Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1
AUF EINEN BLICK
CHEMISCHE WEGGABELUNGEN

1


Während einer chemischen Reaktion durchlaufen
Moleküle einen so genannten Übergangszustand: eine
Struktur mit einer hohen potenziellen Energie. Bisher
nahm man an, dass aus jeder dieser Strukturen genau
ein Produkt entsteht.

2


Heute weiß man, dass sich der Reaktionspfad danach
noch ein- oder mehrmals gabeln kann (Bifurkation). Aus
einem Übergangszustand können so mehrere Produkte
entstehen.

3


Die Schwingungen des Moleküls entscheiden darüber,
welchen Weg es an der Weggabelung einschlägt und
welches Produkt gebildet wird. Mit diesem Wissen
könnte es künftig möglich sein, Reaktionen gezielter zu
kontrollieren.


Fährt ein Skifahrer einen Hang hinunter, ist er ständig
äußeren Einflüssen wie dem Wind oder vereisten
Schneeflächen ausgesetzt. Je nachdem, wie er mit
diesen zurechtkommt, verläuft sein Weg bergab, und er
wird entsprechend an unterschiedlichen Stellen unten
ankommen. Ganz ähnlich können bei einer chemischen
Reaktion die Moleküle durch äußere Umstände beeinflusst
werden. Während sie sich vom Ausgangsstoff in ein Pro-
dukt verwandeln, durchlaufen sie einen Punkt höchster
Energie, den so genannten Übergangszustand. Anschlie-
ßend führt sie ihr Weg – energetisch betrachtet – bergab,
ähnlich wie beim Skifahrer. Bisher nahm man an, dass der
Pfad dieser chemischen Talfahrt relativ geradlinig verläuft.
Doch das ist zu einfach gedacht, denn der Weg kann sich
noch mehrmals gabeln. Forscher beginnen jetzt, die Viel-
zahl dieser molekularen Pfade aufzuzeichnen, um mit Hilfe
der so entstehenden Landkarten den Ausgang von Reaktio-
nen besser kontrollieren zu können.

Gängiges Modell im neuen Licht
Im Grundstudium lernen angehende Chemikerinnen und
Chemiker normalerweise, dass Reaktionspfade relativ
geradlinig von einem Startpunkt über einen Hügel bis zum
Ziel verlaufen: Ein oder mehrere Reaktanden, also Aus-
gangsmoleküle mit niedriger potenzieller Energie, werden in
ein Produkt überführt, das ebenfalls eine niedrige poten-
zielle Energie hat. Der Pfad verläuft über einen Übergangs-
zustand – die Molekülstruktur mit der höchsten potenziellen
Energie in dieser Reaktion. Dieser Hügel bildet sozusagen
eine energetische Barriere zwischen Reaktanden und Pro-
dukten (siehe »Die Kartierung von Reaktionswegen«, S. 43).
Entstehen bei einer Reaktion mehrere Produkte, erklären
sich das die Experten bislang mit einem einfachen Modell:
In solch einem Fall existieren verschiedene Reaktionswege,

REAKTIONSDYNAMIK


DAS WACKELN


UND ZITTERN


DER MOLEKÜLE


Dean Tantillo ist Professor für Chemie an
der University of California in Davis. Er
untersucht die komplexen Zusammenhän-
ge chemischer Reaktionen.

 spektrum.de/artikel/1634754

Viele chemische Umwandlungen laufen komplizierter
ab als bisher angenommen. Das zeigen Computer-
simulationen, die Molekülschwingungen während einer
Reaktion berücksichtigen.
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