Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1
die Untersuchung des dynamischen Verhaltens der reagie-
renden Teilchen immer wichtiger werden würde, um Reak-
tivität zu erklären. Und der organische Chemiker Barry
Carpenter von der englischen University of Bristol präsen-
tiert seit rund 30 Jahren überzeugende Argumente dafür,
dass chemische Reaktionen nicht nur hinsichtlich der
Positionen ihrer Atome, sondern auch unter dem Gesichts-
punkt von deren Massen und Schwingungen betrachtet
werden sollten (die so genannte Phase-Space-Perspektive).
Dieses Konzept misst den Geschwindigkeiten und Mas-
sen der Atome dieselbe Bedeutung zu wie ihrer Anordnung
im Molekül (inklusive der Aufenthaltswahrscheinlichkeiten
ihrer Elektronen). In einer Reaktion mit einer Bifurkation
können also die Bewegungen an Stellen des Moleküls, die
nicht direkt an der Spaltung und Neubildung von Bindun-
gen beteiligt sind, mit darüber entscheiden, welches Pro-
dukt entsteht. Wie das Molekül schwingt, während es sich
der »Weggabelung« nähert, ist maßgeblich dafür, welchen
weiteren Weg es einschlägt – und somit auch dafür, wo der
chemische Skifahrer letztlich ankommt, also welcher Stoff
sich bildet.
In Simulationen berechnen theoretische Chemiker nun
die Energien verschiedener Schwingungszustände eines
Übergangszustands. Diese Oszillationen strecken einzelne
Bindungen oder modifizieren Bindungswinkel. Während
sich der Übergangszustand dann strukturell dem Produkt
nähert, verändern sich mit seiner Struktur auch die Bewe-
gungen der Atome.
Durch solche Berechnungen hat man bereits Antworten
auf die Frage bekommen, warum in manchen Reaktionen
unerwünschte Nebenprodukte entstehen. Beispielsweise
werden seit vielen Jahren so genannte ß-Lactone synthe-
tisch hergestellt. Viele dieser Verbindungen kommen in der

lieren und so die Ausbeute an gewünschten Zielmolekülen
steigern kann, während unerwünschte Nebenprodukte auf
ein Mindestmaß reduziert oder ganz eliminiert werden, ist
die Grundlage für alle heutigen chemischen Synthesever-
fahren, sei es die Herstellung von medizinischen Wirkstof-
fen, wichtige Chemikalien, Kunststoffen oder speziellen
Materialien, aber beispielsweise auch für die maßgeschnei-
derte Entwicklung von Enzymen.

Neben den Positionen der Atome werden ihre Massen
und Geschwindigkeiten wichtig
Die Erkenntnis, dass sich ein Reaktionsweg gabeln kann,
macht auch die traditionelle Sichtweise auf chemische
Reaktionen ein Stück komplizierter. So nimmt man verein-
facht an, dass sich Struktur und Energie der Reaktanden
gleichmäßig verändern, wenn sie zu Produkten werden.
Doch das stimmt nicht ganz: Vielmehr müssen Wissen-
schaftler die Schwingungsenergie in den reagierenden
Molekülen berücksichtigen und ebenso die Art und Weise,
wie diese Oszillationen die Abstände und Bindungswinkel
zwischen den einzelnen Atomen verändern. Der berühmte
Quantenphysiker Richard Feynman (1918–1988) brachte
diese Erkenntnis schon früh auf den Punkt: »Alles, was
lebende Organismen tun, können wir durch das Gewackel
und Gezitter der Atome verstehen.« Doch erst seit Kurzem
steht genügend Rechenleistung zur Verfügung, um diese
Bewegungen in komplexeren Molekülen quantenchemisch
zu modellieren.
Fachleute diskutieren bereits seit ungefähr einem halben
Jahrhundert darüber, wie Molekülschwingungen Reaktions-
mechanismen beeinflussen. Im Jahr 1970 sagte der theore-
tische Chemiker Lionel Salem vom französischen Centre
National de la Recherche Scientifique (CNRS) voraus, dass

Entscheidende Moleküldynamik


In vielen chemischen Reaktionen
bilden sich Produktgemische. Mit
Hilfe der hier gezeigten Reaktion
werden so genannte ß-Lactone
hergestellt, die antimikrobiell wirk-
sam sind. Zu 50 Prozent entsteht
dabei ein unerwünschtes Produkt
und nur zu 18 Prozent die nützli-
che Verbindung. Dynamische
Berechnungen zeigen, dass sich

der Reaktionspfad nach dem Über-
gangszustand in zwei Wege auf-
spaltet (Bifurkation). Welchen Weg
das reagierende Molekül nimmt,

hängt davon ab, wie seine Atome
»wackeln und zittern«. Die Molekül-
dynamik beeinflusst also das Pro-
duktverhältnis.

BARBARA AULICINO / AMERICAN SCIENTIST JAN-FEB 2019; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

unerwünschtes
Nebenprodukt
(entsteht zu 50
Prozent)

O

H 3 CO

O

O

N–

N+

O

OCH 3

O

O

O

O

H 3 CO

O

O

N–

N+

O

OCH 3

O

O

O

O

H 3 CO


O

O

N–

N+

O

OCH 3

O

O

O

gewünschtes
ß-Lacton
(entsteht zu
18 Prozent)

Ausgangsstoff
4-tert-Butylcyclohexyldiazomalanat
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