Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1
nach seinem Entdecker Edwin Hall benannte klassische
Hall-Effekt: Führt man einen stromdurchflossenen Leiter
in ein Magnetfeld, lenkt die Lorentzkraft die bewegten
Elek tronen seitlich ab, so dass eine Spannung senkrecht
zum angelegten Strom entsteht. Diese »Hall-Spannung«
hängt sowohl von der Elektronendichte des Materials als
auch von der Stärke des äußeren Magnetfelds ab, weshalb
der Hall-Effekt zum Vermessen magnetischer Felder ge-
nutzt wird.
Klaus von Klitzing führte ein ähnliches Experiment durch,
um eine künstlich hergestellte Halbleiterstrukur zu unter-
suchen: die so genannten MOSFETs, deren freie Elektronen
in einer zweidimensionalen Ebene eingeschlossen sind.
Als der Forscher die Proben in einem extrem starken Mag-
netfeld immer weiter herunterkühlte, stellte er überrascht
fest, dass die Hall-Spannung nicht mehr kontinuierlich
mit der Feldstärke zu- oder abnahm, sondern ihren Wert
ruckartig änderte.
Dieses unstetige Verhalten ist eigentlich ein Merkmal
von Quantensystemen. Doch von Klitzing verwendete
makroskopische und vergleichsweise unreine Halbleiter, in
denen sich quantenmechanische Effekte eigentlich nicht
beobachten lassen. Als er den Versuch für andere MOS-
FETs wiederholte, fand er exakt die gleichen Messwerte


Viele Menschen haben vermutlich erst-
mals durch die berühmte Geschichte des
Quadrats A. Square einen greifbaren
Eindruck von Räumen mit mehr als drei Dimen-
sionen bekommen. Neben einer satirischen
Darstellung der damaligen viktorianischen Gesell-
schaftsstruktur in England beschreibt Edwin Abbott
Abbott in seiner 1884 erschienenen Novelle »Flächen-
land«, wie der quadratische Protagonist einer flachen Welt
auf eine Kugel trifft, die ihn von der Existenz einer dritten
Dimension überzeugen will.
Für Mathematiker ist es nichts Besonderes mehr, sich
geistig in hochdimensionale oder gar unendlich-dimensio-
nale Räume zu begeben, um dort komplizierte Beweise zu
führen. Und selbst in manchen Bereichen der Physik ist es
mittlerweile an der Tagesordnung, an Objekte mit mehr als
drei Dimensionen zu denken.
Außerhalb dieser theoretischen Sphären und vor allem,
wenn es um das alltägliche Leben geht, ist nach drei Raum-
dimensionen allerdings Schluss. Gerade Experimental-
physiker, die Theorien im Labor überprüfen, sind auf Syste-
me mit maximal drei Dimensionen beschränkt. Doch nun
ist es mir mit meinen Kollegen gelungen, einen vierdimen-
sionalen Quanteneffekt experimentell zu untersuchen.

Die seltsamen Gesetzmäßigkeiten, denen
mikroskopische Teilchen folgen
Die klassische Physik, die wir in unserer Welt wahrnehmen,
unterscheidet sich drastisch von den Gesetzen, die das
Verhalten von Molekülen und anderen Teilchen auf atoma-
rer und subatomarer Ebene diktieren. Der Grund dafür ist,
dass Quantensysteme in der Regel ihre eigentümlichen
Merkmale verlieren, sobald sie mit ihrer Umgebung wech-
selwirken. Ein alltägliches Objekt wie ein Ball hat gar keine
Chance seine quantenmechanischen Eigenschaften zu
entfalten: Er ist von unzählbar vielen Luftmolekülen umge-
ben, wird von Photonen bombardiert und kommt hin und
wieder in Berührung mit einem Fuß.
Das macht es für Physiker schwer, die Quantenwelt zu
erkunden. Meist können sie nur wenige Teilchen in abge-
schotteten Systemen untersuchen, die äußerst störanfällig
sind. Die kleinste Temperaturschwankung oder eine leichte
Vibration machen das ganze Experiment zunichte.
Eine bemerkenswerte Ausnahme ist der so genannte
Quanten-Hall-Effekt (siehe Spektrum März 1986, S. 46), den
der deutsche Physiker Klaus von Klitzing 1980 erstmals
beobachtete. Das Quantenphänomen ist in Festkörpern
messbar, die aus mehr als 1023 Teilchen bestehen, und ist
unempfindlich gegenüber äußeren Einflüssen. Diese
Entdeckung sollte weitaus weitreichendere Folgen für die
Physik haben, als es der Forscher oder das Nobelkomitee,
das ihm 1985 den prestigeträchtigen Preis verlieh, ahnen
sollten. Denn Quanten-Hall-Systeme sind das erste Beispiel
einer neuen Stoffklasse, welche die heutige Elektronik-
industrie revolutionieren und zu neuartigen Quantencom-
putern führen könnte: Sie gehören zu den topologischen
Materialien (siehe Spektrum Februar 2019, S. 50).
Als von Klitzing seine überraschende Beobachtung
machte, war ein ähnliches Phänomen bereits bekannt, der

In der Topologie klassifizieren Mathematiker Objekte
gemäß ihrer unveränderlichen Eigenschaften. Für
geometrische Formen bietet sich etwa die Anzahl ihrer
Löcher an. Eine Tasse und ein Donut gehören daher zur
gleichen topologischen Kategorie. Ein abstrakteres
Beispiel ist die »Chern-Zahl«, die das Verhalten der
Elektronen im Quanten-Hall-Effekt charakterisiert. Die
Hall-Spannung hängt lediglich von dieser Zahl ab.

JOHAN JARNESTAD/THE ROYAL SWEDISH ACADEMY OF SCIENCES (WWW.NOBELPRIZE.ORG/
PRIZES/PHYSICS/2016/PRESS-RELEASE/ - TOPOLOGY); BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
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