Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1
ten ähnelt im Grunde jedoch eher dem von Löwen oder
Wölfen als einer Form, die von Zusammenarbeit geprägt ist,
wie sie beim Menschen vorherrscht. Jeder Schimpanse
versucht, seine eigenen Chancen zu verbessern, indem er
der Beute potenzielle Fluchtwege versperrt. Sobald ein
Schimpanse den Kleinaffen erwischt, will er ihn allein
verspeisen – was ihm aber in der Regel nicht gelingt.
Schließlich kommen alle Individuen der Gruppe zur Beute
und greifen zu. Der Fänger muss dies zulassen oder die
anderen bekämpfen, was wohl darauf hinausliefe, in der
Hitze des Gefechts die Nahrung ganz zu verlieren. Deshalb
teilt sich die Gruppe bis zu einem gewissen Grad die Beute.
Der Mensch macht es schon seit Langem anders. Vor
rund zwei Millionen Jahren tauchte die Gattung Homo mit
ihrem großen Gehirn samt neuen Fähigkeiten zur Herstel-
lung von Steinwerkzeugen auf. Wenig später führte eine
globale Abkühlungs- und Trockenheitsperiode dazu, dass
sich am Boden lebende Kleinaffen vermehrten und mit
Homo um viele Ressourcen konkurrierten.
Jetzt waren Alternativen gefragt. Eine Möglichkeit
bestand darin, Kadaver zu verwerten, die andere Tiere
erlegt hatten. Doch einige Frühmenschen, vermutlich von
der Art Homo heidelbergensis, begannen nach Ansicht der
Anthropologin Mary Stiner von der University of Arizona
vor rund 400 0 00 Jahren, sich ihre Nahrung größtenteils
selbst zu beschaffen, indem sie beim Jagen und Sammeln
kooperierten und gemeinsam ihre Ziele verfolgten. Schließ-
lich wurde die Zusammenarbeit für das Überleben unver-
zichtbar: Die Individuen waren unmittelbar und vollständig
aufeinander angewiesen, um sich ihre tägliche Ernährung
zu sichern.
Als wesentlich bei der obligatorischen gemeinsamen
Nahrungssuche erwies sich die richtige Wahl der Partner.
Individuen, die kognitiv oder aus irgendwelchen anderen
Gründen unfähig zur Zusammenarbeit waren – vielleicht
weil ihnen die entsprechenden Kommunikationsfähigkeiten
fehlten –, wurden nicht ausgewählt und blieben so ohne
Nahrung. Auch solche, die sich unkooperativ zeigten und
möglicherweise versuchten, die ganze Beute an sich zu
reißen, wurden gemieden und waren damit dem Untergang
geweiht. Ergebnis: eine aktive soziale Selektion von fähi-

gen, motivierten Individuen, die gut mit anderen zusammen-
arbeiteten.
Entscheidend für die Evolution der Moral wurden neue
Formen der Beziehung untereinander. Kooperierende Früh-
menschen entwickelten so etwas wie Sympathie füreinan-
der und halfen sich gegenseitig aus einem einfachen Grund:
Wer auf andere angewiesen ist, sollte dafür sorgen, dass es
diesen auch in Zukunft gut geht. Zusätzlich hing das eigene
Überleben davon ab, als kompetenter, motivierter Partner zu
gelten. Entsprechend war es wichtig, wie man eingeschätzt
wurde. Wie wir bei Studien in unserem Institut in Leipzig
beobachteten, legen schon kleine Kinder Wert darauf, wie
andere sie beurteilen – bei Schimpansen scheint das dage-
gen keine Rolle zu spielen.

Gemeinschaftliches Handeln erzeugt gegenseitig
anerkannte Rechte
Der Vergleich der Verhaltensweisen unserer engsten Prima-
tenverwandten mit denen von Kindern, die noch nicht die
Normen ihrer Kultur verinnerlicht haben, hat sich als außer-
ordentlich wertvoll erwiesen, um die Ursprünge des
menschlichen Denkens und der Moral aufzuspüren. Schließ-
lich fehlt es hierfür an historischen Aufzeichnungen und
somit meist an fossilen oder archäologischen Funden.
Unsere Studienergebnisse legen nahe, dass sich bei Früh-
menschen eine neue Form des kooperativen Denkens
entwickelte: Zuverlässige Partner bei der gemeinsamen
Nahrungs suche kamen nicht nur in den Genuss von Sympa-
thie, sondern auch von Fairness, also einem Gefühl der
Gleichberechtigung. Die Einzelnen begriffen, dass sie bei
der Kooperation prinzipiell jede beliebige Rolle übernehmen
konnten und dass dabei alle an einem Strang zogen. Arbei-
teten zwei Individuen wiederholt zusammen, entwickelte
sich bei ihnen ein Verständnis für gemeinsame Interessen,
wobei jeder eine bestimmte Rolle auszufüllen hatte, um im
Team erfolgreich zu sein. Solche rollenspezifischen Maßstä-
be prägten die Erwartung an das Handeln des anderen. So
muss bei der Antilopenjagd der Treiber eine andere Hand-
lung als der Speerwerfer ausführen. Diese idealisierten
Vorgaben legten unparteiisch fest, wer was zu tun hatte,
um den gemeinsamen Erfolg zu gewährleisten. Die Rollen,
für die allseits bekannte Leistungsstandards galten, blieben
austauschbar. Deshalb besaß jeder Jagdpartner aber auch
das gleiche Anrecht auf die Beute – im Gegensatz zu Betrü-
gern und Trittbrettfahrern, die keinen Finger krumm ge-
macht hatten.
Als Mitspieler für Gemeinschaftsunternehmungen bevor-
zugte man Individuen, welche die in sie gesetzten Erwartun-
gen erfüllten. Um das Risiko eines Fehlgriffs zu mindern,
konnten potenzielle Partner ihre Kooperationsfähigkeiten
durch eine Art gemeinsamer Verpflichtungserklärung unter-
streichen: Sie sagten sich gegenseitig zu, ihre Aufgaben zu
erledigen, und forderten dafür eine faire Aufteilung der
Beute. Außerdem konnten sich die zukünftigen Partner
unausgesprochen darauf einigen, dass jemand, der nicht
Wort hielt, eine Rüge verdient hatte. Wer von den Erwartun-
gen abwich und dennoch weiterhin eine gute Stellung als
Kooperationspartner anstrebte, verurteilte sich daher bereit-
willig selbst – psychisch als Schuldgefühl verinnerlicht. So

AUF EINEN BLICK
DER WEG ZUR GRUPPENIDENTITÄT

1


Der Keim der menschlichen Moral entstand vermut-
lich vor rund 400 0 00 Jahren, als Menschen begannen,
gemeinsam zu jagen und Nahrung zu sammeln.

2


Die kooperativen Beziehungen wurden überlebens-
notwendig und förderten ein Gefühl für gegenseitigen
Respekt und Fairness.

3


Durch zunehmende Populationsgrößen festigten sich
schließlich kollektive Gruppenidentitäten mit ge -
mein samen kulturellen Praktiken und sozialen Normen.
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