Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1


Wir stehen kurz davor, eine vollständige Geschichte
des Kosmos niederschreiben zu können. Denn Astro-
nomen haben jetzt Galaxien zu einer Zeit beobachtet,
die lediglich 3,5 Prozent des Weltalters von 13,8 Milliarden
Jahren entspricht. Das Licht einer dieser Galaxien, ihre
Katalogbezeichnung lautet SPT0615-JD, begann seine Reise
zur Erde vor unglaublichen 13,3 Milliarden Jahren. Im Jahr
2017 erreichte es das Weltraumteleskop Hubble.
Die Beobachtung stellt eines der Highlights eines Pro-
jekts namens RELICS dar (Reionization Lensing Cluster
Survey), an dem ich maßgeblich beteiligt war und das
einige der ersten Galaxien im Kosmos aufspüren sollte.
Zwischen Oktober 2015 und Oktober 2017 nutzte das
RELICS-Team dazu mehr als 100 Stunden Beobachtungszeit
am Hubble-Teleskop sowie mehr als 900 Stunden Beobach-
tungszeit am Spitzer Space Telescope.
Insgesamt lieferte uns das Projekt 300 Kandidaten für
Galaxien mit einer Entstehungszeit in der ersten Milliarde
Jahre nach dem Urknall. Diese extrem weit entfernten
Himmelsobjekte sind so faszinierend, weil sie einen Einblick
in eine noch völlig unbekannte Ära der kosmischen Ge-
schichte geben. Durch sie können wir etwas darüber ler-
nen, wie die ersten Gala xien entstanden sind und wie sie
das junge Universum um sich herum beeinflusst haben.
So gehen wir beispielsweise davon aus, dass Galaxien
wie SPT0615-JD das Weltall entscheidend verändert haben:
Sie sendeten ultraviolette Strahlung aus, die vermutlich
vom umgebenden Gas absorbiert wurde. Das ionisierte
neutrale Wasserstoffatome, sie spalteten sich also wieder
in Protonen und Elektronen auf.
Astronomen bezeichnen diesen Vorgang als Reionisie-
rung, weil Elektronen und Protonen nach dem Urknall
zunächst ebenfalls getrennt voneinander waren, bis der
Kosmos weit genug abgekühlt war, um neutrale Atome
zu formen. Wie und wann genau die Reionisierung ablief,
ist bislang unklar. Mit etwas Glück könnten die Galaxien,
die wir im jungen Kosmos beobachten, uns Antworten
darauf liefern.
Die frühen Galaxien waren ganz anders als die heutigen,
die wir um uns herum sehen. Sie waren homogener und
bestanden hauptsächlich aus Wasserstoff, dem leichtesten
Element im Kosmos. Im Lauf der Zeit fusionierten dann
diese Atome in den Sternen, wodurch sich schwerere
Elemente bildeten. Als die ersten Sterne am Ende ihres
Lebens in Supernova-Explosionen vergingen, verteilten
diese die schwereren Elemente im Weltall, darunter jene
Stoffe, die für die Entstehung von Leben nötig sind.
Auch die Struktur der Galaxien war eine andere: Die
ersten von ihnen mussten sich noch zu jenen majestäti-
schen Spiralen oder geschwollenen Ellipsoiden entwickeln,
die wir im heutigen Kosmos sehen. Sie waren weniger
geordnet und viel kleiner – was es schwerer macht, sie
aufzuspüren. Die ersten Galaxien, von denen wir bislang
wissen, maßen nur etwa ein Prozent unserer Milchstraße.
Aber zu dem Zeitpunkt, zu dem wir sie beobachten, wuch-
sen sie rasant an und bildeten mit einer erstaunlich großen
Rate neue Sterne. Diese Pioniere waren massereicher als
die heutigen Sterne, sie enthielten vermutlich das Zigfache
der Masse unserer Sonne. Kernbrennstoff war damals

reichlich vorhanden, da den frühen Galaxien in großen
Mengen kaltes Wasserstoffgas zuströmte.
Zudem stießen die Galaxien oft zusammen und ver-
schmolzen miteinander, was ihr Wachstum beschleunigte
und zu geradezu explosiver Entstehung neuer Sterne führte.
Mit der Expansion des Universums verlangsamte sich das
Wachstum der Galaxien dann, Verschmelzungen wurden
seltener, und der Zustrom von Gas ebbte ab. Dafür entstan-
den Planeten und auf mindestens einem von ihnen auch
Lebewesen, die sich Gedanken über die Geschichte des
Universums machen.
So oder so ähnlich stellen wir uns die Entwicklung des
Kosmos vor. Viele Einzelheiten in der fernen Vergangenheit
sind aber noch unklar: Wann bildeten sich die ersten Gala-
xien? Wie groß waren sie, und wie sahen sie aus? Waren
sie die »Bausteine« für spätere Galaxien, mit jeweils einer
einzigen großen Region, in der Sterne entstanden? Fand in
allen von ihnen eine explosionsartige Entstehung von
Sternen statt – oder waren manche Galaxien ruhiger, ähn-
lich wie heutige Exemplare?
Ebenfalls offen ist, ob die damaligen Galaxien Zeit genug
hatten, eine scheibenförmige Struktur auszubilden, wie die
Milchstraße sie zeigt; möglicherweise kam es dazu auch zu
häufig zu Verschmelzungen. Eine spannende Frage ist
zudem, ob wir jemals eine Galaxie mit reinem Wasserstoff-
gas finden werden oder ob die ersten Supernovae die
jungen Sterninseln dafür zu schnell mit schwereren Elemen-
ten angereichert haben. Andere Unklarheiten betreffen die
Rate, mit der die Masse und Anzahl der Galaxien zunah-
men, und die Frage, ob sie tatsächlich für die Reionisierung
des Universums verantwortlich waren.

Gewaltige Galaxien dienen als
kosmische Vergrößerungsgläser
Es gibt also noch viel zu erforschen im jungen Universum.
Mit RELICS hofften wir Antworten zu finden. Unser Projekt
macht sich so genannte Gravitationslinsen zu Nutze, um
weit in die Vergangenheit zu schauen. Dabei handelt es sich
um natürliche Vergrößerungsgläser in Form masse reicher
Galaxienhaufen. Diese Ansammlungen von etlichen Stern-
inseln enthalten so viel Masse, dass sie mit ihrer Gravitation
Raum und Zeit gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie
von Einstein stark verbiegen.
Die Strahlung eines weiter entfernten Objekts folgt den
Krümmungen der Raumzeit und wird auf diese Weise
gebündelt und verstärkt. Wenn die Strahlung schließlich die
Erde erreicht, sieht das Objekt hinter dem Galaxienhaufen
verzerrt und auseinandergezogen aus – mitunter erscheinen
sogar mehrere Bilder von ihm. Das Phänomen mag abstrakt
erscheinen, aber wir kennen etwas Ähnliches aus unserem
Alltag: Blickt man durch den Boden eines Weinglases auf
eine Kerzenflamme, so sieht man mehrere verzerrte Bilder
von ihr. Hier lenkt das Glas die Lichtstrahlen um.
Per Gravitationslinse vergrößerte Galaxien sind heller
und zeigen mehr Einzelheiten als solche auf gewöhnlichen
Teleskopaufnahmen. Wir können dadurch Objekte beob-
achten, die sonst zu weit entfernt und zu leuchtschwach
wären, um für uns sichtbar zu sein. Ein weiterer Vorteil: In
Regionen, die durch den Gravitationslinseneffekt vergrößert
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