Süddeutsche Zeitung - 06.09.2019

(Michael S) #1
vonhubertwinkels

W


egreißend, umstürzend, durch-
schüttelnd,verkrampfend–Epi-
lepsie ist eine Krankheit,die den
Körper in einenParoxysmus stürzt und
dasIchaußersich. Es ist eine uralteNerven-
krankheit, so alt wie diemenschlicheZivili-
sation, zu antiken Zeiten galt sie als heilig,
morbus sacerwurde siegenannt, und der
Krankewar ausgezeichnet, stigmatisiert.
Mal im Guten, mal im Bösen. Bei denNazis
wardie Krankheit einTodesurteil für den
Betroffenen. Egidius Arimond, derHeld
undIch-Erzähler inNorbert Scheuersneu-
em Roman„Winterbienen“,ist Epileptiker.
MitMedikamenten hat er die Symptome ei-
nigermaßen im Griff, doch diesind in den
Kriegsjahren 1944/45schwerzubekom-
men.
Tatsächlich aber sind es dieZeiten und
Tage, ist es dieAußenwelt, die außer Rand
und Band geraten ist. Es tobt der Luftkrieg,
dieBomber der Alliierten überquerenvom
Westendie Eifel, um ihretödliche Fracht
im Ruhrgebiet und über den rheinischen
Großstädten abzuwerfen, schließlich wird
dasVulkangebirge mit seinenverspreng-
ten Dörfern und Kleinstädten selbst zum
Zielgebiet.Vergeblich donnert dieFlugab-
wehr und schickt nachts ihreSuchlichter
in den lärmenden Himmel. Am Ende ste-
hen die kämpfenden Bodentruppen in den
GaststättenundvordenStällenundBie-
nenkörben der Eifelbauern. DieWelt hat ei-
nen epileptischen Anfall, der Paroxysmus
tötet ihreNervenzellen, ihreFunktions-
systeme also, und erreißtalles und jeden
mit.


In dieser Zeit,vonJanuar ’44 bis Ende
Mai ’45, hält Egidius Arimond das Gesche-
hen auf einzelnenTagebuchblättern fest.
Der sozialeAußenseiter tut es unaufgeregt,
sachlich, lapidar.Ineinem Duktus, als ob
im Inneren des Wirbelsturms der ruhigste
Ort derWelt sei.Wenn wir dieGegenstände
seiner Aufzeichnungen nach Häufigkeit
und Bedeutung ordnenwollten, müssten
wir seine Bienen zuerst nennen, dieOrgani-
sation ihres biologischen Gesamtkörpers,
ihreunablässige Arbeit fürKönigin und
Volk.Egidius’ Sorge und Pflege gilt ihnen
ganz.Underliebt die Frauen, mitten im to-
bendem Lärm träumt ervonihnen und geht
neueVerhältnisse ein, schließlich gar mit
der Ehefrau des Kreisleitersder NSDAP.
Egidiusliestviel, in der Ortsbibliothek
vonKall hat er seine eigenenverbotenen
Bücherversteckt, und er geht dort den
schriftlichen Spuren seinesUrahns Ambro-
siusArimondnach, der Anfang des 16.Jahr-
hunderts aus demTessin in die Eifel ge-
kommenwar, als Begleiter des ambulan-
tenHerzens des verstorbenenPhiloso-
phen, BischofsvonBrixen und Generalvi-
karsdes VatikansNikolausvonKues. Am-
brosius’ Aufzeichnungen, den Tagebü-
chern des Egidius eingefügt, erzählenvom
mühseligen Transport des heiligenHer-
zens des Cusanus über dieAlpen, und wie
zu dessen Schutz und als seine Begleitung
dieBienen aus demTessin in den armen
Nordwesten Deutschlands gelangten.
ÜbersetzungsfetzenvonNicolaus Cusanus
sind unter Ambrosius’Herzensgeschich-
ten gemischt, einePhilosophie derZusam-
mengehörigkeit und Ähnlichkeit aller Din-
ge in derWelt ist so gerade noch erkenn-
bar.
Doch die eigentliche Botschaft ist wie
immer beiNorbert ScheuerkonkreterNa-
tur.Hiersind es die vielvermögendenBie-
nen, in deren antibiotischem Harz das
Herz desHeiligeneinbalsamiert ist und de-
renkomplexeLebensform sich in einem
stetigen, nach Tag- undNachtzeiten, nach
Jahreszeiten und Arbeitsanfallunterschie-
denem Surren und Summen demAufmerk-
samen offenbart.Immer wieder liegt Egidi-
usvorden Bienenstöcken im Gras und
lauscht sich in den Schlaf, die Seelenruhe
oderins Tagträumen.


Der Epileptiker und die Fluchtvorder
großen gewalttätigenGeschichte ins Klei-
ne und Allerkleinste. Das Abseits als siche-
rerOrt. Die Schönheit der feinen und lei-
sen Ränder der schreienden lautenWelt –
so scheint es manchmal bei der Lektüre, so
möchte man es manchmallesen, so möch-
te man sich manchmalselbst retten. Doch
so ist es nicht, so lässt es der Roman nicht
zu. Er hat seinenHelden vielfältig mit den
Schrecken seiner Zeitverknüpft, doch er
tut das so antiklimaktisch bedächtig, so an-
tiepileptisch ruhig, dass man diestarken
Tathandlungen aus der sachlich-meditati-
venVerpackung eigens herausarbeiten
muss.
So muss man in Egidius Arimond einen
tapferen Fluchthelfer für bedrohteJuden
inNazideutschland erkennen. Er istTeil ei-
neranonymen Organisation, die Flüchten-
de über die nahe Grenze nach Belgien
bringt.Vonmehreren solcher lebensge-
fährlichenUnternehmungen berichtet Egi-
dius imTagebuch. Erversteckt denHerois-
mus dieserTaten in mehreren Schichten.
DieAktion wurde ihmvonFremden ange-
tragen, mit Zetteln und schriftlichen Zei-
cheninBüchern der städtischen Biblio-
thek. Er machtesnur,weil erGeldbraucht
für seine teurenMedikamente. Er kann es

leichter als andere,weil er ein Loch, einen
Spund, wieesheißt, im Sandsteinfelsen
hinter seinem Hauskennt, das zu einem
ausgedehnten Stollensystemaus Bergbau-
zeiten gehört.Zudem liegt eine Wiese mit
weiteren Bienenstöckenvonihm gleich an
der belgischen Grenzeund wasder Tiefsta-
peleien mehr sind.

Unddannlesen wir nur kurzvonder ei-
gentlichen abenteuerlichenRettungsakti-
on, dafür staunen wir umso mehr,wie Egi-
dius diese mit der Bienenliebe, und diese
mit der Frauenliebeverknüpft. Er trans-
portiert die Flüchtenden invergrößerten
Bienenkörben, heftet ihnen fünf Locken-
wicklerröllchen an die Kleidung, in denen
jeweils eine Bienenkönigin gefangen ist.
ImFall einer Durchsuchungdes nächtli-
chen Transports durchPolizei und Militär
würdenTausende schwirrende Bienen die
Versteckten bedecken; diese würden
gleichsam zum Bienenkörper,einem
Traum des Schreibers auchvonsichselbst:
Bienenwerden!Unddie Haarröllchen, der

weiblichen Schönheit zugeordnet, hat Egi-
dius seinen Geliebten gestohlen, seinenKö-
niginnen desHerzens.
Über solcheNähe, Berührung, Übertra-
gung, analogische oder symbolischeVer-
bindungen, hier zwischen Krieg und Cusa-
nus, Bombern und Bienen, Krankheitslei-
den und Liebeslust, hängen alleElemente
des Romans aufs Innigste zusammen.
Dochkeine dieser tiefenVerknüpfungen
wirdexponiert oder gefeiert. Im Gegenteil:
Der lapidareTonfall des Erzählers, eigent-
lich nur ein Berichterstatter imTagebuch-
format, ist ein rhetorischer Schutzvorge-
schichtlichem und rhetorisch-literari-
schemHeldentum. DieTathandlung selbst
ist eine Zeichenhandlung, ein performati-
verAkt mit ungewöhnlichen Bedeutungs-
trägern: klug eingesetzte tanzende Bienen
als schützendes Covereines designierten
Opfers.NaturnutzendeVortäuschung als
versierte Zeichennutzung. Egidius kann
dabei an der Raffinesse der Bienenkommu-
nikation selbst anknüpfen, ihrer Art, Bot-
schaften an ihresgleichen inTanzbewegun-
gen zu codieren.Schonder spätmittelalter-
liche Ambrosius, Übersetzer des Cusanus,
hatte über dieBewegungen der Bienen als
Ausdrucksformen gerätselt. DerVerhal-
tensforscher Karlvon Frisch schließlich

warder Erste,der dieanalogischeHinweis-
funktiondesBienenflugserkannte.Mit
ihm hat unser Bienen beobachtender,Bie-
nen liebender,Bienenverstehender Ro-
man-Egidius gar einen kurzen Briefwech-
sel.Kurz, diebiologischen, dinglichen, sozi-
alen und alltäglichen oder historischen
Handlungsmilieus sind allesamt über die
Ähnlichkeiten ihrer Funktions- und Bedeu-
tungsstrukturineinanderkonvertierbar.
DieKunstNorbertScheuers bestehtdar-
in, diese Übertragbarkeit klug und schön
zu nutzen; die größereKunst ist es aber,
dieweiteren und tieferenVerbindungen
zwischen denWeltenlediglich bereitzustel-
len, sie dem Leser anzubieten, ihn zum
selbsttätig ausführenden Organ dieser
Übertragung zu machen. Der Leser ist es,
der immerweitereSchichten des inneren
Zusammenhangs der Dinge als Zeichen
entdeckt, bis hinunter zur naturphilosophi-
schen Denkweise der Cusanus und herauf
zur Analogievon Spundloch im hölzernen
Bienenstock, durch das die Tiereaus- und
einfliegenkönnen, zum „Spund“ im Sand-
steinfelsen, durchwelchen die Flüchten-
den in die Freiheit geführtwerden.

„Winterbienen“ist Norbert Scheuers
neuntes erzählendes Buch über die Eifeler
Gegend rund um die Kleinstadt Kall.Jeder
Romanhatdabeieinhistorischundräum-
lich reales Bezugssystem, auf dass sich alle
Emotionen,Gedanken undGeschichten be-
ziehen lassen. Im Roman „Der Steine-
sammler“ sind es tatsächlich dieSteinbrü-
che, das Zementwerkund die mineralogi-
schem Besonderheiten der Gegend. In
„Überm Rauschen“sind es der Fluss, dieFi-
sche und diebizarrenKöder der Fliegenfi-
scher; in „Die Sprache desVögel“ sind es
exotischeVögel in Afghanistan, heimische
in der Eifel; in „Am Grund desUniver-
sums“ sind es der Stausee und die Gruben
und Stollendes aufgelassenen Bergbaus.
Siebilden jeweils einen die Romanhand-
lung bergenden realen Raum, und siedie-
nen als alternativesUniversum, auf das
sich das alltägliche Leben metaphorisch be-
ziehen lässt.
EinenHöhepunkt hat dieseKonjunkti-
on der karg-realen und der sehnsuchtsvoll
beschworenen Sphäreoft in einerVer-
schmelzung, die etwasWahnsinniges hat,
und etwasHeiliges. So wirdHermann Ari-
mond im„Überm Rauschen“amEnde
selbst zum ersehntenUrfisch.Undder Va-
ter des Afghanistan-HeimkehrersPaul Ari-
mond stürzt sich mit ausgebreiteten Ar-
men als Greifvogelvonder hohenTalbrü-
ckeherab. Sparsam gesetzte, große Roman-
momente.Natürlichkann man die Bienen,
das Bienen-werden-Wollen des Egidius
Arimond in„Winterbienen“hier einrei-
hen. Am Ende, schon im Danksagungs-
nachspiel des Romans, gibt es denVer-
schmelzungsmoment als perverses Kriegs-
geschehen, und dennoch in aller Scheu-
er’schen Großartigkeit–auch mit Wink
Richtung Cusanus und seiner Alleinheits-
idee: So heißtes, nunvonDritten repor-
tiert,über Egidius: „erwardurch dieExplo-
sion des schweren SprengkörpersinAber-
tausende Partikel zerrissen worden.
Schwärmevon Bienenhatten angeblichge-
rade ihreStöckeverlassen, sieschwebten
in Wolkenvonschwirrenden Schleiern
übersFeld, so alswäre gar nichts gesche-
hen;sie erschienen wietanzendeSterne ei-
nes summendenUniversums.“
Menschenglieder,Bienen, Sterne: Die
beiläufige Entfaltung einer doppelten und
dreifachenWelt, nämlich einer historisch
realen und darin real eingelagerter und
trotzdem ganz eigener metaphorischer
Welten, ist zu einem MarkenzeichenNor-
bertScheuers geworden. In„Winterbie-
nen“zeigt sich seine Kunst in entspannter
Meisterschaft.

Norbert Scheuer:Winterbienen.Roman, C. H. Beck
Verlag, München 2019. 319 Seiten, 22Euro.

Ein großes Thema: dasVerhältnisvonMo-
ralund Kapitalismus. Für vielesteht fest,
dassder Kapitalismusmaßlosund skrupel-
losist, der Antipode jeglicherMoral. Ute
Frevert jedoch sieht es differenzierter,ihr
neues Buch würdigt sogar dieMoral als
„kritische Antriebskraft undKorrektur-
quelledes Kapitalismus“.Dazu widmet
sich die Historikerin angenehm sachlich
und mitanschaulichen Beispielenverschie-
denenVersuchen derletzten zweieinhalb
Jahrhunderte, den Kapitalismus zu zäh-
men, indem man seine Akteuredazuver-
pflichtet, nicht nur nachGewinnmaximie-
rung zu streben, sondern sich genauso um
humanitäreWerte sowieden gesellschaftli-
chen Frieden zu kümmern.
Lange waren es etwasozialeKonventio-
nen, die dafürsorgten, dass Arme–oft un-
terkirchlicherObhut–Almosen von den
Wohlhabenden erhielten.Späterregelten
Instanzen wieder Sozialstaat,die Steuerge-
setzgebungoderdie Mitbestimmung der
Arbeitnehmerdie AufteilungvonGewin-
nen.Zuverlässig erwiesen sich moralische
Empfindungenals genügend stark, um
denKapitalismus in seineSchrankenwei-
sen zukönnen. Dochsind sich Markt und
Moralimmer wiedernoch auf andere Wei-
se begegnet, die Frevert viel kritischer beur-
teilt. Sokönnen moralische und sozialeIde-
aleselbst zurWare werden. Sie beschreibt
dasetwaamBeispiel des FreikaufsvomMi-
litärdienst, einerimfrühen 19.Jahrhun-
dertvor allem in Frankreichverbreiteten
Praxis. Derhehren Pflicht,dem eigenen
Land zu dienen,konnteman auch dadurch
nachkommen, dasssich einErsatzmann
fand,dem maneine Prämie zahlte.
WerdiesefinanzielleLeistung erbrach-
te, galtnicht als Drückeberger,sondern
wargesellschaftlich genauso anerkannt
wiejemand, der zum Militär ging.Wäh-
rendwohlhabendereBürger also allein
dank ihresGeldes moralisch gerechtfertigt
waren, musstenÄrmereviel dafürtun, so-
gar ihr Leben riskieren. FrevertsVorwurf:
SozialeUngleichheitwerdedurch solche
FormenvonAblasshandel gesteigert, die
gesellschaftlich-moralischenWerte selbst
würden„untergraben“.

Das aber gilt erst rechtfür dieGegen-
wart, in der Frevert einen „medialhochge-
jazzten Marktpopulismus“ amWerk sieht.
Er suggeriert, alles lasse sich auf den
Markt bringen, jederWert sei käuflich.
ManbrauchtalsonichteinerNGObeizutre-
ten oder eine Bürgerinitiative zu gründen,
um ein sozialesoder ökologisches Problem
anzugehen, vielmehrgenügt es, Produkte
der „richtigen“Marken zu kaufen, um sich
als engagierter,gar als bessererMensch
fühlen zu dürfen. Doch, so Freverts Be-
fürchtung,„wenn man sichvomSchutz
derUmwelt oder der Hilfefür Flüchtlinge
freikaufen kann, löst sich die moralische
Substanz einesGemeinwesens Stück für
Stück auf“.MoralischesHandeln lässt sich
gerade nicht delegieren, Konsum ist bes-
tenfalls ein Handlungsersatz,könnte man
zur Begründung ihrer Kritik sagen. Sie
selbst führt das leider nichtweiter aus und
bringt nicht einmal Beispiele.
Vorallem aber stehen Freverts Warnun-
gen zu losgelöstvonihrem sonstvorherr-
schenden Optimismus hinsichtlich der so-
zialenVerträglichkeit des Kapitalismus.
Dabei hätte sie an dem Material, dassie lie-
fert, durchaus zeigenkönnen,wasgenau
dieGegenwart vonfrüherenPhasen unter-
scheidet–und wiebrisant das ist. So betraf
dieregulativeFunktion derMorallange
Zeit allein die Infrastruktur der Wirt-
schaft; sie schlugsich in Gesetzen undKon-
ventionen nieder.Fordert dieÖffentlich-
keit heute Transparenz, dieEinhaltung
vonStandards oder „Fair Trade“, dannver-
markten dieUnternehmen ihreentspre-
chenden Anstrengungen,womit dieMoral,
dieihnen abverlangt wird, alsWarenange-
bot an dieKonsumenten wiederkehrt.Und
wenn diese es annehmen, also kaufen, ha-
ben siedie Moral für sich erworben.
Mehr denn je giltdaher,dass die ökono-
mischenMöglichkeiten darüber entschei-
den, wie gut sich jemandals moralische
Persönlichkeit qualifizieren kann.Voral-
lemaberverliert dieMoral erstmals ihre
Funktion als Bremsfaktordes Kapitalis-
mus. Sie wirdimGegenteil sogar zu einem
weiteren starkenMotor für ihn. Da viele
Menschen kaum etwas attraktiverfinden
als ein gutesGewissen und ein gutes
Image,können sich Märkte für mitWerten
aufgeladene Produkte beliebig entfalten.
Grenzen desWachstums sind hier jeden-
falls noch nicht zu erkennen–soverhilft
paradoxerweise gerade dieMoral dem Ka-
pitalismus zu seinemweiteren, noch größe-
renSiegeszug. wolfgangullrich

UteFrevert:Kapitalismus,Märkte undMoral.Resi-
denzVerlag, Salzburg 2019. 152 Seiten, 20Euro.

Der Bienenflüsterer


EntspannteMeisterschaft:Norbert Scheuers


Roman„Winterbienen“besingt dieEinheit allerDinge


Voreiniger Zeit hat Friedrich Christian
Delius, langjähriger Chronist der alten und
neuen Bundesrepublik und Büchnerpreis-
träger desJahres 2011, in der Zeitschrift
Sinn und Formmit demGedanken ge-
spielt, man könnte einen Roman über
AngelaMerkel schreiben und sie zeigen,
wiesie, nachdem ihrelange Kanzlerinnen-
schaft dann doch zu Ende gegangen ist, auf
den Rügener Kreideklippen stünde, nach-
sinnend über sich und dieGeschichte ...


So langewollte Delius nun offenbar
doch nichtwarten und hat sich schonvor-
her ansWerk gemacht.Nurdass es sich
nun nicht mehr um die Kanzlerin selbst
handelt, die auf den Rügener Klippen
steht, sondern um ihr Denkmal. Errichtet
wirdesvon Chinesen, die ihr aufrichtig
dankbar sind, dass siedurch ihrezaudern-
de und inkonsistente Politik den Siegeszug
Chinas in Europaermöglicht hat.Esträgt
dieInschrift: „Der deutsch-chinesischen
Kanzlerin. Der Erfinderin der marktkon-
formen Demokratie. DerHeldin vonPirä-
us.“
Der griechische Hafen Piräus ist näm-
lich auf demHöhepunkt der griechischen
Schuldenkrise an einen chinesischen In-
vestorverkauftworden,wasDelius für den
unwiderruflichenAnfangvomEndeEuro-
pas hält.Zum (knappen)Glück erweist sich
diese Denkmalsetzungvorerst nur als Hal-


luzination desvorSchreckkollabierenden
Protagonisten.
DerIch-Erzähler(seinName tut nichts
zur Sache)hatte ja schon damit gerechnet,
dass seine Zeitung ihn, den altgedienten,
unverbesserlichen Wirtschaftsredakteur,
der sich lästigerweise bei seinen Recher-
chenvonder Idee derWahrheit leitenließ,
nicht mehr lang halten würde. Aber als er
am 30. September 2017seineKündigung
bekommt, versetzt es ihm doch einen
Schlag. Da gibt es nur eines:weiterschrei-
ben! Die Frage ist allerdings,wie, wound
fürwen. EinBlog?AufdiesemFeld tum-
meln sich doch bloß lauter engstirnige
Rechthaber.Ein Buch?Bücher gibt es zu
Tausenden, und siehaben im neuenMedi-
enumfeldsowiesokeine Chance. Da zieht
er sich liebergleich ins Private zurück und
entscheidet sich fürsTagebuch. (Der per-
formativeWiderspruch, dass dieWeige-
rung, ein Buch zuverfassen, in Buchform
erscheint, sei mit der legitimen Differenz
zwischenAutor und Erzähler entschul-
digt.)
Damit dieses doch sehr selbstbezogene
Genreaber nichtvöllig im Selbstgespräch
des Altmännergegrummels versackt,
adressiert das tagebuchführendeIchsein
Werk an die 18-jährigeNichte Lena, die „lie-
be Nichte“, die gerade Abiturmacht. Doch
siesolldas Geschriebene erst mal nicht zu
Gesicht kriegen. Stattdessen wirdihr gera-
ten, das Diarium besser erst mit 40 oder 50
zu lesen,wenn sie eine gewisse Reife er-
langt hätte und imNachhinein abschätzen
kann, ob der alte ZauselvonOnkel denn
nun recht behalten hat oder nicht: eine

etwas umwegige Flaschenpost in dieZu-
kunft.
Delius’ Buch nennt sich zwar ein Roman
(wie heute so ziemlich jedes Druckerzeug-
nis in Prosavonmehr als 90 Seiten), stellt
aber einhybrides Produkt dar.Die Form
des fiktivenTagebuchs erlaubt erzählende
Elemente; am Ende des Buchs überwiegen
siesogar,und man erfährt einiges über All-
tag, Eheleben und Urlaubsreisen eines
Frührentnerswider Willen. So wirddas
sprechendeIchzur Figur,was denVorteil
hat, dass sich alles,wasanseinen Ansich-

ten fragwürdig oder beschränkt ist, aus
derVoraussetzungdes eben so und nicht
andersbeschaffenen Charakters erklärt.
Im Schutz dieserKonstruktion lässt der Er-
zähler Dampf ab. Delius macht sich damit
vonden anspruchsvolleren Erfordernis-
sen der Abhandlung und des Essays frei
und gönnt sichvonHerzen,waseranden
Anderen, denGegnern und Opportunis-
ten, verdammt: das der Rechenschaft
nicht bedürftigeMeinen bis hin zum Res-
sentiment. Das bloßeMeinen freilich ist,
wieEuropa seitPlatonweiß, das genaue
Gegenteil derWahrheit, um die es angeb-
lich geht.
Delius bzw.seinem Alter Ego, dem ge-
schassten Redakteur,darf man bescheini-
gen, dass er sich mit seinerMeinerei die
geringstmöglicheMühe gegeben hat. Die
Themen sind politisch: Einwanderung, Eu-
ro-und Griechenlandkrise, Klimawandel
undnatürlich dieAngst, nicht etwa vorChi-
na, sondern „den Chinesen“; aber so etwas
wieeine politische Analyse findetnicht
statt. Trump ist „dieser seltsam kranke Prä-
sident“,Putin ein„Ganove“.Dass Russland
unter seiner Führung eine höchst zielstre-
bige und erfolgreiche Strategieverfolgt
und wie sieimEinzelnenvorgeht, scheint
ihm nicht der Betrachtung wert zu sein.
Alles ist hierGefühl undMoral. Der frühe-
re EU-Kommissionspräsident Romano
Prodi wirdals „hochanständiger“Mensch
gerühmt,HelmutKohl dagegen hat sich
einenPlatz in derHölle verdient. Der frühe-
re griechische FinanzministerVaroufakis
figuriert alsHeld,während sein deutscher
Kollege(nicht genannt soll erwerden und

heißtdarum nur abkürzend „Sch.“) dämo-
nisch im Rollstuhl herumsaust wiePeter
Sellers als Doctor Strangelove.Erfrischung
versprichtsich der Tagebuchschreibervon
einem Beschimpfungskatalog,den er dem
barocken Simplicissimus entlehnt:„Ihr
Speivögel, ihr ausgestochnen Bösewichte,
Spitzköpfe, SiebdrehervomStarnberger
See! (...) Ihr Schunderervonder Commerz-
bank!“Der Erzähler findet „Schunderer“
eine ganz ausgezeichneteWorterfindung,
es schwängen darin so vieleAssoziationen
mit vonSchulden, Schuld, Schande,
Schund und Schinder...Obsoein Commerz-
bankerüberhaupt kapiert, alswaserda
beleidigtwerden soll?

Wiederholt(und wiederholtwirdhier
fastalles, zwei-, drei-, viermal und öfter)
bezeichnet das schreibendeIchseine jour-
nalistische und diaristischeTätigkeit als
„Vogeldeutung“,sowie im alten Rom die
Auguren dieZeichendes Vogelflugs im Hin-
blick auf dieGeschickevon Staat undGe-
sellschaft interpretierten.Verglichen mit
dem,wasDelius liefert, ist das Handwerk
dieser Propheten eine exakte Wissen-
schaft zu nennen. burkhardmüller

Friedrich Christian Delius:Wenndie Chinesen
Rügenkaufen,danndenkt an mich. Roman.
Rowohlt Berlin 2019,256 Seiten, 20 Euro.

DiePhilosophin undÖkonomin LisaHer-
zog erhält für ihrBuch„DieRettung der Ar-
beit“ den Essaypreis„Tractatus“,wie der
Verein„Philosophicum Lech“mitteilte.
Herzog zeige überzeugend auf, dass man
beim Thema Arbeitweder Unkenrufen
noch Lockrufen aufsitzendürfe. Arbeit sei
weit mehr als Lohnerwerb, siestifte Sinn
undverschaffeRespekt. Die Preisverlei-
hung findet am 27.September statt. sz

Im antibiotischenHarz der


Bienenist das


heiligeHerzeinbalsamiert


Alle Elemente desRomans
hängen aufs
Innigste zusammen

Der gute Mensch


und dasGeld


UteFrevert über den Kapitalismus
und dieVermarktung derMoral

DieMoralhat ihre
Funktion als Bremsfaktor
des Kapitalismusverloren

Politische Vogeldeutung


Alles istGefühl undMoral: Der BüchnerpreisträgerFriedrichChristianDeliusrekapituliert dieMerkel- Jahre


Der Schriftsteller Friedrich Christian De-
lius FOTO: JENSKALAENE

Verglichen mit diesem Buchwaren
dieProphezeiungen antiker
Augurenexakte Wissenschaft

Erst imNachhineinlässt


sich abschätzen, ob deralte Onkel


recht gehabthaben wird


Essaypreis für


Lisa Herzog


Immer wieder liegt der Protagonist inNorbert Scheuers neuntem Buch über die Eifel vor den Bienenstöcken im Gras und
lauscht sich in den Schlaf. FOTO: IMAGO IMAGES/CHROMORANGE

Die beiläufigeEntfaltung
metaphorischerWeltenist ein
MarkenzeichendiesesAutors

(^14) LITERATUR Freitag, 6. September 2019,Nr. 206 DEFGH

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