Im äußerstenNorden undNordwesten wer-
den die Regenschauer zahlreicher. Sonst
bleibt es oft freundlich und trocken. Im
bayerischen Alpenlandregnet es zeitweise
noch. DieTemperaturen erreichen 13 bis
21 Grad. Seite 26 und Bayern

LangeGefängnisstrafen im Fall Lügde


Die zwei Haupttäterhaben mindestens 32 Kinder sexuell missbraucht.DasGericht ordnet spätereSicherungsverwahrung an


Abgehoben


ImmermehrafrikanischeLänder gründen eigeneFluglinien Berlin kritisiert
israelischeRegierung

Scholz will strikteKlimaschutz-Regeln


Der Vizekanzler plant, große Geländewagen höher zu besteuern und strengereStandards für


Heizungen zu erlassen.Geringverdiener sollen dennoch nicht über Gebühr belastetwerden


Johnson beharrt


auf Neuwahl


BritischerPremier will am Montag
erneut darüber abstimmen lassen

+0,85% +1,41% +0,

Die SZ gibt es als App
fürTablet und Smart-
phone:sz.de/zeitungsapp

21 °/7°


Ein Supermarkt-ParkplatzimRuhrgebietmit extragroßen Parkbuchten für SUVs:Geht es nach Olaf Scholz, wird dasFahren solcherAutos teurer. FOTO: IMAGO

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Haben Edith Piaf undJay-Znicht alles ge-
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be haben wir die französische Hauptstadt
neu entdeckt, mitSchriftstellerin Alice Ze-
niterundA. P. C.-GründerJean Touitou.
Mitglieder einessympathischenGeheim-
bundeserzählen,warum sienachtsPari-
serBauwerke reparieren,EinrichterinMa-
rianne Evennouverrät, wieman kleinste
Appartements in schöneWohnungenver-
wandelt.Liebesgrüße ausParis –ein Mo-
deheft. Liegt nicht der gesamten Auslandsauflage bei

ILLUSTRATION

:DIMITROV
Dax▲ Dow▲ Euro▶

„Ich will ja führen“:Nationalspieler JoshuaKimmich im Interview Sport


(SZ) Kaum etwas ist dramatischer als die
Verknappung der Zeit zur Frist. DieUhren
ticken dann anders, selbstwenn sienicht ti-
cken, sondern stumm dieZeit anzeigen.
Dergleichen geschieht derzeit in denMuse-
umsshops der bayerischen Schlösser.Seit-
dem EndeAugust derWappenstreit der
Wittelsbacher an sein Ende kam, läuft die
Monatsfrist ab, in der dort nochPoloshirts,
Baseball-Caps und bestickte Kissenver-
kauftwerden dürfen, die glaubten, sich
mit einerNachahmung desWappens der
Wittelsbacher schmücken zu dürfen. Der
bürgerliche Rechtsstaat in Gestalt des
LandgerichtsMünchenIhat diesenVer-
such massenhaft produzierter Souvenirs,
sich selbst zu adeln, unterbunden.
DerWappenstreit der Wittelsbacher
stand in der internationalen Öffentlichkeit
einwenig im Schatten des Brexit. Sehr zu
Unrecht. Die Engländer machen zwar viel
Aufhebens um Traditionen und ablaufen-
de Fristen, aber beimWappenstreit der
Wittelsbacher ging es um nichtsGeringe-
resals dieZukunft einer alteuropäischen
Tradition in den Zeiten des modernen Kapi-
talismus. Luitpold PrinzvonBayern, der
denWappenstreit erfolgreich ausfocht, wä-
re nicht nur Chef derKönig-Ludwig-Braue-
reiKaltenburg, sondern sogarKönigvon
Bayern,wenn nicht dieRevolutionvon
1918/19 dazwischengekommenwäre. Sie
hat den Wittelsbachern den Thron genom-
men, das Recht amWappen desKönig-
reichs Bayern aber ist ihnen geblieben.
Es waraber aus dem bayerischen Löwen
dieMachtverschwunden.Großgeworden
als Souveränitätszeichen, ging er ein in die
Welt des bürgerlichenNamensrechtes. Die-
ser politischen Demütigung sollte im Sou-
venirshop derNiedergang in derWelt der
Dingefolgen, dieHerabwürdigung des
Wappens zum beliebigverwendbaren de-
korativenElement.Undwurde nicht die
Demütigung dadurchauf die Spitze getrie-
ben, dass die Souvenirfirma, für dieder
Löwekein Hoheitstier mehrwar, sondern
nur noch Deko, imexklusivenAuftrag des
Freistaates Bayern ihreGeschäfte be-
treibt? Denkwürdig ist der Satz, mit dem
Luitpold PrinzvonBayern dagegen zuFel-
de zog: „Es kann nicht sein, dass dasWap-
pen meinerFamilie, des HausesvonWit-
telsbach, zum Freiwild fürHerstellervon
Merchandising-Produktenwird. “Die Wap-
pen als Freiwild–eine ganze alteuropäi-
scheMenagerieist in dieserFormel aufge-
rufen, dieLöwen undAdler, Bären und Ros-
se als Hauptdarsteller der Souveränität in
derHeraldik. Es entbehrt nicht der Ironie,
wenn nun der bürgerliche Rechtsstaat sie
in seine Obhut nimmt und dagegen
schützt,zum Freiwilddes modernenMark-
tes zuwerden. Aber auchwenn in denMu-
seumsshopsdie Frist ausgelaufen und das
letztePoloshirt abverkauft ist, bleibt ein
Gesetz der europäischenGeschichte unan-
getastet:AusWappenkunde wirdWaren-
kunde.Nicht zuletzt in derKönig-Ludwig-
Brauerei des Prinzen Luitpold.


DASWETTER



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