Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1
wicklungen bestimmter Spezies innerhalb einer Insekten-
gruppe, aus denen sich ermitteln ließ, inwieweit diese
Arten an sich gefährdet sind und von welchen Schutzmaß-
nahmen sie profitieren. Dabei werden allerdings Populati-
onsveränderungen bei den seltensten Spezies oft genauso
stark gewichtet wie bei den häufigsten. Damit besteht die
Gefahr, den Insektenrückgang insgesamt zu überschätzen,
zumal generell seltenere Arten auch am stärksten zurückge-
gangen sind, während die häufigen – die den mit Abstand
größten Beitrag zur Insektenbiomasse stellen – stabiler
blieben.
Wir brauchen aber Angaben zur generellen Häufigkeit,
um abzuschätzen, wie sich Veränderungen auf die Ökosys-
teme auswirken. So spielt für die Bestäubung und die
biologische Schädlingsbekämpfung die Anzahl ausgewach-
sener Tiere, wie etwa von Bienen oder Schlupfwespen, eine
entscheidende Rolle. Und wenn es um Nährstoffzyklen, die
Zersetzung von organischem Material oder um die Nah-
rungsgrundlage Insekten fressender Tiere geht, benötigen
wir sogar Daten zur Häufigkeit und somit zur Biomasse aller
Entwicklungsstadien. Solche Analysen von Gesamtbiomas-
sen fehlten bislang – eine ernsthafte Lücke auch angesichts
der wirtschaftlichen Leistungen, die Insekten vollbringen:
Weltweit werden fast 90 Prozent aller Blütenpflanzen – und
75 Prozent aller wichtigen Nutzpflanzen – von Insekten
bestäubt. Insgesamt schätzt man den globalen Wert der
Bestäubung für die Ernteerträge auf 200 bis 600 Milliarden
Euro pro Jahr. Darüber hinaus sind 70 Prozent der Fleder-
maus- sowie 60 Prozent der Vogelarten auf Insekten als
Futter angewiesen.


Etliche wissenschaftliche Studien warnen schon lange
vor massiven Verlusten in der Pflanzen- und Tierwelt.
Doch nur wenige von ihnen schaffen es, weltweit in
die Schlagzeilen zu geraten. Zu diesen seltenen Ausnahmen
zählt ein im Oktober 2017 veröffentlichter Beitrag, der
über einen Rückgang der Biomasse fliegender Insekten um
drei Viertel vor allem in Naturschutzgebieten Nordwest-
deutschlands berichtete. Renommierte Fachzeitschriften
wie »Nature« oder »Science« griffen die Studie auf, so dass
sich schließlich auch Umweltschützer und Politiker darauf
beriefen.
Die unter Federführung des niederländischen Ökologen
Caspar Hallmann von der Radboud-Universität in Nimwe-
gen erschienene Arbeit wird meist als »Krefelder Studie«
bezeichnet, da sie auf Daten des Biologen Martin Sorg und
seiner Kollegen vom Entomologischen Verein Krefeld
aufbaut. Die Krefelder Insektenkundler sind Koautoren
dieser bahnbrechenden Publikation und hatten bereits 2013
erste Ergebnisse veröffentlicht. Seit 1989 hatten sie an
zahlreichen Standorten vor allem in Nordrhein-Westfalen so
genannte Malaise-Fallen aufgebaut (siehe Fotos rechts
unten). Die nach dem schwedischen Entomologen René
Malaise (1892–1978) benannten zeltartigen Aufbauten sind
so konstruiert, dass Insekten an einem Ende hineinfliegen,
am anderen aber nicht mehr herauskommen. Sie bewegen
sich darin dem Licht entgegen nach oben und landen dort
in einem Behälter, wo sie in Alkohol konserviert werden.
Die Fallen erfassen somit standardisiert Fluginsekten wie
Fliegen, Mücken, Bienen, Wespen und Schmetterlinge.
Wenn man Insektenpopulationen betrachtet, gilt es
zunächst zwei grundsätzlich verschiedene Ebenen ausein-
anderzuhalten, die mitunter gern vermischt werden: 1. Ver-
änderungen in der Biomasse, also dem Gewicht aller Indivi-
duen einer Gruppe oder auch aller Insekten zusammen, und


  1. Veränderungen bei der Artenzusammensetzung und der
    Häufigkeit einzelner Arten. Meist war in bisherigen Studien
    vor allem von Letzterem die Rede. Im Fokus standen Ent-


ALBERT VLIEGENTHART; MIT FRDL. GEN. VON JOSEF SETTELE UND ALBERT VLIEGENTHART

AUF EINEN BLICK
DRAMATISCHER INSEKTENSCHWUND

1


Insekten spielen als Bestäuber eine zentrale Rolle in
den Ökosystemen der Erde und sichern somit unsere
Ernährung. Doch seit Jahrzehnten gehen weltweit
die Bestände zurück – auch in Naturschutzgebieten.

2


Als Ursachen gelten: Verlust von Lebensräumen,
strukturelle Verarmung von Wald-, Acker- und Garten-
landschaften, Einsatz von Düngern und Pestiziden
sowie der Klimawandel.

3


Die Eindämmung der Risikofaktoren wäre ein Aus-
gangspunkt für eine Trendwende. Dieses Ziel lässt sich
nur im gesamtgesellschaftlichen Konsens verfolgen,
bei dem sich alle gemeinsam um Lösungen bemühen.

Da immer mehr Moorgebiete zuwachsen und damit als
natürlicher Lebensraum verloren gehen, ist der Hoch-
moorgelbling (Colias palaeno) selten geworden. Außer-
dem setzt der Klimawandel der Schmetterlingsart zu.
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