Süddeutsche Zeitung - 06.09.2019

(Michael S) #1

S


o geliebt wird er hierzulande, der
Bürgerliche. Wer genau ist das?
Und wer nicht? Seit Rechtsextre-
me den Begriff für sich beanspru-
chen, liest man täglich Liebeserklärungen
an bürgerliche Tugenden. Fast ist man er-
griffen von diesen Bürgerlichen. Ich
wünschte nur, ich wäre ihnen öfters begeg-
net. Ich wünschte, diese so grunddemo-
kratischen Bürgerlichen hätten sich in
den vergangenen Jahrzehnten so gezeigt,
wie sie sich jetzt selbst beschreiben.
Bürgerliche möchten jetzt als Bastion
gegen Antidemokraten verstanden wer-
den. Das wäre leichter, hätten sie dieses
Land nach der Wende wirklich gerechter,
demokratischer gemacht. Die Anhänger
nationalistischer Reinheitsfantasien kön-
nen leider zu gut an die Exklusionsstrate-
gien der westdeutschen Eliten anknüp-
fen: In den meisten Institutionen in
Deutschland findet man genau jene Ho-
mogenität vor, die Nationalisten sich wün-
schen.


Die westdeutschen Bürgerlichen haben
jahrzehntelang ihre Privilegien gehortet.
War es angenehm, so unter sich? Unter sei-
nesgleichen fuhr man in der ersten Klasse
der Deutschen Bahn zu Demokratie-
kongressen. An der Homogenität dieser
Kongresse störten sich Bürgerliche nicht.
Führungspositionen im Westen wurden
nicht an Migranten oder Ostdeutsche ver-
geben. Freie Stellen im Osten hingegen?
Schon war ein Westdeutscher zur Stelle.
Eine Professur in einer schönen ostdeut-
schen Großstadt? Gerne, aber der Wohn-
sitz bleibt in Hamburg. Ostdeutsche oder
Migranten seien leider Gottes (noch!)
nicht gut genug, hörte man oft.
Die drastischen Folgen dieser exklusi-
ven Bürgerlichkeit im Jahr 2019? In der
weltoffenen Stadt Berlin beispielsweise
sind 97 Prozent der Führungskräfte in Be-
hörden weiß. Saraya Gomis, eine der weni-
gen schwarzen Deutschen, trat als Berlins
Beauftragte gegen Diskriminierung an
Schulen Mitte des Jahres ab. Die Geschich-
te des Rücktritts dieser engagierten Frau
ist auch eine Geschichte vom Versagen
der Bürgerlichen. Wie ernst nehmen sie
antirassistische Arbeit? „Kein Fuß-
breit“-Parolen sind zu wenig.
Niemand hat seine Kritik so wohlge-
schnitzt zur Verbalskulptur geformt wie
der Künstler Ai Weiwei. Seine Abrech-
nung lässt sich als Kritik an Deutschlands
Bürgertum lesen. Solche Kritik goutieren
Bürgerliche, ohne sich selbst ernsthaft zu
hinterfragen. Eine der herausragenden
bürgerlichen Tugenden, übrigens.
Deutschland liebte Ai Weiwei, solange
er China kritisierte. Deutschland hat Ai
Weiwei gerettet. Retter sein, das mögen
Bürgerliche. In Deutschland dann „ver-
griff“ er sich aus Sicht vieler, etwa als er
das Berliner Konzerthaus mit Flüchtlings-
westen ausstattete. Er konzentriere sich
zu sehr auf die Flüchtlingsfrage, hieß es,
instrumentalisiere sie gar. Nein, Bürgerli-
che möchten bei ihren Konzerthausbesu-
chen keine Scham wegen der Toten im
Mittelmeer empfinden müssen. Ai Wei-
wei wurde immer weniger geliebt. In
Deutschland wird ein unbequemer Künst-
ler zum Glück nicht weggesperrt. In
Deutschland wird auf bürgerlichen Anläs-
sen, an Stehtischen mit feinen Häppchen,


die Glaubwürdigkeit eines Künstlers infra-
ge gestellt und die Qualität seiner Arbeit.
Inszeniere er sich nicht zu oft selbst?
Schiele er nicht zu sehr auf den medialen
Erfolg? Ist Humanismus überhaupt
Kunst, wie sie sein sollte? Wie genau soll
sie in den Augen der Bürgerlichen sein?
Häppchenkonform?
Ai Weiwei wehrt sich in einem Inter-
view und verkündet: Er verlässt Deutsch-
land. Seine Vorwürfe hätten weit mehr Re-
aktionen auslösen müssen. Die zentrale
Botschaft lautet: Deutschland sei keine of-
fene Gesellschaft. Deutschland sei gefan-
gen in sich selbst. Er sprach nicht von Ost-
deutschland. Er sprach von den bürgerli-
chen Kreisen, in denen er sich bewegt.
Es gebe kaum Raum für offene Debat-
ten oder abweichende Stimmen. Dabei
meintAiWeiweinicht,wiemanchedasin-
terpretierten, die völkischen Hassreden,
für die andere gerne die Meinungsfreiheit
einfordern. Er meinte das Schweigen über
den Ausverkauf westlicher Werte an Chi-
na. Der globale Handel mit China wirft Fra-
gen an demokratische Gesellschaften auf,
die hierzulande bislang kaum Wellen
schlagen: Werden deutsche Firmen sich
den sozialen Überwachungssystemen in
China beugen müssen? Wenn chinesische
Firmen hier anheuern, wessen Regeln un-
terliegen die Arbeiter? Weshalb hört man
nichts von Direktoren der internationalen
Museen in China, wenn in Hongkong Ein-
wohner um ihre Rechte kämpfen?
Der deutsche Diskurs ist wie ein bro-
delnder Hexenkessel, in den die immer
gleichen Zutaten geworfen werden. Die
Rechten entzünden das Holz, und die Bür-
gerlichen fachen das Feuer weiter an:
Bürgerliche gehen auf irrationale Provoka-
tionen argumentativ ein, sie lassen sich
unter Druck setzen, als wären sie intellek-
tuell unterlegen. Sie verharmlosen rechts-
extreme Netzwerke und vernachlässigen
in ihrer Fixierung auf die Rechten die Min-
derheiten. Fast magnetisch haften sie an
den kruden Thesen der Rechten und ver-
zichten dabei auf eigene Narrative. Her-
aus kommt das derzeitige Giftgebräu aus
nationalem Provinzialismus.
Zum Bürgertum zählen viele Journalis-
ten. Sie bedenken hoffentlich, wie homo-
gen ihre Arbeitswelt ist. Kürzlich behaup-
teten hochrangige Verantwortliche des
öffentlich-rechtlichen Hörfunks, Gesprä-
che mit dem Brandenburger AfD-Kandi-
daten Andreas Kalbitz seien journalis-
tisch spannend, aber jedes Interview löse
Empörung aus. Wieder verstehen Bürger-
liche die Kritik nicht. Niemand verlangt,
gewählte Politiker zu ignorieren. In einer
demokratischen Gesellschaft kann man
jedoch von öffentlich-rechtlichen Sen-
dern verlangen, ihre Journalisten gegen
faschistische Parolen zu wappnen, bevor
demokratiefeindliche Positionen als un-
hinterfragte Wahrheiten in die Öffentlich-
keit marschieren.
Bürgerliche müssen sich nicht dafür fei-
ern, die besseren Demokraten zu sein. In
Anbetracht der Konkurrenz ist das keine
große Kunst. Demokratisch genug sind
viele Bürgerliche deshalb noch lange
nicht. Das als Teil des Problems zu erken-
nen, wäre ein Anfang.

JagodaMarinić, 41 ,
ist Schriftstellerin.
Ihre Kolumne erscheint
alle vier Wochen freitags
an dieser Stelle.

E


in neuartiger Kirchen-Streit be-
schäftigt gerade die Berliner Lo-
kalpolitik. Die Neue Nazarethkir-
che im Wedding soll an eine
evangelikale Gemeinde aus Brasilien ver-
kauft werden. Bezirksbürgermeister Ste-
phan von Dassel von den Grünen will dies
verhindern. Die neugotische Kirche am
Leopoldplatz wurde schon 1993 an die frei-
kirchliche „Gemeinde Gottes“ verkauft,
nun will diese sie an die „Universalkirche
des Königreichs Gottes“ abgeben. Der Bür-
germeister hat Bedenken wegen der Spen-
denpraxis dieser Gemeinde sowie der Nä-
he des Kirchenführers Edir Macedo zum
brasilianischen Präsidenten Jair Bolsona-
ro. Darf ein Politiker entscheiden, was
eine gute oder schlechte evangelische Kir-
che ist und welche Art Protestantismus
repräsentative Gebäude besitzen soll? Sol-
che Fragen drängen sich plötzlich auf.
Hierzulande verliert der Protestantis-
mus an Bedeutung, weltweit aber ist er ei-
ne aufstrebende Macht. Gebannt richten
sich die Blicke derzeit auf Brasilien und
die USA, wo Protestanten eine fatale Poli-
tik betreiben. Doch bilden diese nur den
Bruchteil eines globalen Konglomerats
aus vielfältigen Bewegungen. Gemein-
sam ist ihnen, dass sie in den europäi-
schen Reformationen des 16. Jahrhun-
derts wurzeln: der lutherischen, refor-
mierten und baptistischen. Es folgten: der
Puritanismus des 17. und der Methodis-
mus des 18. Jahrhunderts, die Pfingstbe-
wegung, indigene Christentümer oder die
fromme Gegenmoderne des 20. Jahrhun-
derts. Die Folge ist eine beinahe unendli-
che Ausdifferenzierung des Protestantis-
mus heute. Sie lässt sich kaum auf einen
Begriff bringen. Etiketten wie „evangeli-
kal“, „charismatisch“ oder „fundamenta-
listisch“ klingen eher ratlos.

Vielleicht hilft es bei einer ersten Annä-
herung, mit der Unterscheidung von
„oben“ und „unten“ zu arbeiten. Die neu-
artigen Protestantismen sind auch eine
Graswurzelbewegung. Besonders in Afri-
ka zeigt sich das. Dort hat die christliche
Mission eben nicht dazu geführt, dass die
Afrikaner „europäisiert“ wurden. Im Ge-
genteil, das Christentum wurde „afrikani-
siert“. Afrikaner haben Impulse protestan-
tischer Missionare aufgenommen und
verwandelt. Die Kimbanguisten im Kon-
go, die Zionskirchen in Südafrika oder die
Wohlstandsevangelisten in Nigeria haben
den Protestantismus pluralisiert und glo-
balisiert. Ähnliches lässt sich über Latein-
amerika oder Südkorea sagen.
Wenn Deutsche überhaupt etwas da-
von wahrnehmen, sticht ihnen als Erstes
der Wunderglaube ins Auge. In der Tat
spielen Heilungen und materielle Verhei-
ßungen eine große Rolle. Doch was bleibt
Menschen, die keinen Zugang zu guter Me-
dizin und keine Perspektive auf Sicher-
heit haben, anderes übrig, als auf Wunder
zu hoffen? Vor allem sollte man anerken-
nen, wie der Glaube diese Menschen
aufrichtet. In den Augen der „Welt“, beson-
ders der weißen, gelten sie wenig. Vor ih-
rem Gott jedoch können sie sich als Auser-
wählte verstehen. Zudem bindet ihr Glau-
be sie zu Gemeinschaften, von denen sie
in Notfällen eher Hilfe erwarten können
als von einem abwesenden Staat oder
westlichen Hilfsorganisationen. Und die

rigide Moral, die sie befolgen müssen,
mag einigen helfen, ihr Leben in den Griff
zu bekommen. Es wäre billig, sich als deut-
scher Wohlstandsbürger über diesen Pro-
testantismus von unten zu mokieren und
nur das Rückständige oder Bizarre in den
Blick zu nehmen. Er ist ernst zu nehmen –
nicht zuletzt, weil er durch Einwanderer
längst in Deutschland angekommen ist.
Aber natürlich ist die Machtfrage zu
stellen. Schon der Soziologe Max Weber
wusste, dass keine Herrschaft so hart ist
wie die charismatische. Denn einen vom
Geist Gottes erfüllten Anführer darf nie-
mand kritisieren. Deshalb ist der Macht-
missbrauch – emotional, sexuell, finanzi-
ell – hier eine nahe Versuchung. Beson-
ders bedrohlich wird der charismatische
Protestantismus, wenn er nach der wirt-
schaftlichen und politischen Macht greift.
Zurzeit lässt sich in Brasilien beobachten,
wie Präsident Bolsonaro, welcher der „As-
sembleia de Deus“ nahesteht, Schneisen
der Verwüstung durch das Land zieht.
Oder man denke an die unheilige Allianz
zwischen US-Präsident Donald Trump
und überfrommen Predigern.
Deutschland ist davon weit entfernt.
Aber im Umfeld der AfD gibt es nicht nur
rechtsradikale Kirchenfeinde, sondern
ebenfalls evangelikale Christen. Auch hier
sollten liberale Protestanten es sich nicht
einfach machen. Wer aus einer christli-
chen Grundhaltung für eine offene Gesell-
schaft eintritt, muss engagiert streiten,
gut argumentieren und nicht zuletzt eine
religiöse Alternative vorstellen, nämlich
eine ehrliche, aufgeklärte, lebendige
Frömmigkeit.
Der politische Protestantismus von
rechts stellt eine Gefahr dar, aber man soll-
te sich von ihm nicht blenden lassen.
Trump-Anhänger oder Bolsonaro mögen
die Schlagzeilen bestimmen, das Ganze
des Evangelikalismus repräsentieren sie
nicht. Dieser ist als globale Bewegung viel-
fältig. Längst gibt es auch Linksevangeli-
kale, die unter Mission nicht nur die Ret-
tung der Seele verstehen, sondern auch
konkrete Sozialarbeit vor Ort sowie die
prophetische Kritik an extremer Armut,
schreiender Ungerechtigkeit und beängs-
tigender Umweltzerstörung. Dafür steht
etwa das Netzwerk „Micah Global“.
Schließlich gibt es eine kritische Gegen-
bewegung aus den eigenen Reihen. In den
USA verlassen immer mehr junge Men-
schen die evangelikalen Gemeinden, in de-
nen sie aufgewachsen sind. Im Zorn und
unter großen Schmerzen. Als Kinder und
Jugendliche haben viele dort Missbrauch
erlebt, nicht unbedingt sexueller Art,
wohl aber „spiritual abuse“: Unterdrü-
ckung, Beschämung, Manipulation. Mit
der Frömmigkeit ihrer Herkunft haben
sie gebrochen, sich aber eine Art von Glau-
ben bewahrt. Doch wie sollen sie sich nen-
nen? Die Wörter „evangelical“ oder „Chris-
tian“ sind für sie vergiftet. Deshalb be-
zeichnen sich die meisten als „Post-Evan-
gelicals“. Als lose Bewegung, die sich vor
allem in sozialen Netzwerken organisiert,
suchen sie nach einer anderen Frömmig-
keit: frei, tolerant, sozial und ökologisch
engagiert. Das klingt vertraut, denn auch
in Deutschland gibt es viele Menschen,
die sich als protestantische Post-Protes-
tanten verstehen, auch wenn ihnen dieser
Begriff unbekannt ist – was eben zeigt,
wie wenig vorschnelle Urteile in Glaubens-
fragen nützen.

Johann Hinrich Claussen, 55, ist Kulturbeauftrag-
ter der Evangelischen Kirche in Deutschland.

BILD: ULRIKE STEINKE

DEFGH Nr. 206, Freitag, 6. September 2019 MEINUNG HF2 5


STEINKES ANSICHTEN


Pflegekraft-Los

Spiritueller Missbrauch
gefährdet viele junge Gläubige.
Doch sie wehren sich dagegen

Selbstbetrug


Bürgerliche loben sich jetzt gerne als besonders
gute Demokraten. Tatsächlich aber schließen auch sie
viele Menschen aus. Das hilft Rechtsextremen

VON JAGODA MARINIĆ


Frömmigkeiten


Der Protestantismus verliert hierzulande an Bedeutung,
weltweit ist er eine aufstrebende Macht. Evangelikale und
Wunderheiler treten auf, aber auch Sozialrevolutionäre

VON JOHANN HINRICH CLAUSSEN

Zum Beispiel Ai Weiwei: Geliebt


wurde der Künstler, solange er


die Deutschen nicht kritisierte


BIS -


44 %


1

S


A


LE


LUXU


S


STOREMÜNCHEN:LandsbergerStr. 372 ·Telefon: 089 / 58989114 ·ÖffnungszeitenMontag–Samstag 10 – 20 Uhr,Sonntag 13 – 17 UhrProbewohnen(Sonntag:keineBeratung,keinVerkauf)^1 Sieerhaltenbiszu 44 %RabattaufdieUVPderHersteller.
ONLINE-SHOP:whos-perfect.de·WHO’SPERFECT–LaNuovaCasaMöbelhandelsGmbH&Co.KG,München,LandsbergerStraße 368 – 3742 Sieerhalten 10 %ZusatzrabattaufalleausgewiesenenWerbe-,Angebots-undAbverkaufspreise–ausgenommenSale-HighlightssowieLiefer-,Montage-undEntsorgungskosten.

10 %


ONTOP R
ABATTAU
F

SOFAS
& SESS
EL

2

NUR DIESE
S

WOCHEN
ENDE:

ECKSOFASabE 1. 999 ,– | TISCHEabE 999 ,– | BETTENabE 949 ,–

Free download pdf