Süddeutsche Zeitung - 06.09.2019

(Michael S) #1
Warschau–Im Ringen um Macht und
Geldinder ukrainischen Hauptstadt Kiew
steht Ex-Boxweltmeister Witalij Klitschko
möglicherweisevoreinem K. o. durch die
Mannschaft vonPräsident Wolodimir
Selenskij. Die Regierung billigte einen
Antrag Selenskijs, Klitschkoals Verwal-
tungschef zu entlassen. Der entsprechen-
de Erlass des Präsidentenist nur noch
Formsache. Klitschkobliebeweiterhin Bür-
germeister,wäre aber seinerHauptvoll-
machten beraubt. SelenskijsVorgehen ist
rechtlich fragwürdig und dürfte zum mo-
natelangen Kampf um Kiewführen.
Kiewhat als Hauptstadt einen Sonder-
status, der anderenukrainischen Oblasts
(Regionen)entspricht, und dadurch zwei
Führungsposten: den des Bürgermeisters
und den desVerwaltungschefs.Während
der ukrainische Präsidentdie Leiter ande-
rerOblasts freifeuern und ernennen darf,
muss er in Kiew denjenigenzumVerwal-
tungschef ernennen, der zuvor zum Bür-
germeister gewählt wurde. Dies hat das
ukrainischeVerfassungsgericht 2003 in ei-
nemUrteil bestätigt.
Klitschkowurde im Mai 2014 zum Bür-
germeister gewählt und daraufhin von
PräsidentPetroPoroschenkozumVerwal-
tungschef ernannt. Da seineParteiUdar
(Schlag) zudem dieMehrheit im Stadtrat
hat,vergibt undkontrolliert Klitschkoden
Stadthaushalt, städtischen Besitz und die
Vergabe lukrativer Baugenehmigungen. Il-
legale Bautengibt es in Kiew oft;Journalis-
ten filmten KlitschkoimSeptember 2017
zusammen mit zwei einflussreichen Kie-
werBauunternehmern. Der einevonihnen
–WadimStolar–galt als „graue Eminenz“
hinter Klitschko,wasdieser bestreitet.
Andrij Bohdan, neuer Chef der Präsidial-
verwaltung, behauptete am 30.Juli, ihm
seien für denVerbleib Klitschkos alsVer-
waltungschef 20 Millionen Dollar Beste-
chungsgeld gebotenworden. Doch Klitsch-
ko zufolgeforderte Bohdan ihn, Klitschko,
auf, ab sofort sämtliche Entscheidungen
mit zwei IntimivonBohdan abzuklären:
mit dem Bauunternehmer AndrijWarisch
und mitOlexander Tkatschenko.

Tkatschenkoarbeitete wie Bohdan zu-
vorfür den umstrittenenOligarchen Ihor
Kolomoiskij. DessenUnterstützungwar
mitentscheidend für SelenskijsWahl zum
ukrainischen Präsidenten.Sollte Selenskij
Klitschkoentlassen und einen anderenVer-
waltungschef ernennen,wäreKlitschko
immer noch Bürgermeister und würde bis
zu Lokalwahlen imHerbst 2020weiterhin
den Stadtratkontrollieren. Klitschkokün-
digte zudem Klage gegen seine anstehen-
de „rechtswidrige“Entlassung alsVerwal-
tungschef an. florian hassel

vondaniel brössler

Berlin –Wenn es um den Frieden imNa-
henOsten geht, gilt fürdie Bundesregie-
rung seitJahrzehnten jene im Prinzip einfa-
che Devise, die auch im derzeit geltenden
Koalitionsvertrag wieder zu finden ist.
„Deutschland wirdsichweiter für eine Lö-
sung desNahostkonflikts auf Basis einer
Zweistaatenlösung einsetzen“,heißtes
dort. Pflichtschuldig wird siebei jederGele-
genheit wiederholt.„Wir sind und wir blei-
ben uns einig in derNotwendigkeit einer
verhandelten Zweistaatenlösung“,sagte
AußenministerHeikoMaas(SPD)imJuni
nacheinemGespräch mit dem jordani-
schen AußenministerAyman SafadiinAm-
man.Tatsächlich aber herrscht in der Bun-
desregierungmittlerweile tiefe Skepsis
sowiegroßerVerdruss überbeideKonflikt-
parteien–also sowohl über die israelische
als auch die palästinensische Führung. Die
Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grü-
nen, die derSüddeutschen Zeitungvorliegt,
lässtindieser Hinsicht erstaunlich tief
blicken.
Durchdie 17-seitigeAntwort ziehtsich
wieein roterFadendie „große Sorge“dar-
über,dasspolitisch,wirtschaftlich und mi-
litärischFakten geschaffenwerden, dieei-
ne Zweistaatenlösung unmöglich machen
könnten. Mit „großer Sorge“beobachte die

Bundesregierung die hohe Anzahl rückwir-
kender LegalisierungenvonSiedlungsau-
ßenposten, die auch nach israelischem
Recht illegal errichtetwordenseien. Mit
„großer Sorge“habe dieBundesregierung
Äußerungen im israelischenWahlkampf
hinsichtlicheiner möglichen Annexion
vonTeilen des besetztenWestjordanlan-
des zurKenntnis genommen.Und„große
Sorge“herrsche auchwegen der anhaltend
ausgesetzten israelisch-palästinensischen
Finanzkooperation.

DieBundesregierunghält sich mit schar-
ferKritik an der israelischen Regierung
und denFolgen ihrerPoliti knicht mehr zu-
rück. So beklagt sie eine massiveEin-
schränkung wirtschaftlicher Entfaltungs-
möglichkeiten derPalästinenser durch die
israelische Militärverwaltung. Der palästi-
nensischen Bevölkerung fehle es „insbe-
sondereinländlichen Regionen anMög-
lichkeiten zur wirtschaftlichen Entwick-
lung und Einkommensgenerierung“.Ver-
antwortlich seien die mangelnde Infra-
struktur und der fortschreitende israeli-
sche Siedlungsbau. DieAusweisungvon

Naturschutzgebieten und militärischen
Sperrgebieten sowie der BauvonSiedlun-
gen und ihrer Schutzanlagen schränkten
denZugang derPalästinenser zuWasser
undWeideland ein. „Insbesondereauf-
grund der eingeschränktenWasserversor-
gung und des begrenzt verfügbaren
Weidelands wirdein rentabler landwirt-
schaftlicher Betrieberschwert, sodass die
palästinensische Bevölkerung zunehmend
Subsistenzwirtschaft betreibt oder in israe-
lischen Siedlungen arbeitet, um ein Ein-
kommen zu erzielen“, konstatiert die Bun-
desregierung.
Verwiesen wirdauchauf Zahlender Ver-
eintenNationen,wonach im sogenannten
C-Gebiet, das unter alleiniger israelischer
Kontrolle steht, zwischen 2009 und 2017
weniger als drei Prozent der Bauanträge
vonPalästinenserngenehmigtworden sei-
en. „Mangelhaft“sei auch der Rechtszu-
gang der palästinensischen Bevölkerung.
Einzelne Sicherheitsmaßnahmen wider-
sprächen denRegelndes humanitärenVöl-
kerrechts.
Deutliche Kritik wirdinder vomStaats-
sekretärimAuswärtigenAmt, Andreas Mi-
chaelis, übermitteltenAntwort aber auch
an der palästinensischen Führung geübt.
So fordereman eine „Stärkung demokrati-
scher und rechtsstaatlicher Prinzipien in
derPalästinensischen Behörde“.Seit der

Auflösung des palästinensischen Legisla-
tivrates im Dezember 2018 sei das noch
„dringlicher“.Die Lage der Grundfreihei-
ten habe sich in jüngster Zeitverschlech-
tert. Mit Sorge sehe man, dass dieArbeit
vonMenschenrechtsorganisationen so-
wohl von israelischerals auch palästinensi-
scher Seite erschwert werde. Besorgt sei
dieBundesregierung auch überdie Verhaf-
tung vonJournalisten und Menschen-
rechtsaktivisten.
Der fast durchgängig negative Lagebe-
richt offenbart das Dilemma deutscher
und europäischer Nahost-Politik. Wäh-
rend sieauf derZweistaatenlösung be-
harrt,muss siezusehen, wie die Chancen
für diese schwinden. Der israelischeMinis-
terpräsident Benjamin Netanjahu hatte
erst jüngstwieder erklärt,dasserdie israe-
lische Souveränität über alleSiedlungen
im Westjordanland ausbreitenwolle. „Das
ist unser Land“,sagte er.Inihrer Anfrage
wollten die Grünen wissen,wasdenn die
Bundesregierung jenenPalästinensern sa-
ge, diekeine politischePerspektive mehr
fü rdie Zweistaatenlösung sehen. Eine Ant-
wort darauf aber bleibt die Bundesregie-
rung schuldig. Sieverweist aufs Prinzip:
NureineverhandelteZweistaatenlösung
könne denNahostkonflikt „nachhaltig be-
frieden und denlegitimen Ansprüchen bei-
der Seiten gerecht werden“.

Istanbul–DerTürkeisolltenachAuffas-
sung ihres Präsidenten RecepTayyipErdo-
ğan erlaubtwerden, in den Kreis der Atom-
mächte aufzusteigen. „Einige Länder ha-
ben Raketen mit nuklearen Sprengköpfen,
nicht nur eine oder zwei. Aber sie sagen
uns, wirkönnten sienicht haben. Das ak-
zeptiereichnicht“,sagte Erdoğan bei ei-
nem Wirtschaftsforum in der Stadt Sivas.
Es gebe „keine entwickelteNation in der
Welt“ ohneKernwaffen. Letzteres stimmt
nicht.Auch dieTürkeihat 1980 denAtom-
waffensperrvertrag unterzeichnet. Er soll-
te ausschließen, dass nebenden fünfoffizi-
ellen Atommächten USA, Russland, Frank-
reich, Großbritannien und Chinaweitere
StaatenKernwaffen erhalten. DerVertrag
hat nichtverhindert, dass auchIndien,Pa-
kistan,Nordkorea und IsraelAtomspreng-
köpfeentwickelten oder besitzen.
Erdoğanverwiesexplizit auf Israel, das
Land sei „beinah einNachbar“.SeinWaf-
fenarsenal wirkeabschreckend. Den un-
mittelbarenNachbarn Iran und seinAtom-
programm erwähnte er nicht.ObAnkara
tatsächlichKernwaffen entwickeln will,
blieb unklar.Erdoğan sagte nur: „Zur Zeit
führen wir unsereArbeitenweiter.“ Er lob-
te auch dieFortschritte der türkischenWaf-
fenindustrie. In den sozialenMedienlös-
ten dieÄußerungen Spott, Entrüstung,
aber auch Begeisterung aus („die Türkei
verteidigt die muslimischeWelt“). Spötter
verwiesen darauf, dass dieTürkei nicht
mal einAtomkraftwerk alleine bauenkön-
ne. Diestaatliche russische Rosatom errich-
tet derzeit am Mittelmeer,südwestlich der
StadtMersin, das erste türkischeKern-
kraftwerk. Das Projekt ist hochumstritten,
dieRegion gilt als erdbebengefährdet. Die
Zukunft eines zweiten Reaktorsbei Sinop
am SchwarzenMeer,der mit japanischer
und französischer Hilfegeplant war,
scheint derzeit wieder ungewiss.
Sowohl in denVerhandlungen mitJa-
pan als auch mit Russland hat Ankara jede
Beschränkung für eineUrananreicherung
und dieGewinnungvonPlutonium abge-
lehnt. Die Türkei besitzt selbst geringe
Uranvorkommen. Die belgische Zeitung
De Morgenveröffentlichte imJuli einNato-
Papier,aus dem hervorgeht, dass die USA
etwa50Atomwaffen im türkischen Incir-
lik lagern, einer Luftwaffenbasis unter US-
Kontrolle. christiane schlötzer

Berlin–ImStreit übereineweitereBeteili-
gung der Bundeswehr an der internationa-
lenMissiongegendie Terrormiliz „Islami-
scher Staat“ (IS)zeichnet sich einKompro-
miss ab. „DieVorstellung, dass der IS be-
siegt ist und wir nach Hause gehenkön-
nen, ist falsch. Es gibt im Irak nach wievor
eine ernst zu nehmende Bedrohungslage.
In manchenGebietenist der IS wieder gut
organisiert“,sagte der Staatsminister im
Auswärtigen Amt,Niels Annen(SPD), am
Donnerstag nach einer Reise in den Irak
und nach Katar derSüddeutschenZeitung.
Derkommissarische SPD-Fraktionsvorsit-
zende RolfMützenich hatte ursprünglich
eineZustimmung zu einer erneutenVerlän-
gerung des Mandatsausgeschlossen, das
sowohl Aufklärungsflüge als auchAusbil-
dungshilfeimIrak umfasst. „Innerhalb
der wenigen nochverbliebenenWochen ist
einkompletter Abzug der Flugkomponen-
tennicht mehrsicherzustellen“, sagteMüt-
zenich demSpiegel.Damit deutete sich ein
Verbleib zumindest fürweitereMonate an.


Der Streit überdie Verlängerung des Ein-
satzes hatte sich während der Sommerpau-
se zugespitzt.Während Bundeskanzlerin
AngelaMerkel, die neueVerteidigungsmi-
nisterin Annegret Kramp-Karrenbauer
(beide CDU) undvorsichtigauchAußenmi-
nisterHeikoMaas(SPD)auf Bitten der USA
für eineVerlängerung plädierten, lehnte
Mützenich dies ursprünglich ab. Erver-
wies er auf eine Kabinettsvorlage der „ge-
samten Bundesregierung“,wonach der Ein-
satz am 31.Oktober endenwerde. Er finde,
„fünfJahreEinsatzderBundeswehrzurBe-
kämpfung des ISwarein angemessener
Beitrag“.Verärgerung herrschte in der SPD
über Ex-VerteidigungsministerinUrsula
vonder Leyen(CDU), die den zugesagten
Abzugnichtvorbereitet habe.
Kramp-Karrenbauerwarb indes für ei-
ne Fortsetzung. „Eswäre ein Schlag für die
Mission,wenn sich Deutschland zurück-
zieht“,sagte siewährend eines Irak-Besu-
ches imAugust. An dervonden USA ge-
führten Anti-IS-Koalition beteiligt sich die
Bundeswehr mit knapp300 Soldaten, vier
Tornado-Aufklärungsjets und einemTank-
flugzeugvomjordanischen Al-Azraq aus.
Vorallem auf diehochauflösendenAufklä-
rungsaufnahmen der Bundeswehrwollen
dieVerbündetennichtverzichten. Im Irak
sind außerdem deutsche Militärausbilder
stationiert.
„Mein Eindruckwar, dass die Soldatin-
nen und Soldaten sehr überzeugt sindvon
ihrer Arbeit. Sie sind hoch engagiert und
leisten einenwichtigen Beitrag, um die Er-
folge im Kampf gegen den IS langfristig zu
sichern“, sagte Annen, der Stützpunkte der
Bundeswehr nahe Bagdad sowieinder
Kurden-Region besuchte. „Deutschland
genießt im Irak hohes Ansehen. Die deut-
sche Präsenz ist den irakischenPartnern
sehr wichtig und wirdinternational aner-
kannt“,sagte er.„DasParlament entschei-
det“,betonte Annen. Ihm sei wichtig, „dass
wir eine sachliche Debatte über das Man-
dat führen“. daniel brössler


Potsdam –VierTage nach der Landtags-
wahl hatdie SPDinBrandenburg die Su-
che nach einem neuenKoalitionspartner
begonnen–unter schwierigenVorzeichen.
Zurersten Sondierungsrunde trafen sich
dieSozialdemokraten am Donnerstag in
Potsdam mit der CDU.Beide potenziellen
Partner dringen auf einen politischenKurs-
wechsel.„Wir sind uns einig darüber,dass
es ein‚Weiter so‘inBrandenburg nicht ge-
ben kann“, sagte SPD-Landesvizechefin
Katrin Lange nach dem Treffen.Nötig sei
ein neuer Politikstil. CDU-Landeschef
Ingo Senftleben sagte: „Es geht uns auch
darum, dass wir alle Regionen mitneh-
men.“ Nach derWahl am Sonntag braucht
dieSPDum Ministerpräsident DietmarWo-
idkezweiPartner,umimLandtag eine
Mehrheit zu erreichen. Für Rot-Rot hat es
nicht mehr gereicht.
Die Gespräche werden voneinem
Machtkampfinder CDU-Fraktion über-
schattet. SenftlebensGegner Frank Bom-
mert will als Fraktionschef kandidieren. Er
und andereinder Parteiwerfen Senftleben
vor, eine falscheWahlstrategiegewählt zu
haben.Senftlebenverwies auf dieWahl
der Fraktionsspitze amkommenden Diens-
tag. Er hoffedarauf, dass man bis dahin
„gemeinsam auf einenWeg“ komme.
Nach der CDU traf sich die SPD-Spitze
mit dem bisherigenKoalitionspartner Die
Linke.„Wir haben uns, glaubeich, einiges
zu sagen“, sagte dieLinke-Landesvorsit-
zende Anja Mayervor demGespräch. Da-
nach wurde nur mitgeteilt, es bedürfeei-
nes neuenPolitikansatzes und einer neuen
politischen Kultur. Auch Grüne und Linke
trafen sich am Donnerstag, beide Seiten
sprachenvoneinem gutenGespräch in
sachlicherAtmosphäre. Am Freitag will
sich dann die SPDmit den Grünen treffen;
CDUund Grüne haben bereits am Mitwoch
miteinander geredet–auf „Augenhöhe“
wieman allerseits betonte.
Die SPDwurde am Sonntag bei derLand-
tagswahl trotz Einbußen stärkste Kraftvor
der AfD,die deutlichzulegte.Ein rot-grün-
rotes Bündnis und eines aus SPD, CDUund
FreienWählern hätte jeweils eine Stimme
Mehrheit, ein rot-schwarz-grünes Bünd-
nis sechs StimmenMehrheit. Rechnerisch
wäre auch eineKoalition aus SPD, CDU
und Linken möglich. Mit der AfDwill keine
der anderenParteienkoalieren. dpa


Er wirft der neuen
Regierung vor,ihn
„ausschalten“zu
wollen:Witalij
Klitschko, Bürger-
meistervon Kiew,
werden von Präsi-
dent Selenskij Befug-
nisse entzogen.
FOTO: SERGEI SUPINSKY/AFP

17 Seiten Sorgen


Die Bundesregierung setztsichdafür ein,denKonflikt zwischen IsraelisundPalästinensern zu befrieden.
Dochdie Skepsis, dasseszueinerZweistaatenlösungkommt, wirdimmer größer.Kritik gibt es an beiden Seiten

Erdoğan erwägt


atomareBewaffnung


Politik-Partnersuche


inPotsdam


Buenos Aires –Es stehen jetzt Zelte auf
der9deJulio. DiePrachtmeilemitten im
Zentrum der argentinischen Millionenme-
tropole Buenos Aires ist eine der breitesten
Straßen derWelt. Autos,Motorräder,Taxis
und Busse schieben sich hier normalerwei-
se über mehr als ein DutzendFahrstreifen,
vorbei amobelisco,dem weißen Obelisk,
der dasWahrzeichen der Stadt ist, errich-
tet in einer Zeit, als Argentinien noch ein
Land imAufschwungwar. Nunstehen in
seinemSchatten kleinebunte Zelte,Feuer
brennen auf dem Asphalt, darüber damp-
fende Suppentöpfe. Es warkalt diese
Nacht, trotzdem sind vieleDemonstranten
geblieben.„Wir müssen unswehren“, sagt
Emilia Solanes. Die35-Jährige ist mit ihrer
Familievon einemVorort im Großraum
Buenos Aires bis ins Zentrum gekommen.
„DieLeute sollen sehen, dass es uns auch
noch gibt“,sagt sie. „Siesollen wissen, dass
wir nicht schlafenkönnen,weil wirHunger
haben,während sieinihren schönenwar-
men Betten liegen.“

Argentiniensteckt in einer schweren
Wirtschaftskrise: DieInflation ist eine der
höchsten derWelt, und ein Drittel der Be-
völkerunglebt mittlerweile unter der Ar-
mutsgrenze.Die Arbeitslosigkeit steigt un-
aufhörlich,die Industrieproduktionsinkt,
und alles ist möglich, auch derdefault,der
Zahlungsausfall. Argentinienwäre dann
bankrott, mal wieder.
Präsident MauricioMacrikämpft, zu-
letzt hat er Kapitalkontrollen eingeführt,
Unternehmen müssen sich nun eine Er-
laubnisvonder Notenbank holen,wenn sie
größereMengen Devisen kaufenwollen.
Privatpersonenkönnen nur nochPeso im
Wert vonmaximal 10 000 Dollar proMo-
nat umtauschen. Summen, dieweit ent-
fernt sindvondem,wasMenschen wieEmi-
lia Solanesverdienen.Dass aber ausgerech-
net der marktliberale Präsident Macri zu
solchen Maßnahmen greift, zeigt, wiekri-
tisch die Lage ist. Längsthaben sich auch
vorden Banken lange Schlangen gebildet.
Sparerwollen ihrGeld in Sicherheit brin-

gen, und die argentinische Geschichte hat
viele Bewohner des südamerikanischen
Landes gelehrt: Den Zugang zu einemKon-
to kann die Regierungsperren.Werseine
Dollarscheineunter der Matratzehat,
schläft besser.
Begonnen hattendie jüngsten Turbulen-
zen AnfangAugust. In denVorwahlen für
das Präsidentenamt, einer ArtStimmungs-
test, hatteMauricioMacri haushoch gegen
seine Kontrahenten vonder peronisti-
schenParteiverloren, das DuoAlberto
Fernández und Cristina Fernández de
Kirchner.Fast 15 Prozent mehr Stimmen
bekamen sie, ein Ergebnis, mit dem so nie-
mand gerechnet hatte. Innerhalbweniger
Stundenverlor die Landeswährung fast
ein ViertelihresWerts gegenüber dem Dol-
lar,die Kurse an der Börsestürzten ab, al-
lesaus Angst derUnternehmer und Anle-
gervoreinem Sieg derPeronisten.
Nach vierJahren neoliberalerRegie-
rung fürchten vieledie Rückkehr zurrigi-
den WirtschaftspolitikvonMacrisVorgän-
gerin: Eben jene Cristina Kirchner,die sich
nun um das Amt der Vizepräsidentin be-
wirbt.Von2007 bis 2015 regiertesie das
Land, zunächst mit Erfolg, dieweltweite
Rohstoff-Gier in denNullerjahren bescher-

te Argentinien einen Wirtschaftsboom,
und dieEinnahmen steckteKirchner in So-
zialprogramme und Subventionen fürGas,
Strom, Transportund dieheimische Indus-
trie. Kaum aber fielen die Preise, wurde
dasGeldknapp, die Inflation stieg, dieRe-
gierungreagierte mit Exportbeschränkun-
gen,festgeschriebenen Preisen und eben
jenen Kapitalkontrollen, die Macri erst ab-
geschafft, nun aber wieder eingeführt hat.
Mit ihrerPolitik brachte diedamalige
Präsidentinvorallem dieLandwirtschaft
gegen sich auf, jenen Sektor in der argenti-
nischenGesellschaft, aus dem sich seit
zweiJahrhunderten diepolitische und wirt-
schaftliche Elite rekrutiert. Als Kirchner
dieSteuern auf Agrarexporte anhob, kam
es darum zu Protesten, die teilweise das
ganze Land lahmlegten. Kirchner blieb
stur,die landwirtschaftlicheProduktion
sank in denfolgendenJahren, die Exporte
schrumpften.Teilweiseverkaufte dasklei-
ne Uruguay mehr Fleischindie Welt als der
große südlicheNachbar Argentinien, und
dort wuchsen auf denFeldern riesigewei-
ße Plastikwürste, in denen dieBauern ihre
Mais- und Sojaernte einlagerten, immer in
derHoffnung, dass die Exportabgaben ir-
gendwann einmal fallen würden.

Dann kam 2015 MauricioMacri an die
Macht, einUnternehmer,der selbst im
Agrarsektor investiert hat. Er senkte die
Steuern auf landwirtschaftliche Exporte,
schaffte Handelsbeschränkungen ab und
gab denPeso wieder frei. Die Märktejubel-
ten, doch baldwar klar,dassGeldgeber
trotz allem nicht gerade Schlangestanden,
um im Land zu investieren. Macri kürzte
bei Sozialprogrammen und strich Subven-
tionen, gleichzeitig nahm er immer mehr
Schulden auf, 101 Milliarden Dollar bisher,
davondie Rekordsummevon57Milliar-
den allein beim InternationalenWährungs-
fonds. Doch all das half nicht.

Man habe die Situation in Argentinien
unterschätzt, gab mittlerweile auch die
ehemalige Chefin desIWF,ChristineLagar-
de, zu. „Die wirtschaftlicheLagehat sich
als unglaublichkomplizierterwiesen“, sag-
te sie imJuni. Inzwischen ist klar,dass die-
se Einschätzung sogar noch untertrieben
war. Drei Millionen Argentinier sind allein
in den letzten zwölfMonaten unter die Ar-
mutsgrenze gerutscht, bis zum Ende des
Jahreskönnte die Inflation auf 55 Prozent
steigen und die Wirtschaft nächstesJahr
um fünf Prozent schrumpfen. Am 27.Okto-
ber sindWahlen, kaum jemand zweifelt an
einem SiegvonAlbertoFernández und
Cristina Kirchner.Wie es danachweiterge-
hen wird, ob die neue Regierung ihreSchul-
den zahlen wird, ob die Kapitalkontrollen
wieder aufgehobenwerden, ob neueHan-
delsschrankenkommen: alles ungewiss.
In derPampa ziehtderweillangsam der
Frühling ein. Die Bauernmüssen säen, vie-
le greifen dabei zu Soja,weil die Investitio-
nen hier gering sind.Wermöchte schon et-
wasriskieren in diesenunsicherenZeiten?
Aufder 9deJulio habendie Demonstran-
ten gleichzeitigvordem Ministeriumfür
soziale Angelegenheiten ihreZelte aufge-
stellt. Siefordernmehr Sozialprogramme
und niedrigerePreise für Grundnahrungs-
mittel. Vielerichten sich darauf ein, gleich
ein paarNächte, notfalls auchWochen zu
bleiben. christoph gurk

FraktionschefMützenich lehnte


eineFortsetzung bisher ab


Palästinenser,die ohneGenehmigung bauen, müssen mit AbrissdurchIsraels Behördenrechnen–sowie bei diesem Restaurant in BeitJala. FOTO: MUSAAL SHAER/AFP

DEFGH Nr.206,Freita g, 6.September2019 POLITIK HF2 7


Schlag gegen


Klitschko


Selenskij setzt KiewsBürgermeister
alsVerwaltungschef ab

„Kämpfe,und sie werden gehen!“ Ein Schriftzug in BuenosAires ruft zum Protest
gegen die RegierungMacri auf. FOTO:NATACHAPISARENKO/AP

Allesist möglich, auch der
Zahlungsausfall. Argentinienwäre
dannbankrott, mal wieder

FürVerlängerung


des Irak-Mandats


SPD-Politiker: Bundeswehreinsatz
imKampfgegen ISweiter nötig

DiePalästinenser seien in ihrer
wirtschaftlichenEntfaltung massiv
eingeschränkt, beklagtder Bericht

Manhabe die Lage im Land
unterschätzt, gibt auch die
frühereIWF-Chefin zu

Dollarscheine unterder Matratze


Schlangenvorden Banken, Demosauf der Prachtstraße: Argentinien kämpft mit einerverheerenden Wirtschaftskrise

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