Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1

Diese Wissenslücke zur Gesamtbiomasse von Insekten
zu schließen, ging die Krefelder Studie erstmals an, wenn-
gleich sie ursprünglich gar nicht dafür geplant war. Neu an
ihr war vor allem, dass sie sich über einen Zeitraum von
27 Jahren erstreckte. Bisher stützen sich relativ wenige
Arbeiten zur Biomasse beziehungsweise zur Individuenzahl
auf Beobachtungen von mehr als 15 Jahren.
Die Ergebnisse der Studie erschienen in zweierlei Hin-
sicht alarmierend: Die Krefelder Entomologen verzeichne-
ten erschreckende Einbrüche in der Biomasse der Flug-
insekten. Und diese Verluste traten ausgerechnet in Natur-
schutzgebieten auf – dabei sollten gerade solche Areale
dem Erhalt der Natur dienen.
Es war bereits bekannt, dass in den letzten Jahrzehnten
die Bestände an Insekten stärker schrumpften als bei
einheimischen Pflanzen oder Vögeln. Doch der hier doku-
mentierte Rückgang übertraf um ein Vielfaches die Verlus-
te, die bis dahin in vergleichbaren Zeiträumen in naturnahen
Lebensräumen beobachtet worden waren. Die Biomasse
der Fluginsekten verringerte sich im Schnitt um drei Viertel,
wobei die schlimmsten Einbrüche in den Sommermonaten
auftraten, wenn die meisten Sechsbeiner umherfliegen
(siehe Grafiken »Insektenbiomasse in Deutschland«, S. 16).
So ging beispielsweise im Schutzgebiet Orbroicher Bruch
die binnen zwölf Monaten gesammelte Insektenbiomasse
von anderthalb Kilogramm im Jahr 1989 auf unter 300
Gramm im Jahr 2013 zurück.
Am besten lässt sich die Situation bei Schmetterlingen
einschätzen. Seit 2005 koordinieren wir am Helmholtz-Zent-
rum für Umweltforschung (UFZ) zusammen mit der Gesell-
schaft für Schmetterlingsschutz (GfS) das Tagfalter-Monito-
ring Deutschland (TMD) als bisher einziges systematisch
betriebenes, langfristiges, deutsches Insektenbeobach-
tungsprogramm. Es handelt sich um ein so genanntes
Citizen-Science-Projekt: Bürgerinnen und Bürger erfassen
freiwillig Jahr für Jahr deutschlandweit bei wöchentlichen
oder zweiwöchentlichen Begehungen entlang festgelegter
Strecken alle Tagfalter. Die so entstehenden Bestandsdaten
dokumentieren die Entwicklung der Tiere auf lokaler, regio-
naler sowie nationaler Ebene und lassen sich mit denen aus
anderen europäischen Ländern vergleichen.


Wie geht es den Schmetterlingen in Europa?
Bei den Daten bis 2016 zeigte sich ein leichter, wenn auch
nicht signifikanter Anstieg der Individuenzahlen. Da die
Individuen der verschiedenen Falterspezies etwa gleich
groß und schwer sind, dürfte sich hier die Entwicklung der
Gesamtbiomasse widerspiegeln. Ähnliches beobachteten
Schweizer Forscher für den Zeitraum 2003 bis 2016. Diese
Daten scheinen der Krefeld-Studie zu widersprechen, die ab
2005 eine Abnahme der Insektenbiomasse um mehr als
40 Prozent feststellte. Gewichten wir hingegen die Trends
aller Arten gleich und mitteln sie – als kombinierte Analyse
aus Artenvielfalt und Häufigkeit –, so offenbart sich in
diesem Zeitraum ein Rückgang der Tagfalter Deutschlands
um elf Prozent. Das niederländische Tagfalter-Monitoring
verzeichnete zwischen 1992 und 2016 hingegen einen
Einbruch der Biomasse um 47 Prozent, wobei die Flächen-
anteile verschiedener Lebensräume berücksichtigt wurden.


Auf Basis der Tagfalter-Monitoring-Daten aus 22 Län-
dern erstellte ein internationales Team von Wissenschaft-
lern für die Europäische Umweltagentur in Kopenhagen den
europäischen Schmetterlingsindikator für Grünland. In
diesen Indikator flossen die Daten für 17 vorwiegend auf
Wiesen und Weiden vorkommende Tagfalterarten ein.
Demnach nahmen deren Bestände im Zeitraum von 1990
bis 2015 insgesamt um ein Drittel ab (siehe »Schmetter-
linge in Europa«, S. 17).
Seit vielen Jahren führen so genannte Rote Listen ge-
fährdete Pflanzen und Tiere auf. Dabei beurteilen Experten
kurz- sowie langfristig die Entwicklung der Bestände; die

Eine Malaise-Falle besteht aus einem Zelt, in das Insekten
zufällig hineinfliegen. Die Tiere versuchen dann, dem
Licht entgegen nach oben zu entkommen – und gelangen
in einen mit Alkohol gefüllten Behälter, wo sie konser-
viert werden. Die Fallen können an unterschiedlichen
Stand orten wie nährstoffreicheren Wiesen (oben) oder
nähr stoff armen Heiden (unten) aufgestellt werden, um
so verschiedene Habitate zu vergleichen.

HALLMANN, C.A. ET AL.: MORE THAN 75 PERCENT DECLINE OVER 27 YEARS IN TOTAL FLYING INSECT BIOMASS IN PROTECTED AREAS. PLOS ONE 12, E0185809, 2017, FIG. 1 (DOI.ORG/10.1371/JOURNAL.PONE.0185809) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
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