Süddeutsche Zeitung - 06.09.2019

(Michael S) #1
vonlea deuber

O


ppositionspolitiker in Berlinfor-
dern Bundeskanzlerin Angela
Merkel nun dazu auf,bei ihrer Rei-
se nachPeking die Lage inHongkong
offen anzusprechen. Deutschland müsse
sich für dieMenschen einsetzen, diedort
um ihre Freiheit kämpfen. Daswäre einer-
seits richtig–und trotzdem ist dieForde-
rungverlogen.
Deutschland steckt in einem Dilem-
ma.Heimische Firmen haben sich durch
hohe Investitionen in denvergangenen
Jahrzehnten an den chinesischen Markt
gekettet. Kaum ein Land hat inzwischen
engereWirtschaftsbeziehungen mit Chi-
na als Deutschland.Vomchinesischen
Markt abhängig zu sein heißt, aufden gu-
ten Willen derKommunistischenPartei
angewiesen zu sein.Wenn Merkel also En-
de derWoche inPeking zuHongkong
schweigt, handelt sie nicht gegen deut-
sche Interessen, sondern, auchwenn das
zynisch klingen mag, zunächst einmal im
Sinne dieser Interessen. Geübt ignorie-
renPolitik und Wirtschaft seitJahren die
Lage in Tibet, die Internierungslager in
Xinjiang und dieVerfolgung Andersden-
kender im ganzen Land. DieVerwunde-
rung deutscher Firmen ist beschämend
ehrlich,wenn siesich fragen,warum sich
so mancherPolitiker nun plötzlich für die
Lage inHongkong interessiert. Hinter
den Kulissen flehen dieKonzerne Berlin
regelrecht an, sich zurückzuhalten.
Wernun also imZusammenhang mit
HongkongvonWerten spricht undMer-
kelinder Pflichtsieht, muss sich erst eine
andereFrage stellen:Sind sie selbst und
sind dieMenschen in Deutschland wirk-
lich bereit, den wirtschaftlichen Erfolg
des Landes als Exportnation zu gefähr-
den, um dafür freiheitlicheWerte und die
Demokratieamanderen Ende derWelt
zuverteidigen?China bestraft Staaten,
dieeswagen,das Regime in Peking zu kri-

tisieren. Ein härtererKursgegenüber Chi-
na würde in Deutschland Arbeitsplätze
und Wirtschaftswachstumkosten. Frei-
heit gibt es nicht geschenkt.Nicht in
Hongkong, nicht in Deutschland.
Gleichzeitig spricht viel für einen här-
terenKurs gegenüber Peking. Chinawei-
tet seinen Einfluss in derWelt aus. Es
macht,waseswill, nimmt sich,wases
kriegen kann, verweigertjedeVerantwor-
tung oder akzeptiert diese nur,wenn es
gerade passt. ChinasAufstieg ist auf lan-
ge Sicht eine Gefahr für liberale Demokra-
tien wieDeutschland.Wasalso tun?

DieHoffnung aufWandel durch Han-
del hat sich als trügerisch erwiesen.
Deutschland braucht eine neueStrategie,
um die Abhängigkeit zu vermindern.
Angst istkein guter Ratgeber.Eine ande-
re Chinapolitik müsste nichtzwingend ei-
ne Entkopplung der Systeme bedeuten.
Es brauchtkeinen kalten Krieg, sondern
klareGrenzen. Bei Übernahmen in
Deutschland etwa, bei Investitionen und
dem Bauvonkritischer Infrastruktur.Da-
für muss sich Deutschland aber beeilen.
Solange China auf deutscheTechnologie
angewiesen ist, hat Berlin noch Einfluss
auf dieKP. DiesenHebel muss es nutzen.
China hatverstanden,worum es geht.
PräsidentXiJinping schwor seineLands-
leute dieseWoche darauf ein,womöglich
aufJahrzehnte in einen Systemkampf
mit demWesten zu geraten. Für dieKP
geht es um alles oder nichts.
Den Deutschen sollte derFall Hong-
kong zeigen, dass nicht ehrlich über die
Beziehungen zu China gesprochen wird.
DieMenschen müssen sich fragen, wie
viel sielangfristig bereit sind, für ihre
eigene Freiheit zu opfern. lea deuber

W


er hätte das gedacht: Die Praxis
der Präventivhaft nach dem no-
vellierten bayerischen Polizei-
aufgabengesetz (PAG)trifft fast aus-
schließlichNichtdeutsche; und die Haft
wirdkeineswegs nur als letztes Mittel ein-
gesetzt, sondernweil’shalt gerade prak-
tisch ist, oderals Ersatz für Abschiebungs-
haft(unterUmgehung der für dieAbschie-
bungshaftvorgeschriebenen Richterent-
scheidung); und die meisten Betroffenen
bekommenkeinen Anwalt. In Bayern sind
Dämme gebrochen.
Die CSUwollte dieKritik nicht hören,
als imvergangenen Sommer Zehntausen-
de auf die Straße gingen gegen ihrenPlan,
Menschen „vorbeugend“einzusperren,


mit geringsten rechtsstaatlichenHürden
und erstmals ohne zeitliches Limit.Jetzt
hat eine Expertenkommission aus fünf
durchausnicht CSU-fernenJuristen und
einem bayerischen Polizeipräsidenten
a.D.ermittelt, dass es in der Praxis genau
so gekommen ist wie befürchtet. Präven-
tivhaft, das heißt: DerMensch hat sich
nochkeineTatzuschuldenkommen las-
sen. Präventivhaft wird deshalb in Rechts-
staaten nur sehr schamhaft und begrenzt
eingesetzt. In Deutschland bisher: maxi-
mal 14Tage. In Bayern nun: schamlos.
Ein solches, eines Rechtsstaats unwür-
digesGesetz gehört sofort zurückgenom-
men. Nicht kosmetisch nachgebessert,
sondern gestrichen. ronen steinke

A


lleinerziehende Mütter erklären
denUnterhaltspreller gerne zu ei-
nem Massenphänomen, getrenntle-
bendeVäter dagegen halten ihn für ein
Phantom.Versachlicht wirddieser Streit
nun durch eine bessereStatistik. Im Zen-
trum steht der staatlicheUnterhaltsvor-
schuss, der dann fließt,wenn unterhalts-
pflichtige Eltern nicht zahlenkönnen –
oderwollen. DieGrößenordnung derVer-
weigerungkonnte bislang nur geschätzt
werden.Nunbeziffert dasFamilienminis-
terium sieauf 39 Prozent allerFälle.
Das ist nicht dieMehrheit,wahrlich
aber auchkeine Kleinigkeit. Es wirdalso
Zeit, dass der Staat seinenVorschussvon
diesen Eltern–meistens Vätern–konse-


quent zurückholt.Zuletzt gelang ihm das
nur mit beschämenden 13 Prozent der ge-
zahlten 2,1 Milliarden Euro.
Ja,die Reform desUnterhaltsvorschus-
ses hat zu einer Antragsflut geführt. Dass
dieLänder aberweiter hinterherhinken
mit einheitlichenKonzepten, dass nicht
überall dieVerfolgungvonUnterhaltsver-
weigerern in den Händen der dafür prä-
destinierten Finanzbehörden liegt,dass
der Bund zwar mitzahlen,aberkeine Ansa-
gen in Richtung Länder machen darf–all
das ist nicht in Ordnung.Unddann ist da
noch dasUnterhaltsrecht an sich, das an-
gepasstwerden muss an neueModelle,
diekomplizierter sind als „einer zahlt,
einer betreut“. henrikeroßbach

Małgorzata Kidawa-Błońskakönnte im
Oktober das ErbevonzweiVorfahren und
zugleich zwei GründerväternPolens fort-
führen. IhrUrgroßvaterStanisław Wojcie-
chowski warimerst1919 wiederauferstan-
denenPolenvon 1922bis 1926zweiterPrä-
sident, ein anderer Urgroßvater,
WładysławGrabski, zur gleichen Zeit Mi-
nisterpräsident–ein Erbe, das in diesem
traditionsbewussten Land niemand aus-
lässt,wenn es darum geht, die neueSpit-
zenkandidatin der oppositionellen „Bür-
gerkoalition“zubeschreiben. Gewinnt Ki-
dawa-Błońska dieParlamentswahl am


  1. Oktober,dann wirdsie polnische Mi-
    nisterpräsidentinwerden.
    Gewiss braucht die 62Jahrealte Politi-
    kerin zur Profilierung nicht denVerweis
    auf ihreAhnen. DieWarschauerin, eine
    studierte Soziologin, die mit dem Regis-
    seurJanKidawa-Błońskiverheiratetist,
    arbeitete gut zweiJahrzehnte lang mit ih-
    remMann an eigenen Filmen. „Zum
    Blues bestimmt“ („SkazanynaBluesa“)
    von2005 über den Chef der Bluesrock-
    gruppe Dzem gehört heute zum polni-
    schen Filmkanon. Seit 2001 engagiert
    sich Kidawa-Błońska politisch:als Regie-
    rungssprecherin erst unter Donald Tusk,
    dann unter dessenNachfolgerin EwaKo-
    pacz, alsWarschauer Chefin der liberal-
    konservativen „Bürgerplattform“, als Par-
    lamentarierin seit 2005, als Parlaments-
    präsidentin 2015 und seit demWahlsieg
    der heuteregierenden rechtsnationalen
    PiS als Vizepräsidentin desParlaments.
    Kidawa-Błońska genießtden Ruf einer
    sachorientierten,vermittelnden, niemals
    lautwerdendenPolitikerin.Journalisten,
    dieeinen Riss im perfekten Bild der allzeit
    beherrschten Frau suchten,gestandKida-
    wa-Błońska, sie sei nur einmal ausge-


flippt: als sie in ihrem efeubewachsenen,
mit altenMöbeln und Bildern ihrerVor-
fahren gefüllten Haus ausWutüber ihren
Mann und ihren Sohn einenkostbaren
Porzellanteller zerlegt habe. Dassdie libe-
rale Konservativejetzt überraschend die
Opposition in dieParlamentswahl führt,
hat einen Grund: Der bisherige Oppositi-
onsführer GrzegorzSchetyna ist sogar bei
vielen Anhängern unbeliebt;Umfragen sa-
hen ihn als Ballast beimVersuch der „Bür-
gerkoalition“, imKopf-am-Kopf-Rennen
mit der PiS zu siegen. So trat Schetyna ins
zweiteGlied und präsentierte Kidawa-
Błońska als Spitzenkandidatin.

Politisches Profil gewann Kidawa-
Błońskavorallem alsVorsitzende einer
Arbeitsgruppe, die einGesetz über künst-
liche Befruchtung entwarf; im katholi-
schenPolenwardas einAufreger erster
Güte. 2015 wurde das Gesetzverabschie-
det–und dann faktisch wieder einkas-
siert, nachdem die eng mit der Kirchever-
bundene PiS dieRegierung übernommen
hatte.
Kidawa-Błońska tritt schon seit Lan-
gem für dierechtliche Anerkennungvon
Homo- und Lesbenpartnerschaften und
für ein liberaleres Abtreibungsrecht inPo-
lenein. Außerhalb desParlamentes arbei-
tetKidawa-Błońska beim „Frauenkon-
gress“ mit–einerfür fortschrittlichePosi-
tionenstreitendenVereinigung.„Endlich!
Es gibt jemanden, für den wir stimmen
können!“,bejubelte das einflussreiche
Frauenmagazin der Gazeta Wyborcza
jetzt dieVorstellungKidawa-Błońskas als
Spitzenkandidatin in Warschau. Einer
UmfragevomMai 2019 zufolge stellen
Frauen mit progressiven Positionen fast
60 Prozent derWählerschaft der „Bürger-
koalition“.
IhrePositionen dürften Małgorzata Ki-
dawa-Błońska massive Angriffe einbrin-
gen. Die PiS macht den angeblichenUnter-
gangPolens durch ein liberaleres Abtrei-
bungsrecht oder mehr Rechte für Schwu-
le und Lesben zum Hauptthema imWahl-
kampf.Ungewiss ist auch, ob Kidawa-
Błońska es in den gerade einmal fünfein-
halbWochen, die ihr bis zurWahl bleiben,
noch schafft, weitereprogrammatische
Akzente zu setzen.Undobsie ein Schat-
tenkabinett mit bekanntenPolenpräsen-
tieren kann, dienicht nur aus der vielen
WählernverhasstenParteipolitikkom-
men. florian hassel

M


it denUrteilen gegen die Haupt-
angeklagten ist der in Lügde ge-
schehene massenhafte sexuelle
Missbrauchvon Kindernstrafrechtlich er-
ledigt,vorerst.Zu klären bleibt, inwieweit
womöglich behördlicherGleichmut dazu
beigetragen hat, dass das unerhörte Trei-
ben auf einem Provinz-Campingplatz
nicht früher gestoppt wurde. Hinweise la-
genvor, Aktenwarenangelegt,Namen
auf dem Radar.Konsequenzen gab es nie.
Während siegeschahen, dieTatenvon
Lügde,warihr Ausmaß nicht erkennbar.
Ja,der Haupttäter AndreasV. stand ab
und zu imVerdacht, einem Kind näher zu
kommen, als es ein netter Onkel tun sollte.
Doch die Behörden zögerten. Solche Ein-


zelfälle aber machen gerade diewahre
Dimension des sexuellen Missbrauchs
vonKindern aus: Er ist alltäglich. In jeder
Schulkasse sitzen statistisch betrachtet
ein bis zwei Kinder,die solche Erfahrun-
gen machen mussten.
All dieseFällezusammen sindTausen-
de Mal größer als Lügde. Siezuerkennen,
schützt Kinder.Dazu müssen diesevon
Lehrern beobachtet werden, die Miss-
brauchsanzeichen deutenkönnen. Sozial-
arbeiter inJugendämtern müssen sicher
urteilen und sich trauen,konsequent zu
handeln.UmdiePolizei einzuschalten,
darf nichtMuterforderlich sein, sondern
fachliche Überzeugung. SolcheFachkräf-
te gibt es zuwenige. ralf wiegand

HERAUSGEGEBEN VOMSÜDDEUTSCHENVERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
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MITGLIEDDER CHEFREDAKTION, DIGITALES:
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INVESTIGATIVE RECHERCHE:BastianObermayer,
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vonmikeszymanski

Z


umAuftakt hat die Kandidatenshow
der SPDgleich einige Erkenntnisse
geliefert.Wernicht mit aller Macht
an die Spitze derPartei will, hat in diesem
zähenVerfahren nichts zu suchen.Und
werals Paar nicht funktioniert, kann eben-
so einpacken. So gesehen haben dieLokal-
politiker Simone Langeund Alexander Ah-
rens ihrerPartei einenGefallen getan, aus
dem Rennen auszusteigen.
Sie mögen fähigePolitiker sein in ihren
Kommunen. Aber der Parteivorsitzist
eine andere Liga. Lange und Ahrens sind
jedoch auch als Duogescheitert. Ahrens,
Oberbürgermeister aus Bautzen, will die
AfD nicht ausgrenzen; Lange würde nicht
mal mit den Funktionären sprechen. Sie
offenbarten auf der Bühne ihrenKonflikt.
Werkünftig die SPDführt, wirdsich
nicht allein daranentscheiden, wiedie Per-
sonen zur großenKoalition stehen, wie
weit siedie Partei nach links rückenwol-
lenoderwassie sonst noch soverspre-
chen.Genauso entscheidend wirdviel-
mehr sein,welchen Eindruck die Bewer-
ber alsGespann bei den Mitgliedern hin-
terlassen. Allen anfänglichen Bedenken
zum Trotz sind die Regionalkonferenzen
in ihrerForm ganz gut geeignet, sich gera-
de auch davonein Bild zu machen.
Gewiss, fünf Minuten, um sichvorzu-
stellen, sind nicht viel.Und dochwarensie
aufschlussreich:Werlässtwemden Vor-
tritt?Werbeansprucht wie viel Zeit für
sich?Begegnen sich Frau und Mann auf
Augenhöhe?NorbertWalter-Borjansetwa
istein kluger Finanzexperte. Darüber hin-
aus haternun demonstriert, dass er mit
seinerPartnerin Saskia Esken alsTeam
wahrgenommen werden möchte.Auch
das ist ein Grund,warum sich die beiden
jetzt alsFavoriten imWettstreit um den
SPD-Vorsitz fühlen dürfen.
Ist es das,worauf es ankommt,wasdie
Partei jetzt dringend braucht–guteUm-

gangsformen?Esgeht um mehr.Esgeht
um das Funktionieren derPartei.Umdie
Gewissheit, dass die Leute an der Spitze
sich aufeinanderverlassenkönnen. Die
Doppelspitze, die sich dieSPDwünscht,
ist Chance undWagnis.Olaf Scholz hat
mit AndreaNahles die SPDineiner Art
Doppelspitze geführt,auchwenn erfor-
mal ihr Stellvertreterwar. Ausdieser Zeit
bleibt in Erinnerung, dassNahles in stür-
mischenTagen ziemlich alleine dastand.

Jetzt tritt der Bundesfinanzminister
mit KlaraGeywitz an, einer Landespoliti-
kerin. Scholz hatMühe,indie Kandidaten-
rollehineinzufinden. Es behagt ihm nicht,
im großen Bewerberfelderklären zu müs-
sen,warum er an die Spitze derPartei
gehört. Aber die Partei will genau das er-
fahren. Sie braucht Orientierung.Und
Scholz’ Partnerin, KlaraGeywitz, ist selbst
unsicher.Sie hat gerade bei derWahl in
Brandenburg ihr Landtagsmandatverlo-
ren. Es wirdspannend sein zu sehen, ob
und wiesich die beiden alsTeam fortent-
wickeln.Die Doppelspitze ist Scholz’ Chan-
ce,sichnoch einmalvoneineranderen Sei-
te zu präsentieren. Er sollte sie nutzen.
Für andere Bewerber dürfte es an der
Zeit sein, über einenVerzicht nachzuden-
ken. Das gilt für denGesundheitsexper-
ten Karl Lauterbach undNina Scheer,sei-
ne Kollegin aus dem Bundestag. Sie ma-
chen mit ihrem Projekt einer „links-grü-
nen“SPDzwar ein diskussionswürdiges
Angebot. Aber Lauterbach drängelte sich
beim erstenAuftritt ungeniert nachvor-
ne. Lauterbach ist Scheer im öffentlichen
Auftritt überlegen und ließ sie das spüren.
Wenn er seine Partnerin schon nicht mit-
nimmt, wiesollihm das mit derPartei ge-
lingen–Konzept hin oder her?

POLIZEI

Dammbruch in Bayern


D


ie größteGefahr besteht dar-
in, in alldem nur ein Spiel zu
sehen. Ein großes, unterhalt-
sames, gelegentlich ins Extre-
me schwappendes Spektakel,
das nicht wirklich Schaden anrichten
kann. DieBriten haben ja nachJahrhun-
derten der Erfahrung mitParlament und
Demokratienicht ganz zuUnrecht den
Eindruck, dass ihreInstitutionen unver-
wüstlich seien, historisches Erbe, ausge-
stattet mit Ewigkeitsgarantie. Ein Land,
das der größten totalitären Bedrohung
seitMenschengedenken getrotzt hat, so
ein Land wirddoch den Tagesstürmen der
Politik trotzen. Sollte man meinen.
DieseWoche hat gezeigt, dass auch
Großbritannien unter dieWölfefallen
kann. Der Premierminister hat sein
Schafsfell abgelegtund in derHerdegewü-
tet, sodass auch den größten Spielernatu-
renimParlamentdie existenzielleBedeu-
tung desAugenblicks klar geworden sein
muss (vermutlich bis aufJacob Rees-
Mogg, den lümmelnden Snobvonder ers-
ten Bank, für denPolitik immer ein Spiel
und Zeitvertreib bleiben wird).


Dem Harvard-Literaturwissenschaft-
lerStephen Greenblatt ist die sehr zeitge-
mäße Studieüber die Figur des Tyrannen
in ShakespearesWerken zuverdanken.
Darin macht er erstens klar,dassPolitik
schon immer und gerade in Shakespeares
England ein tödlicher Kampf um Macht
und dieVerführung der Massenwar. Und
zweitens postuliert er als ein Grundgesetz
menschlichen Daseins, dass die Figur des
Despoten,Populisten undAutokraten seit
der Antikeund bis heute lebt und lauert,
dass siemit immer gleichenMethoden ar-
beitet und davonprofitiert, unterschätzt
zu werden. Wirdschon ein paarVernünfti-
ge im Raum geben. WirddochkeineMehr-
heit finden. Wirdschon nicht so schlimm
kommen. Dann aber herrscht und wütet
der Tyrann,plötzlich und mit allerWucht.
DieWahrheit ist: Erstens finden sich im-
mer willigeHelfer,zweitens ist dieFurcht
vordem Despoten schnell übermächtig,
drittens sind Institutionenleicht zu bie-
gen und zu brechen und viertens entschei-
det der Souverän an derUrne nicht mit-
hilfeeiner ausgeklügelten Matrix der
Argumente, sondern erfolgt oft seinem
Instinkt, einem Zeitgeist, einerWunsch-
vorstellung.
Wenn sich also seit ShakespearePolitik
undVerführbarkeit nicht grundsätzlich
geändert haben, dann ist dieJohnson-Epi-
sodeweder zu ihrem Ende gekommen,


noch hat sievermutlich ihrenHöhepunkt
erreicht.Zu beobachten ist ein quälender
Kampf zwischen den Institutionen der
britischen Demokratie–demParlament,
der Regierung und zunehmend auch den
Gerichten.Undzweitens ein Kampf um
Gestalt und Charakter der ältestenPartei
derWelt, derTories.
Der Premier BorisJohnson hat es ge-
schafft, durch eine Serie geradezu mani-
scher Entscheidungen Zerstörung,Verwir-
rung und Hass in diePolitik zu tragen. Der
vonihmwomöglich beabsichtigte Effekt:
Beim Souverän wuchert nun der Abscheu
vordiesem Staats-,Parlaments- und Re-
gierungstheater,das dieWähler mit anse-
hen müssen und nicht mehrverstehen.
Eskönnte also sein, dass derNach-
wuchstyrannJohnson nur die Grundlage
für einen populistischen Coup gelegt hat,
indem er in einem Akt größtmöglicher
Brutalität Institutionen und Akteurebe-
schädigte. Die Partei: gespalten, radikali-
siert, ihremächtigsten Fürsten aus der
Fraktion geworfen, die Tradition zu Win-
ston Churchill gebrochen, nahezu unwähl-
bar in nicht-englischen Regionen, vor
allem in Schottland. DasParlament: gede-
mütigt und suspendiert wieseit dem
Krieg nicht mehr,beschimpft und belei-
digt.Undselbst das Staatsoberhaupt,die
Queen: benutzt in einem perfiden Macht-
spiel, preisgegeben fürTaktierereien, aus-
gesetzt dem Zorn der Opposition.
Johnson hat dafür jedoch einen hohen
Preis gezahlt. Er hat zunächst seineMehr-
heit voneiner Stimme eingebüßt und
dann 21weitereAbgeordnete in dieVer-
bannung geschickt. Er hat seine erste Ab-
stimmung als Premierverloren und am
Ende seinen eigenen Bruder,der nicht
mehr Abgeordneter sein möchte unter die-
sem Regierungschef. Shakespearekönnte
stolz sein auf diesenPlot.
Johnson hat aber auch die Basis für den
zweiten Aktgelegt,wenn er das Land über-
ziehen wirdmit einemWahlkampf, wie
ihn die Britenwohl selten erlebt haben.
Diestetige WiederholungvonLügen, die
lustvolleArbeit amFeindbild Europa, der
fremdenfeindlicheUnterton, die Reduzie-
rung der Debatte auf Leben oderTod, Sieg
oder Kapitulation, wir oder die. Wir,das
sind BoJound dasVolk. Die, das sind die
da oben imParlament, dieElite, die Mäch-
ti gen. DasVolk wirdzuentscheiden haben
–eine enorme Prüfung.
Das Parlament mag einen kleinen Tri-
umph errungen haben, indem esJohnson
jetzt die Chance auf den unkontrollierten
Brexit entriss. Damit gab es ihm aber auch
eineWaffe, die schärfer nicht seinkönnte:
dasParlament als derwahreFeind, der
sich dem Willen desVolkes widersetzt.
Johnson wirdsie einzusetzenwissen in sei-
nemWahlkampf.Wenn man ihn lässt.

Der„Verdacht“ in der Straf-
prozessordnungkennt viele
Schattierungen. „Dringend“
muss er sein, um einen Haft-
befehlzuerlassen,„hinrei-
chend“,umdas Hauptverfahren zu eröff-
nen. Aber alles beginnt mit dem „An-
fangsverdacht“,der aufkonkretenTatsa-
chen beruhen muss–das Bauchgefühl
der Ermittler oder eine haltlose Strafan-
zeige genügennicht. Liegtervor,dann
muss die Staatsanwaltschaft Ermittlun-
gen einleiten.Womit sieihren Instrumen-
tenkasten auspackenund beispielsweise
eine Hausdurchsuchungbeantragen
kann.Geht es um Kinderpornografie, ist
dieVerdachtsfrage mitunter heikel. Als
im Frühjahr 2014 eine Razzia gegen den
Ex-BundestagsabgeordnetenSebastian
Edathyangeordnet wurde, warnicht
ganz klar,obdasvordem Durchsu-
chungsbeschluss gefundene Bildmateri-
al tatsächlich strafrechtlich relevantwar.
Das ist deshalb wichtig,weil derVerdacht
selbstverständlichvorder Razziavorgele-
gen haben muss–und nicht erst danach.
Das Bundesverfassungsgericht hielt es
damals aber für ausreichend, dass die
Aufnahmen zumindest im „Grenzbe-
reich“zur Strafbarkeit anzusiedeln seien.
ImFall des Ex-Nationalspielers Chris-
tophMetzelder scheinen sich die Ermitt-
lerdagegen sicher zu sein, dass dieFotos,
dieerweitergegeben haben soll, als Kin-
derpornografieeinzustufen sind. jan

4 HF2 MEINUNG Freitag, 6. September 2019,Nr. 206 DEFGH


FOTO: JAKU

BKAMINSKI/IMAGO

MERKEL IN CHINA

DasHongkong-Dilemma


SPD

Paartherapie


UNTERHALT

Pflichtvergessen


FALLLÜGDE

DiewahreDimension


Lichter Moment sz-zeichnung: burkhard mohr

GROSSBRITANNIEN


Wie es ihmgefällt


vonstefankornelius


AKTUELLES LEXIKON


Anfangsverdacht


PROFIL


Małgorzata


Kidawa-Błońska


LiberaleHoffnung
der polnischen
Opposition

Deutschland braucht eine
neue Strategie imUmgang
mit demRegimeinPeking

ImWettbewerb um denVorsitz
kommt es starkdaraufan, wer
alsTeamfunktioniert

DasWüten BorisJohnsonsfolgt


einem Plan: Er willdie Macht,


ganzoder gar nicht

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