Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1

34 Spektrum der Wissenschaft 5.19


MORAL


DIE GEBURT


DES »WIR«


Die Wurzeln der menschlichen Moral liegen in der gemein­
samen Jagd, die Kooperation und Teamgeist förderte.

Michael Tomasello ist Professor für Psychologie und Neurowissenschaft an der
Duke University in Durham (USA) und emeritierter Direktor des Max-Planck-
Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Hier leitete er bis 2018 die
Abteilung für vergleichende und Entwicklungspsychologie sowie das Wolfgang-
Köhler-Primatenforschungszentrum.

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»Survival of the fittest«, der am besten Angepasste
überlebt – so lautet eine Grundregel der Evolution.
Aber wie konnte sich dann der Mensch zu einem mora-
lischen Wesen entwickeln? Wenn es nur darum geht, den
eigenen Gewinn zu maximieren, warum entstand über-
haupt unser Sinn für Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft?
Auf diese Fragen gibt es traditionell zwei Antworten.
Erstens erscheint es für den Einzelnen sinnvoll, seinen
Verwandten zu helfen, mit denen er seine Gene teilt – For-
scher sprechen hier von Verwandtenselektion. Zweitens gilt
das Prinzip der Gegenseitigkeit: Eine Hand wäscht die
andere, und auf lange Sicht profitieren beide davon.
Aber Moral besteht nicht nur darin, nett zu Verwandten
zu sein, wie das Bienen oder Ameisen tun. Und Gegensei-
tigkeit kann riskant werden, wenn der eine profitiert, sich
aber dann aus dem Staub macht und den anderen im
Regen stehen lässt. Außerdem dringt keine dieser traditio-
nellen Erklärungen zum Kern der menschlichen Moral vor:
zum Pflichtbewusstsein gegenüber unseren Mitmenschen.
In letzter Zeit rückte für die Frage nach der Moral eine
neue Betrachtungsweise in den Vordergrund. Entscheidend

dafür war die Erkenntnis, dass Menschen in einer sozialen
Gruppe, in der jeder auf jeden zum Überleben und Wohler-
gehen angewiesen ist, nach einer ganz besonderen Prämis-
se handeln. In dieser Logik der gegenseitigen Abhängigkeit
gilt das Prinzip: Wenn ich dich brauche, liegt es in meinem
Interesse, für dein Wohlergehen zu sorgen. Oder allgemei-
ner gesagt: Wenn wir alle aufeinander angewiesen sind,
müssen wir uns auch alle umeinander kümmern.
Wie kam es in der Evolution des Menschen dazu? Die
Antwort findet sich in den besonderen Umständen, die
Individuen zu immer mehr Kooperation zwangen – insbe-
sondere bei der Beschaffung von Nahrung und anderer
grundlegender Ressourcen.
Schimpansen und Bonobos, unsere engsten heute noch
lebenden Verwandten, suchen gemeinsam in kleinen
Gruppen nach Früchten und Pflanzen. Aber sobald sie
fündig werden, frisst jedes Tier für sich allein. Konflikte
werden durch Dominanz gelöst: Der beste Kämpfer ge-
winnt. Ein Sinn für Gemeinsamkeit scheint sich immerhin
abzuzeichnen, wenn mehrere Schimpansenmännchen
einen Kleinaffen umzingeln und fangen. Dieses Jagdverhal-

JACOBS FOUNDATION
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