Süddeutsche Zeitung - 06.09.2019

(Michael S) #1

I


Jetzt mal angenommen, es käme einer.An-
genommen, dawäre plötzlich einer,der die
Menschen begeistert und mitHoffnung er-
füllt.Einer,der siemobilisiert, der sieorga-
nisiert und ihnen Schwungverleiht. Der ei-
ne große Bewegung hinter sich schart, oh-
neideologischenBallast,offenfüralle,die
an derZukunft mitarbeitenwollen. Einer,
der siealle unmöglich aussehen ließe,Olaf
Scholz und Annegret Kramp-Karrenbauer
und die anderen. EinNeuer, ein Erneuerer,
einvonder altenBundesrepublik und ih-
rerPolitik und ihrem zerfallendenPartei-
ensystem gänzlichUnkontaminierter.
Angenommen, der Mann (angenom-
men, es ist einer)hat Erfolg. GewinntLand-
tagswahlen.WirdMinisterpräsident. Ange-
nommen, der Schwung dieses Sieges trägt
ihn durch den Bundestagswahlkampf bis
an die Spitze allerUmfragen. Angenom-
men, sein Hinzukommenverändert das
Spektrum der politischenMöglichkeiten
radikal.Sosehr,dasses,angenommen,für
eine eigeneMehrheit reicht am Wahl-
abend. Dass erkeineKoalitionspartner
braucht,keine endlosenVerhandlungsrun-
den,keineKompromisse schließen, Anhän-
ger enttäuschen und Bündnisse mit Leu-
ten eingehen muss, die er eben noch mit
Hohn undVerachtung überschüttet hat. So
wiedie zig Millionen seinerWählerinnen
undWähler es sich ersehnt und erhofft ha-
ben. Angenommen,das Land bekommt in
Rekordzeit eine handlungsfähige Regie-
rung mit einem klaren,kompakten Profil
und Programm. EinTag derErlösung.
Angenommen,erschlägt bei seinem ers-
tenAuftritt nach derWahl einen staats-
männischenundnachdenklichen,manche
finden: geradezuversöhnlichenTonan.
DerWahlkampf,sagt er,habe vieleWun-
den geschlagen. Aber jetzt sei dieZeit des
Streitens und des Redensvorbei. Durch
konkreteTatenwerdeerdiejenigen ins
Unrecht setzen, die ihn alsGefahr für die
Verfassungverunglimpft haben. Es sei der
Souverän, sagt er,der die Macht in seine
Hände gelegt habe: das deutscheVolk. Vor
dieser Entscheidung empfinde er tiefen Re-
spekt, genauso wievordem Grundgesetz.
Er sei derverfassungsmäßig gewählte Bun-
deskanzler. Undvon nichtsund nieman-
demwerde er sich daran hindern lassen, die
in ihn gesetztenHoffnungen zu erfüllen. Er
werde ein Kanzler aller Deutschen sein.
Nicht nur derer,die ihn gewählt hätten. Er
werde dieses tief zerstrittene Land einen.


II


Angenommen, seine Regierung bringtTa-
ge nach der Übernahme der Amtsgeschäf-
te eine Änderung desGesetzes über das
Bundesverfassungsgericht inGang. Die
Medien und diejuristischen Berufsverbän-
de schlagen Alarm: Erwolledas Verfas-
sungsgericht mit Gefolgsleuten vollpa-
cken! Das verfängt aber nichtrecht. DieGe-
setzesänderung beschränkt sich darauf, ei-
nen dritten Senat in Karlsruhe einzurich-
ten, neben den beiden, dieesbereits gibt.
Ein Angriff auf den Rechtsstaat?Na,über-
treiben wir mal nicht. Die Bundestags-
mehrheit kann vier der achtPosten in dem
neuen Senat besetzen, aber für eine Stim-
menmehrheit braucht man immer noch
fünf, oder nicht? In seiner eigenenPartei
wirdEnttäuschung laut, dass der Kanzler
dasVerfassungsgericht, diese Bastion der
Bedenkenträgerei, nicht härter anpackt.
DieMacht der „roten Roben“inKarlsruhe
bleibtvöllig unangetastet!
Ein dritter Senat also, der künftig für
alleVerfahren des Staatsorganisations-
rechts zuständig sein soll: Organklagen,
abstrakteNormenkontrollverfahren,Bund-
Länder-Streitigkeiten,Wahlprüfungssachen
und solche staubtrockenen Dinge. Die bei-
den bestehenden Senate in Karlsruhe, so
dieoffizielleBegründung, sollen sich mit
ihrer ganzen Kraft dem Schutz der Grund-
rechte der Bürgerinnen und Bürger wid-
men. Lässt sich das nicht hören?Klagt
nicht dasVerfassungsgericht selbst seit
Jahren über seine Überlastung?
Die neueRegierung profitiert davon,
dass die Regel,wonach die Richterinnen
und Richter am Bundesverfassungsge-
richtmit Zweidrittelmehrheit gewählt wer-
den müssen,bereits seit einigenJahren ab-
geschafft ist. Dies hatte–sonehmen wir in
diesem Szenario an–die vorherigeMehr-
heit getan. Imletzten Bundestag besaß die
jetzige Regierungspartei schon eine Sperr-
minorität. Die„Altparteien“, wie siejetzt
allgemein genanntwerden,wollten da-
mals um jeden Preisverhindern, dass die
neuePartei bei der Besetzung freiwerden-
derPosten am Bundesverfassungsgericht
ein Mitspracherecht für sich erzwingt.
Theoretischkönnte die neueBundes-
tagsmehrheit jetzt dieseZweidrittelmehr-
heit natürlich auchselbst abschaffen.Da-
für bräuchte sienicht einmal dieZustim-
mung des Bundesrates. Aber sie muss das
gar nicht, das ist bereits erledigt. So oder so
kann niemand die Regierungsmehrheit
daran hindern, die viervomParlament zu
wählenden Richter für den Dritten Senat
ganz alleine auszuwählen. Die Opposition
geht ja nichtleer aus. Die Altparteien ha-
ben ja noch den Bundesrat. In der Länder-
kammerbesitzen sienocheinekomfortab-
le Mehrheit. Er sei bereit, sagt der Bundes-
kanzler, dieviervomBundesrat zu beset-
zenden Richterinnen und Richter ganz ih-
rerAuswahl zu überlassen. Dafür erwarte
er aber auch Respekt für die vierPersonal-
entscheidungen, die der Bundestag fälle.


III


Angenommen, der neueKanzler macht
seinWahlversprechenwahr.Sagen wir: ei-
ne große Steuerreform,verbunden mit ei-
ner massivenErhöhung des Kindergelds
und einem Investitionspaket für Bildung


und Infrastruktur.Das Paketdurch den
Bundesrat zu bringen,warmühsam, ris-
kant und teuer,aber: Es istvollbracht, die
Reform steht im Bundesgesetzblatt, ein
großer Sieg.VonStaatskunst schreibt die
FAZ, vomVolkskanzlerdieBild.
Die unterlegenen Landesregierungen
geben sich aber noch nicht geschlagen. Sie
halten die Reform fürverfassungswidrig:
Viel zu tief greifesie in dieKompetenzen
und in die eigenständige Haushaltswirt-
schaft der Länder ein, so ihr Argument. In
derTatzeichnetsich in Karlsruhe in der
mündlichen Verhandlung deutlich ab,
dass einTeil der Richterbank diese Beden-
kenteilt.
Bei derUrteilsverkündung trägt der Se-
natsvorsitzende eine ernste Miene zur
Schau.Noch nie, sagt er in einerVorbemer-
kung, sei eine Spruchkammer des Gerichts
bei einer so fundamentalen Sache so tiefge-
spaltengewesen.VierderachtMitglieder
des Dritten Senats hielten die Steuerre-
form für eklatantverfassungswidrig. Aber
bei Stimmengleichheit, da seiParagraf 15
Absatz4Satz3des Gesetzes über das Bun-
desverfassungsgerichteindeutig, könne
einVerstoß gegen das Grundgesetz nicht
festgestelltwerden. Die vier anderen Rich-
ter–inder Pressewerden sie „Kanzler-
Richter“ genannt–halten dasGesetz für
korrekt. Damit sei die Klage abzuweisen.
Der Kanzlerverzichtet in seiner Reakti-
on auf jede triumphaleGeste. ImGegen-
teil, sagt er,mache ihm dieGespaltenheit
des Bundesverfassungsgerichts große Sor-
gen.Auch wenn sein Reformpaket dasVer-
fahren in Karlsruhe unbeschadet passiert
habe, hätte nur ein Richter anders entschei-
den müssen, und das ganzePaketwäre ge-
kippt. Schon derRespektvor derdemokra-
tischen Legitimationdes Gesetzgebers ver-
biete es, dieGeltung seinerGesetzevon
dem schwankenden Willen eines einzigen
Verfassungsrichtersabhängig zu machen.
DasJustizministeriumwerdedaher ei-
ne erneute Änderung desGesetzes über
das Bundesverfassungsgericht anstoßen.
Wenn das Gericht eine Entscheidung des
Gesetzgebersfür verfassungswidrigerklä-
renwolle, dann künftig nur noch mit quali-
fizierterMehrheit. Sechs der acht Richter
müssen dafür sein, dasGesetz für nichtig
zu erklären.Wenn mehr als zwei ein soge-
nanntes „normverwerfendesUrteil“ nicht
mittragen, bleibt dasGesetz in Kraft. Diese
Idee, fügt der Kanzler schmunzelnd hinzu,
sei übrigens gar nicht seine. Die habe er
vonder CDU.Essei ja nicht alles immer
schlecht,wasvon den Altparteienkommt.
Die Opposition ist entsetzt. Der Kanzler
wollesichdie verfassungsgerichtlicheKon-
trollevom Hals schaffen! Damit immuni-

sieresichdie Regierungsmehrheit im Par-
lament gegenjedes Risiko, mit ihrenGeset-
zen in Karlsruhe aufgehoben zuwerden!
Damitkönne die Regierung machen,was
siewolle! Das sei das Ende des Rechts-und
Verfassungsstaats! Es gibt eine Sondersen-
dung im öffentlich-rechtlichenFernsehen,
eine Mahnwache im Karlsruher Schloss-
garten, und in Berlin, Frankfurt und eini-
gen anderen Städten demonstrieren Zehn-
tausende friedlich für Demokratieund
Grundgesetz.
DieIdee, gegen dasGesetzvordas Bun-
desverfassungsgericht selbst zu ziehen,
wirderwogen und wieder fallen gelassen.
Zu begründen, dass eine solche Änderung
nicht in der Macht der Legislative liegen
sollte, erweist sich als staatsrechtlichkei-
neswegs trivial. Außerdem würde man
Karlsruhe in diepeinliche Lage bringen, in
eigener Sache urteilen zu müssen. Vor
allem aber, stellt manernüchtert fest, wür-
de derNormenkontrollantrag beim Drit-
ten Senat landen. Dem Senat mit den vier
„Kanzler-Richtern“. Das kann man sich
schenken.

IV
Lange–sonehmen wir ferner an–hatte
dieBundespräsidentinversucht,demKon-
flikt mit der Regierung aus demWegzuge-
hen. Sie ist das Staatsoberhaupt, aber sie
hatkeine Macht, und dasweiß sie. Sie ist
nichtvomVolkgewählt, sondernvoneiner
parlamentarischen Minderheitplus ein
paarHundert Landtagsdelegierten, dienie-
mandkennt. Sie hält Reden, mahnt zur Be-
sonnenheit, erinnert an dieWerteordnung
des Grundgesetzes und ist um jedenTag
froh, dervorübergeht, ohne dass sie mit
dem KanzlerStreit bekommt.
Das, so spürt sie zu ihrer Beunruhigung,
wirdaber zunehmend schwierig. Fast
scheint es, als suchte der Kanzler dieAus-
einandersetzung mit ihr.Inseinen Tweets
häufen sich sarkastische Spitzen gegen
sie, die auf guteWorte und gutenGlauben
Angewiesene.Was dahintersteckt, wirdihr
klar,als der Innenminister seine Reform
der Bundespolizei der Öffentlichkeitvor-
stellt.
Das Gesetz kann sie nicht unterschrei-
ben.Nicht ohne den Rest an Respekt, der
ihr als Präsidentin noch entgegengebracht
wurde, zuverlieren. Am gleichenTag, als
siebekannt gibt, dass siewegenverfas-
sungsrechtlicher Bedenken das Gesetz
nicht ausfertigenwerde, hält auch der
Innenminister eine Pressekonferenz ab. Er
stellt ein Rechtsgutachtenvor, das er sich
voneinem ehemaligenVerfassungsrichter

hat schreiben lassen. Ob und inwelchem
Umfang das Grundgesetz denBundespräsi-
dentenermächtige, Gesetze auf ihreVerfas-
sungsmäßigkeit zu überprüfen, sei in der
Fachwelt seitJahrzehnten umstritten, so
lautet der Befund des Gutachters. Die bes-
seren Argumente sprächen dafür,die Prü-
fungskompetenz des Staatsoberhaupts
strikt auf dieFormalien desGesetzge-
bungsverfahrens zu beschränken. Ob ein
Gesetz in Grundrechte oder in dieZustän-
digkeiten der Bundesländer eingreife,kön-
ne nur das Bundesverfassungsgericht
überprüfen, nicht die Präsidentin. Er emp-
fehledaher eine Organklage in Karlsruhe,
um ein für allemal für Klarheit zu sorgen.
Seine Regierung gedenkeder Empfeh-
lungdes Professorszufolgen,verkündet
der Kanzler.Eskönne doch nicht sein,dass
dieBundespräsidentin sich grundgesetz-
widrig zurHüterin derVerfassung auf-
schwinge. In der Zeit derWeimarer Repu-
blikhabemanjagesehen,wohindasführe.
Er habevollstesVertraueninden Dritten
SenatinKarlsruhe, dass er mit dieser unde-
mokratischen Praxis aufräumenwerde.

V
Es sei nicht seineIdee gewesen, dasWahl-
recht auf dieAgenda zu setzen, sagt der
Kanzler.Das Thema sei eines der vielen
Probleme, die ervonder Allparteienregie-
rung geerbt habe. Seit mehr als einemJahr-
zehnthätten sich die Altparteienals unfä-
hig erwiesen, für einverfassungsmäßiges
Wahlrecht zu sorgen. Der Bundestag
werdemit jederWahl größer,womöglich
werdeerauf über 1000 Abgeordnete
anwachsen, prophezeiten Experten. Das
sei dochvöllig irre! Dieverantwortlichen
Politiker aus den Altparteien hätten sich
auf dieseWeise lang genug ihreTaschen
mit Diätenvollgestopft. Damit sei jetzt
Schluss.
Künftig,erklärt der Kanzler,werde der
Bundestag ganzkorrekt und sauber nach
einem sogenannten Grabensystem ge-
wählt: Die Hälfte der Mandate geht nach
dem Mehrheitswahlrecht an siegreiche
Wahlkreiskandidaten, die andere Hälfte
wirdnach demVerhältniswahlrecht an die
Parteienlistenverteilt. Das sei gar nicht so
sehr vielanders als bisher,nur könnten die
Wählerinnen undWähler künftig mit ihrer
Erststimme tatsächlichwählen,wemsie
dieVertretung ihrerlokalen Interessen im
Bundestaganvertrauen wollen.Außerdem
müsse der aufgeblähte Bundestag deutlich
verkleinertwerden. 500 Parlamentarier
seienvollauf genug, schon ausKostengrün-
den. Der neue Präsident des Statistischen

Bundesamts, ein tüchtiger Mann, den er
seit seinerJugendzeit gutkenne, sei in sei-
ner Eigenschaft als Bundeswahlleiter mit
derAufgabe betraut, einenVorschlag für
dieNeueinteilung der nunmehr 250Wahl-
kreise zu erarbeiten. Entscheidenwerde
darüberkeine undemokratischeKommis-
sion, sondern dasParlament selbst. Diebis-
herige,vonBundespräsidenten ernannte
Wahlkreiskommissionwerdeabgeschafft.
EineZustimmung des Bundesrates zu
der Reform, so der Kanzler,halte er nicht
für nötig. Davon stehe nichts in Artikel 38
Grundgesetz.Undwenn die Länderkam-
mer das anders sehe, dannsolle siehalt kla-
gen. Er sehe einer Entscheidung des Drit-
ten Senats des Bundesverfassungsgerichts
mit größterGelassenheit entgegen.
Es fällt der Opposition nichtschweraus-
zurechnen,wasdieseWahlrechtsreform
für ihre Erfolgschancen bedeutet. Sogar ei-
ne Zweidrittelmehrheitliegt für dieRegie-
rungspartei in realistischer Reichweite.
Nurein breitesWahlbündnis kann ihr den
Sieg bei den nächsten Bundestagswahlen
noch streitig machen,wenn überhaupt.
DieVerhandlungenverlaufen zäh. Über-
raschend geben zwei Präsidiumsmitglie-
der der CDU bekannt, aus dem Bündnis
ausscheren und mit jeweils neuenParteien
auf eigeneFaust zu denWahlen antreten
zu wollen. Er begrüße das, sagt der Kanz-
ler. Vielfalt undPluralismus seien ja im-
mer schön. Dafür habe seine Regierung ja
kürzlich eigens dasParteienrecht liberali-
siert, um esleichter zu machen, mit neuen
Köpfen undIdeen und mit schlanken und
schlagkräftigen Organisationen im demo-
kratischenWettbewerb an den Start zu ge-
hen. Das neue Recht der Parteienfinanzie-
rung mache die Gründung neuerParteien
auch finanziell ausgesprochen attraktiv,so-
fern man sich an dieRegeln halte.
Werdas nicht tue, müsse mit Sanktio-
nenrechnen. Das sei nur normal.Gerüch-
te, den Grünen drohten Problemewegen
ihres Rechenschaftsberichts, wolle er
nichtkommentieren, sagt der Kanzler.Die
Kontrolle derParteienfinanzen sei Sache
des Bundestagspräsidenten, ebenfalls ein
langjähriger und guter Freund, der sich ge-
wissenhaft um diese Dinge kümmere.
Wenn auf dieGrünen jetzt mitten imWahl-
kampf eine Millionenstrafe zukomme,
dann sei das sicherkeine leichte Situation.
Aber man dürfehalt nicht immer anderen
Vorschriften machenwollen und sich dann
selbst nicht daran halten, nichtwahr?

VI
Er habe dieAbsicht, sagt der angenomme-
ne Kanzler,sich bei der bevorstehenden
Bundestagswahl um ein robustes demokra-
tisches Mandat für einVorhabenvongröß-
ter Wichtigkeit zu bewerben. Wieder und
wieder habe in denletzten vierJahren die
Opposition über den Bundesrat die Macht
an sich zureißenversucht. Er sei nicht wil-
lens, dem noch länger tatenlos zuzusehen.
Demokratiesei nicht dazu da, dass die
Wahlverlierer alles blockieren,verhindern
und durchlöchernkönnen, wofür derWahl-
siegervomdeutschenVolk gewähltwor-
den ist. Das Grundgesetz sei ihm so lieb
und teuer wie jedem guten Bürger.Aber
der Souverän seien in Deutschland doch
nicht irgendwelche ProvinzfürsteninWies-
baden,Potsdam oder Kiel, sondern einzig
und allein das deutscheVolk.
Es sei an der Zeit, derWahrheit insAuge
zu sehen:Deutschland brauche eine neue
Verfassung. Das Grundgesetz„verliert sei-
ne Gültigkeit an dem Tage, an dem eineVer-
fassung in Kraft tritt, dievondem deut-
schenVolkeinfreier Entscheidung be-
schlossenworden ist“.Das stehe ja so aus-
drücklichdrin in Artikel146. Er nehme die-
senAuftrag des Grundgesetzes sehr ernst.
Bei der Wiedervereinigung 1990 habe man
sich nicht dazu entschließenkönnen, die
alten Strukturen und die alten Eliten ent-
schlossen beiseitezuräumen und denWeg
zu einer echten, gesamtdeutschenVerfas-
sung zu gehen.Wasman damals nicht zu
Ende gebracht habe, müsse man eben jetzt
zu Ende bringen.
Wenn dasVolk ihm in diesemHerbst er-
neutseinVertrauen schenke, sagt der Kanz-
ler, dannwerdeerdafür sorgen, dass das
Volk selbst über seineVerfassung entschei-
denkönne. EineVolksabstimmungwerde
er in dieWege leiten. Dafür müssten die
gesetzlichen Grundlagen noch geschaffen
werden. Daswerde zu den ersten Dingen
gehören, dieernach seiner Wiederwahl in
Angriff nehmenwerde.
Der Bundestag alsVertretung des deut-
schenVolkes sei der richtige Ort, um zu de-
battieren, wie dieneueVerfassung ausse-
hen solle. Erkönne auf umfangreicheVor-
arbeiten aus der letzten Legislaturperiode
zurückgreifen, in der seinePartei ja schon
einmal, leider erfolglos, eine umfangrei-
cheVerfassungsreform initiiert habe. Er
sei sicher,dass es demParlament in be-
währter zügiger und tatkräftiger Manier
gelingenwerde, binnenwenigerWochen ei-
nen Entwurf zu beschließen.
DieOpposition,sagtder Kanzler in unse-
remSzenario, sei herzlich eingeladen,sich
an dieser Arbeitkonstruktivzubeteiligen
und zuversuchen, dasParlamentvonih-
renIdeen undVorschlägen zu überzeugen.
Wenn sievondieser EinladungkeinenGe-
brauch machen und sich stattdessen in die
Schmolleckezurückziehenwolle, sei das ih-
re Sache. Er für seinenTeil sei entschlos-
sen, die freieEntscheidung des deutschen
Volkes über seineVerfassung zu respektie-
ren. Er empfehleallen anderen in diesem
Land mitNachdruck, es ebenfalls zu tun.
Verfassungsfeinde hättenvonihmkeine
Schonung zu erwarten.

Maximilian SteinbeisistStaatsrechtler undbe-
treibt den„Verfassungsblog“.Zuletztpublizierteer
zusammen mitStephanDetjen das Buch „Die Zau-
berlehrlinge. DerStrei tumdie Flüchtlingspolitik
undder Mythosvom Rechtsbruch“.

Ein Volkskanzler


Nehmen wir an, einPopulist bekäme bei einer Bundestagswahl


dieabsoluteMehrheit.Könnte er mit den Mitteln


der demokratischenVerfassung das Grundgesetzaushebeln?


Ein Zukunftsszenario.VonMaximiliam Steinbeis


DEFGH Nr.206,Freitag ,6.September2019 HF3 11


Feuilleton
ZumTag desoffenen Denkmals:
Müssen Bautender Postmoderne
geschütztwerden? 12

Literatur
Norbert Scheuers Roman
„Winterbienen“und di eEinheit
aller Dinge 14

Wissen
Klimaanlagenverströmen
zu viele Treibhausgase. Gibt
es saubere Alternativen? 16

www.sz.de/kultur

Der Dirigent Daniel Barenboimhat den
Vorwurf eineskörperlichenÜbergriffs
gegen eine Mitarbeiterin der Berliner
StaatsoperUnter den Linden zurückge-
wiesen. Er habe die Orchestermana-
gerinweder geschüttelt noch berührt,
erklärte derGeneralmusikdirektor der
Staatsoper.Erräumte ein, die Mitarbei-
terin bei einer Diskussion angeschrien
zu haben. Die Orchestermanagerin
hatte im Online-KlassikmagazinVan
berichtet, Barenboim habe sie im März
2018 in derGarderobe der Staatsoper
mit beiden Händen zwischen Schulter
und Hals gegriffen und geschüttelt. Die
Frau warf StaatsopernintendantMatthi-
as Schulzvor, nicht ausreichendauf
ihreBeschwerden reagiert zu haben.
Barenboim erklärte, er habe sich bei der
Mitarbeiterin entschuldigt. dpa

Der Klimawandel macht historischen
Parks undGärten nach Ansichtvon
Experten zunehmend zu schaffen. Der
Gartendirektor der Stiftung Preußische
Schlösser undGärten Berlin-Branden-
burg(SPSG), Michael Rohde, sagte in
einem Interviewder KatholischenNach-
richten-Agentur,imAllgemeinen sei
das Thema Klimaschutzzwar in der
Gesellschaft angekommen. „Doch sind
vonden Auswirkungen des Klimawan-
dels auch dieKulturlandschaften und
diehistorischenParks und Gärten be-
troffen.“Maßnahmen zur Klimaanpas-
sung müssten zusätzlich zu den gärtne-
rischen Routinearbeiten geleistetwer-
den. „DieFachpflege wirdalso künftig
deutlich anspruchsvoller werden, und
dafür brauchen wir zusätzlichefinanzi-
elleMittel.“ kna

Der langjährigeFotografvonElvisPres-
ley, Ed Bonja, ist am Mittwoch im Alter
von74Jahren nach schwerer Krankheit
in einem Berliner Krankenhaus gestor-
ben. Das teilte der Berliner Showprodu-
zent BernhardKurz mit, der mit ihm
seitJahren für eineMusical-Produktion
über Elvis PresleyinBerlin zusammen-
arbeitete. DerFotograf kannte Presley
nach eigenen Angaben seit den Sechzi-
gerjahren undwarinden Siebzigerjah-
renKonzertfotograf.Aufnahmenvon
Bonja zieren auch LP-Cover. Sein Archiv
soll rund 9000FotosvonElvis Presley
umfassen. dpa

Der RegisseurPedroAlmodóvargeht
für Spanien ins Rennen um den Oscar
in der Kategorie bester internationaler
Film. SeinWerk „Leid undHerrlich-
keit“,das im MaiWeltpremierein
Cannesfeierte, wurdevonder Spani-
schen Filmakademie am Donnerstag als
offizielleEinreichung des Landes nomi-
niert.Oberesauch auf die Shortlist
schafft, wirdsich in den nächstenMona-
ten entscheiden. Aber dieChancen des
Filmemachers, der Ende desMonats 70
wird, stehengut. Seine Filme „Alles
über meineMutter“(1999, bester aus-
ländischer Film)und „Sprich mit ihr“
(2002, bestes Drehbuch)wurden bereits
mit einem Oscar ausgezeichnet. sz

Bei den traditionellenOberammergau-
er Passionsspielen imkommendenJahr
sollJesus nach AnsichtvonTierschüt-
zern nicht auf einem Esel, sondern auf
einem E-ScooternachJerusalem einzie-
hen. Der Ritt eines erwachsenen Chris-
tus-Darstellersauf einem Esel sei tier-
schutzwidrig, erklärte dieOrganisation
Peta am Donnerstag. „Heutzutage wür-
de Jesus nicht mehr auf einem Esel
reisen. Er würde sichvermutlich auf
einem E-Roller oder mit einem anderen
tier-und umweltfreundlichen Elektro-
mobil fortbewegen“, hießesineiner
Mitteilung. Deswegenforderte dieTier-
schutzorganisation unter anderem den
Bürgermeister derGemeinde im Land-
kreisGarmisch-Partenkirchen auf, bei
den Passionsspielen imkommenden
Jahr auf Tiere zuverzichten. DieVeran-
stalter teilten auf Anfrage mit, sich an
diegesetzlichenVorschriften zum Tier-
schutz zu halten. Die Alternative mit
E-Scootern sei nicht denkbar, sagte ein
Sprecher.Die Passionsspielestünden in
einem historischenKontext, in dem es
nochkeine Elektrofahrzeuge gegebe-
nen habe. dpa

FEUILLETON

ILLUSTRATION: STEFA

NDIMITROV

HEUTE


Barenboimdementiert


KlimawandelinParks


Elvis’Fotografgestorben


Almodóvarauf Oscarkurs


Jesus aufE-Roller?


KURZGEMELDET

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