Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1
resultierenden Einstufungen beruhen letztlich auf dem
kollektiven Eindruck der entsprechenden Artenkenner – ei-
ner leider ebenfalls vom Aussterben bedrohten Spezies.
Daraus ergibt sich ein umso fundierteres Bild, je beliebter
die betreffende Insektengruppe ist.
Die Einstufungen in den Roten Listen für den jeweiligen
Bezugsraum – Region, Bundesland, Deutschland, Europa –
erfolgt über standardisierte Kriterien. Dabei werden die
Arten in Deutschland insgesamt zehn Kategorien zugeord-

net und als rückläufig, zunehmend oder gleich bleibend
zusammengefasst. Alle zehn Jahre erarbeiten zentrale
Koordinatoren zusammen mit zahlreichen ehrenamtlichen
Expertinnen und Experten unter Federführung des Bun-
desamts für Naturschutz die nationalen Roten Listen. Aus
der aktuellen Fassung ergeben sich langfristige Be-
standsentwicklungen von insgesamt 7444 Insektenarten
über einen Zeitraum von bis zu 150 Jahren. Dabei nahmen
44 Prozent der Arten ab, 41 Prozent blieben gleich, und bei
nur 2 Prozent war ein Zuwachs zu verzeichnen (siehe
»Bestandsentwicklung von Insektenarten in Deutschland«,
S. 21, obere Grafik).
Neben langfristigen Trends lassen sich auch kurzfristige
abschätzen, die einen Zeitraum von 10 bis 25 Jahren um-
fassen. So zeigt sich bei Bienen und Tagfaltern, dass
ins besondere seltene Spezies rückläufig sind, während es
den häufigeren eher noch gut zu gehen scheint (siehe
»Bestandsentwicklung von Insektenarten in Deutschland«,
S. 21, untere Grafik). Kurz- und langfristige Trends zusam-
mengefasst, müssen 42 Prozent der Insektenarten in
Deutschland als bestandsgefährdet bewertet werden
(Rote-Liste-Arten). Solange nur spärliche Studien vorliegen,
die wirklich langfristige Zeitreihen auswerten, bleiben die
Roten Listen nach wie vor das Hauptinstrument, um die
Gefährdung von Arten einzuschätzen.
Eine der wenigen und zugleich richtungsweisenden
Arbeiten zu langfristigen Entwicklungen von Artenbestän-
den stammt von Forschern um den Ökologen Jan Christian
Habel von der Technischen Universität München. Die
Wissenschaftler analysierten die Veränderungen von
Tagfaltergemeinschaften eines Berghangs in Regensburg
von 1840 bis 2013 – also über einen Zeitraum von fast zwei
Jahrhunderten –, indem sie systematisch historische
Quellen auswerteten. Dabei hat sich die Zusammenset-
zung der Falterarten stark gewandelt, und die Artenzahl
nahm von 117 auf lediglich 71 ab. Betroffen waren vor allem
so genannte Spezialisten, also Tiere, die besondere An-
sprüche an den Lebensraum haben und oft nur ein einge-
schränktes Nahrungsspektrum nutzen. Die meisten von
ihnen gelten heute als gefährdet, während umgekehrt die
Generalisten mit wenig spezialisierten Umweltansprüchen
sogar zugenommen haben. Insbesondere Falterspezies, die
sich kaum ausbreiten und nährstoffarme Habitate be -
nötigen, erlitten gravierende Einbrüche.

Kein Schutz in Schutzgebieten – selbst hier
gehen die Insektenzahlen zurück
Da die Krefelder Entomologen ihre Messungen in ge-
schützten Landschaften durchgeführt haben, stellen sich
folgende Fragen: Erfüllen Schutzgebiete überhaupt noch
die von ihnen erwartete Funktion? Und wie sieht die Ent-
wicklung der Insektenbiomasse in nicht geschützten
Ökosystemen aus? Mit den vorliegenden Daten der Studie
lassen sie sich kaum beantworten. Dazu müssten wir
wissen, welche Arten betroffen sind. Nur eine genauere
Aufschlüsselung der Spezies samt ihrer ökologischen
Ansprüche erlaubt differenzierte Aussagen. Auf Grund des
hohen Aufwands war das den Forschern bislang nicht
möglich.

Insektenbiomasse in Deutschland


Seit 1989 registrieren Forscher des Entomologi-
schen Vereins Krefeld einen dramatischen
Schwund an Insektenbiomasse (obere Grafik). Die
Balken repräsentieren die Schwankungen der
Messungen, die graue Linie gibt den Trend nach
Berücksichtigung von Wetter-, Landschafts- und
Habitateffekten wieder, die schwarze Linie stellt
den Gesamttrend dar. Beachten Sie den logarith-
mischen Maßstab der y-Achse. Wie die untere
Grafik zeigt, treten die Biomasseverluste beson-
ders in den Sommermonaten auf (von blau, 1989,
bis orange, 2016).

1990 2000 2010

Biomasse (Gramm pro Tag)

20,
10,
5,
2,
1,
0,
0,
0,

A M J J A S O N

Biomasse (Gramm pro Tag)

20,
10,
5,
2,
1,
0,
0,
0,

Jahr

Monat

HALLMANN, C.A. ET AL.: MORE THAN 75 PERCENT DECLINE OVER 27 YEARS IN TOTAL FLYING INSECT BIOMASS IN PROTECTED AREAS.
PLOS ONE 12, E0185809, 2017, FIG. 2 (DOI.ORG/10.1371/JOURNAL.PONE.0185809) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

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