Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1
vor – und das, obwohl die Hall-Spannung von der Elektro-
nendichte einer Probe abhängen sollte. Seine Ergebnisse
ließen sich dagegen ausschließlich auf Naturkonstanten
zurückführen. Diese erstaunliche Eigenschaft nutzt man
inzwischen, um den elektrischen Widerstand zu definieren.
Zwei Jahre nach der unerwarteten Entdeckung fand der
britische Physiker David Thouless mit seinen Kollegen
Mahito Kohmoto, Peter Nightingale und Marcel den Nijs
eine Erklärung für das sonderbare Verhalten der Elektronen:
Anders als in gewöhnlichen Festkörpern diktieren Gesetze
aus dem abstrakten Gebiet der Topologie das Verhalten der
Teilchen in Quanten-Hall-Systemen.
Die Topologie stammt aus der Mathematik und dient der
Klassifizierung geometrischer Körper. Dabei gelten zwei
Objekte als gleich, wenn sie sich kontinuierlich ineinander
umformen lassen. Es ist, als würde man einen Teig kneten,
ohne Löcher in diesen zu reißen. Daher sind ein rundes
Brötchen und ein längliches Baguette topologisch gesehen
gleich, während ein Donut einer anderen Kategorie ange-
hört. Topologen ordnen jeder Klasse eine »Invariante« zu,
welche die unveränderlichen Eigenschaften der Objekte
widerspiegelt. Für zweidimensionale Oberflächen ist eine
solche Invariante beispielsweise die Anzahl ihrer Löcher.
In der Quantenmechanik gibt es etwas Vergleichbares.
Stellt man sich die möglichen Zustände eines Teilchens als
Punkte in einem Raum vor, dann verändert das Magnetfeld
diesen Raum. Es ist, als würde es ihn krümmen. Dadurch
beeinflusst es in von Klitzings Experiment die Geschwindig-
keit und die Ausbreitungsrichtung der Elektronen in der
Halbleiterstruktur. Diese Analogie zu geometrischen Objek-
ten machten sich Thouless und seine Kollegen zu Nutze.
Topologen klassifizieren nämlich nicht bloß Oberflächen,
sondern auch abstrakte Objekte. Deshalb konnten die vier
theoretischen Physiker den Wellenfunktionen im Quanten-
Hall-System eine topologische Invariante namens Chern-
Zahl zuordnen, die einer Lochzahl für geometrische Ober-
flächen ähnelt. Sie bewiesen, dass die Hall-Spannung in
von Klitzings Experiment umgekehrt proportional zu dieser
Invarianten ist, die genau wie eine Lochzahl nur ganzzahlige
Werte annimmt (siehe Bild links).
Als der deutsche Forscher während seines Experiments
die Stärke des Magnetfelds immer weiter erhöhte, beob-
achtete er ein ruckartiges Wachstum des Hall-Widerstands,

also des Verhältnisses aus Hall-Spannung und senkrecht
dazu angelegtem Strom. An bestimmten Schwellenwerten
veränderte das äußere Feld das Verhalten der Elektronen so
stark, dass die Chern-Zahl des Systems auf den nächsten
ganzzahligen Wert hüpfte. So wie eine extreme Krümmung
irgendwann ein Loch in eine geometrische Oberfläche reißt,
kann auch ein sehr starkes Magnetfeld die topologische
Invariante eines abstrakten Raums ändern.
Die Topologie erklärt außerdem die bemerkenswerte
Stabilität des seltsamen Quanteneffekts. Ähnlich wie das
Kneten einer Teigmasse zwar die geometrische Form eines
Gebäcks ändert, aber keine Löcher erzeugt, können Verun-
reinigungen eines MOSFETs der Chern-Zahl nichts anhaben.
Die Unvollkommenheit der Probe verformt die Wellenfunk-
tionen, ohne dabei die gesamte Topologie zu ändern.

Eine neue Materialklasse ist geboren
Die Erkenntnisse von Thouless und seinen Kollegen sollten
die Festkörperphysik revolutionieren. Doch bevor sich Wis-
senschaftler des Ausmaßes dieser Entdeckung bewusst
wurden, vergingen etwa zwei Jahrzehnte. Anfangs hielt man
den Quanten-Hall-Effekt für einen Spezialfall, der nur unter
besonderen Bedingungen auftritt. Als unausweichliche
Voraussetzung galt insbesondere die zweidimensionale
Struktur der MOSFETs, die Elektronen in eine Ebene zwingt.
Wenig später bewiesen Forscher auch mathematisch, dass
es im Allgemeinen keinen Quanten-Hall-Effekt in drei Di-
mensionen geben kann.
Um das Jahr 2000 fanden zwei Teams aus theoretischen
Physikern allerdings unabhängig voneinander heraus,
dass eine ähnliche Form des Quanten-Hall-Effekts in vier
Dimensionen auftreten könnte. Jürg Fröhlich und seine
Kollegen von der ETH Zürich sowie die Gruppe von Shou-
cheng Zhang von der Stanford University berechneten,
dass das bizarre quantenmechanische Phänomen nicht wie
bisher angenommen bloß auf zweidimensionale Systeme
beschränkt ist.

AUF EINEN BLICK
VIERDIMENSIONALER
QUANTEN-HALL-EFFEKT

1


Anders als die meisten anderen Quantenphänomene
taucht der Quanten-Hall-Effekt unabhängig von
mikroskopischen Details in Festkörpern auf.

2


Lange galt er als Spezialfall: In ein- oder dreidimen-
sionalen Materialien kann er nicht entstehen. Theo-
retischen Berechnungen zufolge könnte es den
exotischen Effekt aber in vier Dimensionen geben.

3


Zwei Forschergruppen haben nun unabhängig von-
einander jeweils ein charakteristisches Merkmal
des vierdimensionalen Quanten-Hall-Effekts im Labor
untersucht und dadurch seine Existenz bestätigt.

Dreht man die Schraube einer Archimedes-
Pumpe, bewegt sich das Wasser entlang
des Pfeils nach oben. So kann man es von
einem tiefer liegenden Becken in ein
höheres be fördern.

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