Süddeutsche Zeitung - 06.09.2019

(Michael S) #1
DieBürgerinDeutschlandgehen
immer mehr davon aus, dass die gro-
ße Koalition trotz aller Kontroversen
bis zur regulären nächsten Bundes-
tagswahl im Herbst 2021 weiterregie-
ren wird. Nach dem neuen Politbaro-
meter der Forschungsgruppe Wahlen
rechnen inzwischen 72 Prozent der
Wahlberechtigten damit, dass das
Bündnis aus Union und SPD die ganze
Wahlperiode durchhalten wird – das
sind zwölf Prozentpunkte mehr als
noch im Juni. Von einem vorzeitigen
Ende der großen Koalition gehen
inzwischen nur noch 22 Prozent (Juni:
34 Prozent) aus. 73 Prozent der Befrag-
ten insgesamt fanden es auch gut,
dass Angela Merkel bis 2021 Bundes-
kanzlerin bleiben wird.D P A

Politbarometer


von antonie rietzschel

Leipzig/Erfurt– Juliane Nagel hat Grund
zu feiern. Am 1. September holte die Lin-
ken-Politikerin zum zweiten Mal das
Direktmandat. In ihrem Wahlkreis im Leip-
ziger Süden erreichte sie 27,4 Prozent.
Doch Nagel war in den letzten Tagen vor
allem zum Heulen zumute. Denn ihre Par-
tei, einst stärkste oppositionelle Kraft, ist
nach den Landtagswahlen auf 10,4 Prozent
abgestürzt. Von 27 Abgeordneten sind nur
noch 14 übrig. Nagel ist in diesen Tagen
eine Gewinnerin unter sehr vielen Verlie-
rern. Ihre Stimmung? „Mittel.“
Die Verluste in Sachsen und Branden-
burg haben auch die Bundespartei tief
erschüttert. Am Montag war in Berlin von
einer „deutlichen Niederlage“, von „schwe-
ren strukturellen Schwächen“ die Rede.
Parteivorsitzende Katja Kipping kündigte
an, man wolle „ohne Tabus über eine Neu-
aufstellung” sprechen. Sie redete von per-
sonellen Konsequenzen. Dabei stand die
Fehleranalyse in Brandenburg und Sach-
sen noch am Anfang. Und Genossinnen
wie Nagel befanden sich in Schockstarre.
Wenige Tage später sitzt Nagel vor dem
Linxxnet, einem Treffpunkt im Leipziger
Stadtteil Connewitz, der auch ihr Büro be-
herbergt. Die 40-Jährige hat mehrere Ge-
sprächsrunden hinter sich, in denen sie
und ihre Mitstreiter nach den Gründen für
das schlechte Abschneiden der Partei such-
ten. Es flossen Tränen. Auch bei Nagel.
Manche glauben, es lag an den Wahlplaka-
ten, die weniger den politischen Gegner,
sondern eher Deutschlehrer zur Weißglut
brachten, weil das Wort Sozialismus dar-
auf falsch getrennt war: SOZI-ALI-SMUS.
Andere fanden den Spitzenkandidaten
und Fraktionschef Rico Gebhardt im Wahl-
kampf zu behäbig. Nagel sagt: „Diese Wahl
war von Angst vor der AfD getrieben.“
Angesichts eines drohenden Sieges der
Rechtspopulisten entschieden sich viele
Sachsen, entgegen ihrer politischen Über-
zeugung zu wählen. So verlor die Linke die
meisten Stimmen nicht an die AfD, son-
dern an die CDU. Nagel gewann zwar ihren
Wahlkreis. Aber anders als bei der Land-
tagswahl 2014 wurde die CDU im Leipziger
Süden stärkste Kraft. Ausgerechnet die
Partei, deren Politiker den Stadtteil Conne-
witz regelmäßig als Nährboden für Links-
extremisten und deren Bewohner als „Cha-
oten“ verteufeln, Nagel eingeschlossen.

Die Politikerin ist weit davon entfernt,
ihre Partei schlicht als Opfer politischer
Umstände zu sehen. Sie macht der sächsi-
schen Linken Vorwürfe. Weil sie im Wahl-
kampf nicht mehr wollte, als Oppositions-
partei zu werden. „Wir haben kein Angebot
für eine mögliche Regierungskonstellation
gemacht“, sagt Nagel. Sie unterstützte
„Sachsen kippt“, eine Initiative von Grü-
nen, Sozialdemokraten und Linken, die
sich für eine rot-rot-grüne Landesregie-
rung aussprachen. Nagels Partei zog nicht
mit. Sie inszenierte sich als Protest- und
Ostpartei – obwohl die AfD diese Rolle er-
folgreicher ausfüllte, obwohl die Linken
woanders mitregieren, in Thüringen, Bre-
men, Berlin – zuletzt auch in Brandenburg.

„Wir brauchen in Sachsen dringend eine
neue Identität“, sagt Juliane Nagel. Ihre
Partei müsse zudem Antworten auf drän-
gende Fragen liefern. Etwa, wie der Klima-
schutz sozial verträglich gelingen kann.
Die Partei müsse weg von ihrem urbanen
Image und stärker im ländlichen Raum prä-
sent sein. Nagel hofft auf die Klausur Mitte
September, bei der die Partei über die künf-
tige Ausrichtung beraten will.
Zu personellen Fragen will sie nichts sa-
gen. Mit Sorge beobachtet sie das Vorpre-
schen der Leipziger Stadtratsfraktion. Die
hatte in einem Brief den Rücktritt der Lan-
desspitze gefordert. Nagel und zwei weite-
re Landtagsabgeordnete reagierten mit ei-
ner Erklärung. Darin fordern sie, die „aus
der Bundespartei bekannte harte, öffentli-
che Auseinandersetzung jetzt nicht auch
noch im Landesverband zu führen“. Nagel
fürchtet eine Selbstzerfleischung, die
nicht nur der Linken in Sachsen schadet,
sondern auch den Parteikollegen in Thürin-
gen. Die wollen schließlich Ende Oktober
eine Landtagswahl gewinnen.
Bodo Ramelow ist als Ministerpräsident
von Thüringen prominenter Vertreter sei-
ner Partei. Doch deren Zustand scheint ihn
derzeit kaum zu interessieren. Das größte
Problem des Ministerpräsidenten ist weni-
ge Millimeter groß, hart gepanzert und un-
ersättlich: Der Borkenkäfer hat sich diesen
Sommer durch Ramelows Waldbestand ge-
fressen. 19 Bäume musste er deswegen um-

sägen und zu Brennholz zerhacken. Mit
der Spaltaxt. „Die ist gesaust.“ So erzählt er
es beim Sommerempfang der Linken-Frak-
tion in Erfurt.
Hunderte Menschen sind an diesem
Abend zu einer alten Industriehalle in der
Nähe des Bahnhofs gekommen, sonst ein
Ort für Flohmärkte und Konzerte. In mit
Eis gefüllten Zinkwannen liegen Bierfla-
schen. Die Band spielt einen bekannten
Song des Jazz-Sängers Bill Withers. „Just
one look at you and I know it’s gonna be a lo-
vely day.“ Auftritt Bodo Ramelow. „Wir
müssen wieder positiv über Politik reden“,

sagt er. Ramelow spricht über die Erfolge
der rot-rot-grünen Landesregierung: Hun-
derte neu eingestellte Lehrer, Beitragsfrei-
heit für das erste Kita-Jahr. Dann geht es
wieder um den Wald, darum, was Rame-
low wirklich Sorgen macht. Durch die Hit-
ze und den Borkenkäfer sind 40 000 Hekt-
ar Wald gefährdet. Die Rettung der Bäume
wird Ramelows zentrales Wahlkampfthe-
ma sein. Doch wie steht er zur Rettung sei-
ner Partei? „Ich muss mein Amt als Minis-
terpräsident verteidigen. Wer Fragen zur
Partei hat, muss sich an die wenden“, sagt
Ramelow nach der Rede. Zu seinen Füßen

steht Hund Attila, wedelt mit dem
Schwanz.SeinHerrchenwirdnachdem
Sommerempfang zu einer Dialogreihe auf-
brechen. Quer durch Thüringen.
Unterwegs wird auch der weiße Liefer-
wagen sein, der draußen auf dem Park-
platz steht. Eine Art Tante-Emma-Laden
auf Rädern. Er soll vor allem in den Dör-
fern zum Einsatz kommen. Drinnen macht
eine Wahlkampfhelferin Inventur. In der
Auslage liegen trockene Brötchen, Senf
aus Bautzen, Frühstücksflocken aus Wur-
zen. Es sind die Reste, die vom Wahlkampf
in Sachsen übrig geblieben sind.

Tief auf dem


roten Wagen


In Sachsen streiten die Linken nach der Niederlage. Das
könnte auch Bodo Ramelow in Thüringen schaden

Köln– Die Kölner Oberbürgermeisterin
Henriette Reker hat ihre Kandidatur für
eine zweite Amtszeit offiziell angekün-
digt. „Ich bitte die Kölnerinnen und
Kölner um ihr Vertrauen für weitere
fünf Jahre“, teilte die parteilose Politike-
rin in einem Video bei Facebook am
Donnerstagmorgen mit. Die nächsten
Oberbürgermeisterwahlen in Köln fin-
den im September 2020 statt. Die Kandi-
datur von Rekers hatte 2015 eine soge-
nannte „Regenbogenkoalition“ aus
CDU, FDP, den Grünen, den Freien Wäh-
lern und der Wählergruppe Deine Freun-
de unterstützt. Einen Tag vor den Wah-
len wurde die 62-Jährige Opfer eines
Messerattentats und dabei schwer ver-
letzt.DieWahlenzurOberbürgermeiste-
rin gewann Reker dann im ersten Wahl-
gang mit knapp 53 Prozent. dpa


Berlin– Ungeachtet der Ankündigung
von Bayerns Ministerpräsidenten Mar-
kus Söder (CSU), man werde das 2017
und 2018 verschärfte bayerische Polizei-
gesetz abmildern, halten FDP, Grüne
und Linke an ihrer Verfassungsbe-
schwerde fest. „Rechtssicherheit kann
nurdasBundesverfassungsgericht
bringen, keine halbherzigen Nachbesse-
rungen am Gesetz“, sagte der FDP-Bun-
destagsabgeordnete Stephan Thomae
der SZ. Er war im vergangenen August
als Erster nach Karlsruhe gezogen, die
drei Bundestagsfraktionen waren ge-
folgt. Vergangene Woche hatte eine von
Bayerns Regierung eingesetzte Prüf-
kommission ihren Bericht vorgestellt.
Demnach seien fast nur Ausländer vom
neuen, mehrwöchigen Präventivgewahr-
sam in Bayern betroffen gewesen – und
teils „nicht nur als Ultima Ratio“, son-
dern bis organisatorische Fragen ge-
klärt waren, etwa eine „Änderung der
Unterbringung“. rst Seite 4


Berlin– Die FDP will dem Klimawandel
durch die Förderung von Spitzentechno-
logien begegnen. „Als Erfindernation
ist es unsere Chance und ethische Ver-
antwortung zugleich, Spitzentechnolo-
gien zu entwickeln, die selbstbestimm-
te Lebensweise und wirtschaftlichen
Fortschritt mit der Schonung der natür-
lichen Lebensgrundlagen vereinbaren“,
heißt es in einem während einer Klau-
surtagung in Jena gefassten Beschluss
der FDP-Fraktion. „Der Klimaschutz
wird als Vorwand genutzt, um Lebenssti-
le vorzugeben und Front gegen die In-
dustrie zu machen“, kritisierten die
Liberalen. Sie seien gegen „Katastro-
phenrhetorik, Aktionismus, Bevormun-
dung und Planwirtschaft“. Mission der
Freien Demokraten sei es, „in aufgereg-
ten Zeiten die Stimme der Vernunft zu
sein“. Die Ränder bestimmten zu viele
Debatten. dbr


Berlin– Im ersten Halbjahr 2019 hat
die Polizei bundesweit 609 Straftaten
registriert, die sich gegen Flüchtlinge
oder Asylbewerber richteten. Die Täter
kamen fast alle aus dem rechtsextre-
men Spektrum. Das geht aus einer Ant-
wort der Bundesregierung auf eine
Anfrage der Linkspartei hervor, wie die
Neue Osnabrücker Zeitungberichtet.
Hinzu kamen 60 Angriffe auf Flücht-
lingsunterkünfte sowie 42 Attacken
gegen Hilfsorganisationen oder ehren-
amtliche Helfer, wie es weiter hieß. Bei
den Übergriffen seien 102 Menschen
verletzt worden, unter ihnen sieben
Kinder. Ulla Jelpke von den Linken
beklagte, Flüchtlinge seien in Deutsch-
land einer alltäglichen Bedrohung aus-
gesetzt.dpa, epd


Berlin– Rund 2,1 Millionen Kinder wach-
sen in Deutschland in Alleinerziehendenfa-
milien auf. Für 805 799 von ihnen musste
im vergangenen Jahr der Staat mit dem Un-
terhaltsvorschuss einspringen, weil der un-
terhaltspflichtige Elternteil – zu 90 Pro-
zent der Vater – nicht zahlen konnte oder
wollte. Wie groß der Anteil der Unfähigen
respektive Unwilligen ist, dazu gab es bis-
lang nur grobe Schätzungen. Am Donners-
tag nun veröffentlichte das Bundesfamili-
enministerium erstmals konkrete Zahlen.
Demnach waren 2018 bei 61 Prozent der
Kinder, für die der Unterhaltsvorschuss ge-
zahlt worden war, die zahlungspflichtigen
Eltern nicht in der Lage, den Unterhalt auf-
zubringen. Ein „Rückgriff“ war also nicht
möglich. Das heißt, die Behörden konnten
kein Geld zurückfordern; aus dem Vor-

schuss wurde eine Ausfallleistung. Den
größten Teil in dieser Gruppe machten mit
44 Prozent Unterhaltspflichtige mit einem
zu geringen Einkommen aus, um Unter-
halt zahlen zu können; ein bestimmter
Selbstbehalt, um die eigenen Lebenshal-
tungskosten bestreiten zu können, darf ih-
nen nicht genommen werden. Bei weiteren
zehn Prozent reichte das Einkommen nur
für einen Teil der Unterhaltsansprüche.
Und schließlich waren in sieben Prozent
der Fälle die Zahlungspflichtigen insolvent
oder inzwischen verstorben.
Die Zahlen zeigen allerdings im Umkehr-
schluss auch, dass in immerhin 39 Prozent
aller Fälle ein Rückgriff durchaus möglich
wäre. Tatsächlich aber bekommt der Staat
sein Geld deutlich seltener zurück, auch
wenn sich an dieser Stelle weiterhin eine

Datenlücke auftut: Bekannt ist nämlich le-
diglich, dass 2018 von den insgesamt
2,1 Milliarden Euro Unterhaltsvorschuss,
die zu 40 Prozent der Bund und zu 60 Pro-
zent die Länder finanziert haben, nur
13 Prozent wieder eingetrieben wurden.
Mit den 39 Prozent derFälle, in denen ein
Rückgriff theoretisch möglich wäre, lässt
sich diese Prozentzahl, die sich auf die aus-
gezahltenSummenbezieht, aber nicht di-
rekt ins Verhältnis setzen. Eine grobe Grö-
ßenordnung lässt sich dennoch ablesen.
Und die lässt den Schluss zu, dass die Län-
der sich deutlich mehr Geld zurückholen
könnten, als sie es derzeit tun. Mit einer
Rückgriffquote von 20 Prozent war im ver-
gangenen Jahr Bayern der Spitzenreiter un-
ter den Ländern, das Schlusslicht war Bre-
men mit sechs Prozent.

Bundesfamilienministerin Franziska
Giffey (SPD) kündigte an, der bessere Rück-
griff solle nun im Fokus stehen. Dass die
Quote zuletzt deutlich gesunken war –
2017 lag sie noch bei 19 und 2016 bei 23 Pro-
zent – führte sie auf die Reform des Unter-
haltsvorschusses Mitte 2017 zurück. Seit-
her hat sich die Zahl der anspruchsberech-
tigten Kinder fast verdoppelt, was den Äm-
tern eine Antragsflut bescherte. Der Bund
arbeite mit den Ländern zusammen, sagte
Giffey. Allerdings könne er den Ländern
keine Vorschriften machen. Umstritten ist
etwa, ob die Länder ihr Rückforderungsma-
nagement zentral regeln sollten. Auch die
Frage, ob die Jugendämter oder die Finanz-
behörden zuständig sein sollen, beantwor-
ten die Länder derzeit noch unterschied-
lich. henrike roßbach Seite 4

Berlin –Die Fraktionsspitze der SPD will
die Gewinne privater Pflegeheime begren-
zen. In einem Positionspapier, das derSüd-
deutschen Zeitungvorliegt, heißt es, Pflege-
heime seien „gefragte Investitionsobjek-
te“ geworden. Weil sich „die öffentliche
Hand seit Einführung der Pflegeversiche-
rung weitgehend aus der Pflegeheimförde-
rung zurückgezogen“ habe, seien es heute
Kapitalinvestoren, welche die Heime finan-
zierten. „Immer mehr große Ketten drän-
gen auf den Markt, die für anonyme Anle-
ger Renditen erwirtschaften wollen“, sagt
SPD-Gesundheitspolitikerin Heike Baeh-
rens. Doch diese Gewinne dürften nicht zu-
lasten der Pflegebedürftigen und der Mit-
arbeiter erwirtschaftet werden, heißt es in
dem Papier. Die gesetzliche Bevorzugung
von privaten Betreibern beim Neubau von
Einrichtungen müsse gestrichen werden.
An diesem Freitag soll auch die Fraktion
über die Vorschläge abstimmen.

Bereits im April hatte der SPD-Parteivor-
stand gefordert, die Pflegeheimkosten für
Bewohner und ihre Familien zu begrenzen.
Auch die Fraktionschefs wollen nun eine
„Deckelung der individuell zu tragenden
Eigenanteile“. Dafür möchten die Sozialde-
mokraten eine „Pflegebürgerversiche-
rung“ einführen: Auch Beamte und Selbst-
ständige sollen demnach Beiträge einzah-
len, die Versicherungsgemeinschaft soll
dann die steigenden Kosten in der Pflege
tragen. Heute funktioniert die Pflegeversi-
cherung anders herum: Steigende Kosten
der Heime bezahlen die Bewohner aus ih-
rem eigenen Vermögen. Die Pflegekasse
gibt lediglich feste Zuschüsse. Wenn Politi-
ker also höhere Löhne für Fachkräfte for-
dern, zahlen dafür die Pflegebedürftigen.
Weil viele Familien bereits heute mit
den Heimkosten überfordert sind, sprin-
gen bislang häufig die Kommunen mit Sozi-
alhilfe ein. Das SPD-Papier sieht zur Finan-
zierung der Pflegekosten auch Zuschüsse
aus Steuermitteln und aus der Krankenver-
sicherung vor. Außerdem sollen die Bun-
desländer wieder in die Förderung der Hei-
me einsteigen. Die Kommunen würde eine
solche Umverteilung entlasten. Sie könn-
ten die Mittel nutzen, „um neue Wohnfor-
men zu entwickeln und in altersgerechten
Wohnungsbau, Quartiersentwicklung und
Beratung zu investieren“.
Für Menschen, die Angehörige pflegen,
fordert die SPD-Fraktionsspitze „einen An-
spruch auf Pflegezeit mit Lohnersatzleis-
tung“, der „dem von Elternzeit und Eltern-
geld entspricht“. Auch Familienministerin
Franziska Giffey hatte kürzlich ein neues
„Familienpflegegeld“ angekündigt.
kristiana ludwig

Potsdam– Die Unionsfraktion will, dass
Clankriminalität in Deutschland deutlich
stärker bekämpft wird als bisher. Bei einer
Klausur in Potsdam beschloss der Frakti-
onsvorstand deshalb „12 Ansätze“ dazu,
die er jetzt im Bundestag durchsetzen will.
Anlass für die Initiative sind Zahlen aus
Nordrhein-Westfalen. Im Mai hatte das
dortige Landeskriminalamt das erste „La-
gebild Clankriminalität“ vorgelegt. Dem-
nach waren in dem Bundesland in den ver-
gangenen drei Jahren 104 Großfamilien
für 14 225 Straftaten verantwortlich. Bei
mehr als einem Drittel dieser Taten handel-
te es sich um sogenannte Rohheitsdelikte,
also etwa Bedrohung, Nötigung, Raub und
gefährliche Körperverletzung. In 26 Fällen
ging es sogar um versuchte und vollendete
Tötungsdelikte. Zehn Clans waren beson-
ders auffällig. Allein auf ihr Konto gingen
30 Prozent der 14 225 Straftaten. Knapp
60 Prozent der Tatverdächtigen waren Li-
banesen, Türken und Syrer.

„Clankriminalität bedroht die innere Si-
cherheit und zerstört das Vertrauen der
Bürgerinnen und Bürger in den Rechts-
staat“, sagte Unionsfraktionsvize Thorsten
Frei am Donnerstag. Der Staat werde „von
einer Gruppe abgeschotteter, nach eige-
nen Unwerten lebender Familien herausge-
fordert, in denen auch strafunmündige
Mitglieder schwere Verbrechen begehen“.
Dagegen müsse vorgegangen werden.
Dabei muss nach Ansicht der Unions-
fraktion „ein Null-Toleranz-Ansatz ver-
folgt werden, wie er etwa in Bayern prakti-
ziert“ werde. Das bedeute, dass man be-

reits bei Kleinkriminalität und Ordnungs-
widrigkeiten konsequent interveniere. Auf
kriminellen Weg erlangtes Vermögen müs-
se konsequent eingezogen werden.
Konkret verlangt die Unionsfraktion in
ihrem Beschluss vom Donnerstag, dass
„gefährliche Ausländer“ gezielter abge-
schoben werden. In dem Papier heißt es,
dass der aufenthaltsrechtliche Status von
Mitgliedern palästinensisch-libanesischer
Großfamilien und sogenannten Mhallami-
ye-Kurden „häufig sehr komplex“ sei. Wäh-
rend die erste Generation mit familiären
Wurzeln in der Türkei über den Libanon in
den 80er-Jahren nach Deutschland einge-
reist sei, verfüge die zweite oder dritte Ge-
neration mitunter über die deutsche
Staatsangehörigkeit, andere seien staaten-

los oder im Besitz der türkischen, libanesi-
schen oder syrischen Staatsangehörigkeit;
hinzu kämen Schwierigkeiten beim Nach-
weis der Nationalität. Deshalb will die Uni-
onsfraktion den im Zentrum zur Unterstüt-
zung der Rückkehr (ZUR) angesiedelten
„Arbeitsbereich Sicherheit“ deutlich aus-
bauen, der sich schon heute um die Aufent-
haltsbeendigung von Intensivstraftätern
kümmert.
In Kürze soll auch das neue „Bundesla-
gebild Organisierte Kriminalität“ erschei-
nen. Wenn es eine ähnliche Dimension wie
das für Nordrhein-Westfalen zeichnet, will
sich die Unionsfraktion bei den anstehen-
den Haushaltsberatungen außerdem für
zusätzliche Stellen beim Bundeskriminal-
amt und bei den Zollbehörden einsetzen.

In jedem Fall verlangt die Unionsfrakti-
on, dass überprüft wird, ob die Regeln zur
Abschöpfung von Vermögen und die Stra-
fen für Geldwäsche verschärft werden müs-
sen. Außerdem würde die Unionsfraktion
gern die Vorratsdatenspeicherung einset-
zen. „Kriminelle Clanfamilien arbeiten
hoch konspirativ“, klassische Ermittlungs-
methoden wie der Einsatz verdeckter Er-
mittler seien deshalb meist nicht anwend-
bar, heißt es in dem Beschluss. Ein wirksa-
mes Mittel sei dagegen die Überwachung
der Kommunikation und Bewegungsprofi-
le der Straftäter. Das könne helfen, „per-
sönliche Verbindungen im familiären Kon-
text besser aufzuklären“.
Außerdem verlangt die Unionsfraktion
Änderungen beim Zeugnisverweigerungs-
recht. Ein klassischer Missbrauchsfall im
Bereich der organisierten Kriminalität sei-
en Zuhälter und Prostituierte, die sich ver-
loben, um eine Zeugenaussage der Prosti-
tuierten zu verhindern. Um derlei abzustel-
len, will die Union das Zeugnisverweige-
rungsrecht für Verlobte abschaffen.
Darüber hinaus möchte die Union die
Herausnahme von Kindern, die schwere
Gewalttaten verüben, aus ihren Familien
erleichtern und Aussteigerprogramme für
Frauen schaffen. „Frauen werden in den
patriarchalischen Clan-Strukturen oft un-
terdrückt“, heißt es in dem Beschluss. Sie
würden keinen Zugang zu Bildung erhal-
ten und seien „nicht selten“ Opfer häusli-
cher Gewalt und unter Zwang verheiratet
worden. Da Ehen innerhalb der Familie ei-
ne Grundvoraussetzung für die Existenz
krimineller Clans seien, würde es die Struk-
turen nachhaltig schwächen, wenn es ge-
länge, Frauen und auch Kinder aus den
Clans herauszuholen. Doch dafür gebe es
bisher keine Infrastruktur, diese wolle
man jetzt aufbauen.robert roßmann

„Ich muss mein Amt als Ministerpräsident verteidigen. Wer Fragen zur Partei hat, muss sich an die wenden“: Bodo Ramelow,
hier Mitte Juli in Nordhausen beim Besuch des IFA-Museums auf einem Radschlepper „Typ Harz“. FOTO: MARTIN SCHUTT/DPA

6 HF3 POLITIK Freitag, 6. September 2019, Nr. 206 DEFGH


Die Rede ist von Familien,
die abgeschottet und
„nach eigenen Unwerten“ lebten

Polizisten bewachen den Eingang eines Lokals im Berliner Stadtteil Neukölln wäh-
rend einer Großrazzia. FOTO: PAUL ZINKEN / DPA

Den Ministerpräsidenten scheint
die Krise nicht zu interessieren.
Sein Problem: der Borkenkäfer

Die Länder sollen wieder in die
Förderung der Heime einsteigen

Reker tritt wieder an


Allianz gegen Polizeigesetz


Erfinder gegen Klimawandel


Straftaten gegen Flüchtlinge


Sie könnten, aber sie wollen nicht


Wenn ein Elternteil den Unterhalt schuldig bleibt, springt der Staat ein. Neue Zahlen zeigen: Oft mangelt es nicht am Geld


AngabeninProzent,(inKlammern:Veränderungzu
AnfangAugust 2019 inProzentpunkten)


WennamnächstenSonntag
Bundestagswahlwäre...


28 24 15 13 7 6 7

CDU/CSUGrüne SPD AfD Linke FDPSonstige

(± 0 ) (- 1 ) (+ 2 ) (± 0 ) (± 0 ) (- 1 ) (± 0 )

Schwankungsbereichnachobenundunten

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SPD will Pflege


anders finanzieren


Gewinne privater Einrichtungen
sollen begrenzt werden

INLAND


Damit es nicht in der Familie bleibt


Die Unionsfraktion will Clankriminalität wirksamer bekämpfen. Anlass sind dramatische Zahlen aus NRW

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