Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1

langweilig und stumpf. In manchen Fällen mögen Kritiker
wie er Recht haben. Die deformierten Porträts von Caselles­
Dupré, Fautrel und Vernier etwa sind wirklich nicht allzu
interessant: Es handelt sich dabei um reine Imitationen von
vorab verarbeiteten Eingaben.
Allerdings sollte man nicht bloß das Endergebnis beur­
teilen, sondern auch den kreativen Prozess, bei dem
Mensch und Maschine zusammenarbeiten, um neue visu­
elle Formen zu erschaffen. Künstler können nämlich auf
vielfältige Weise mit KI­Programmen spielen. Für ihre
Animation »Fall of the House of Usher« nutzte Anna Ridler
Standbilder aus einer 1929 erschienenen Verfilmung der
gleichnamigen Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe. Sie
fertigte Tuschezeichnungen dieser Bilder an und speiste sie
in ein GAN ein, das eine Reihe neuer Gemälde hervorbrach­
te, die sie dann zu einem Kurzfilm zusammenschnitt. Ein
weiteres Beispiel ist das von Saltz als langweilig titulierte
»The Butcher’s Son«, bei dem Klingemann seinem Algorith­
mus Figuren aus Stöcken und pornografische Bilder über­
geben hatte.
Selbst wenn die computergenerierten Ergebnisse häufig
überraschen, kommen sie nicht aus dem Nichts: Hinter
ihnen steckt ein aufwändiger Prozess, der sicherlich auch


KI als Kunstkritiker


Damit eine KI selbstständig neu­
artige Bilder produziert, muss sie
lernen, wie Menschen Kreativität
definieren. Zusammen mit meinen
Kollegen habe ich deshalb einen
Algorithmus entwickelt, der er­
kennt, welche Kunstwerke in den
letzten 500 Jahren besonders
originell waren und spätere Arbei­
ten nachhaltig beeinflusst haben.
Mit Hilfe von maschinellem
Sehen (englisch: computer vision)
haben wir ein Netzwerk etlicher
Gemälde aufgebaut, die zwischen
dem 15. und dem 20. Jahrhundert
entstanden. Um durch diesen
unübersichtlichen Datenwust zu
navigieren, nutzten wir eine Klasse
von Algorithmen, die unter anderem
bei der Untersuchung sozialer
Interaktionen, Epidemieanalysen
und Websuchen weit verbreitet
sind. Beispielsweise verwendet
Google derartige Programme, um
diejenigen Webseiten auszuwählen,
die am relevantesten für einen
Suchbegriff sind.
In unserem Fall analysiert der
Algorithmus zuerst die visuellen

Eigenschaften der Bilder (Farbe,
Textur, Perspektive und Thema) und
vergleicht sie mit ihrem Entste­
hungsdatum. Anschließend bewer­
tet er ihre jeweilige Kreativität,
indem er beurteilt, wie originell sie
sind und wie stark sie spätere
Werke beeinflusst haben. Bis auf
das Entstehungsdatum erhält
das Programm keinerlei Informa­
tionen.
Tatsächlich stimmen die Ein­
schätzungen unserer Software
häufig mit etablierten Expertenmei­
nungen überein. Als wir sie 1700
verschiedene Gemälde bewerten
ließen, stufte sie zum Beispiel die
Kreativität von Edvard Munchs
»Schrei« (1893) viel höher ein als die
Werke seiner damaligen Kollegen.
Ebenso gab der Algorithmus Picas­
sos »Les Demoiselles d’Avignon«
(1907) die höchste Kreativitätsbe­
wertung aller Gemälde zwischen
1904 und 1911, die er analysierte.
Natürlich gibt es auch Fälle, in
denen das Programm nicht zum
gleichen Urteil kommt wie Kunsthis­
toriker. Woher wissen wir also, dass

es trotzdem funktioniert? Als Test
führten wir so genannte Zeitmaschi­
nenexperimente durch, bei denen
wir einzelne Kunstwerke vor­ oder
nachdatierten und überprüften, wie
sich die neu entstehenden Kreati­
vitätswerte von den ursprünglichen
unterschieden.
So fanden wir heraus, dass
Gemälde aus dem Impressionismus,
Postimpressionismus, Expressionis­
mus und Kubismus deutlich besser
abschneiden, wenn ihr Entste­
hungsdatum auf 1600 vorverlegt
wird. Neoklassische Bilder gewin­
nen in diesem Fall hingegen nicht
viel. Genau dieses Ergebnis hatten
wir erwartet, denn der Neoklassizis­
mus gilt als Wiederbelebung der
Renaissance. Werke aus der Renais­
sance und dem Barock erleiden
dagegen nach 1900 Verluste bei
ihren Kreativitätswerten.
Mit dieser Arbeit konnten wir
zeigen, dass nicht bloß Menschen
in der Lage sind, Kreativität zu
beurteilen. Nun können auch Com­
puter diese Aufgabe erfüllen – und
sind dabei sogar objektiver.

Als Forscher einen Algorithmus mit Porträtzeichnungen
der letzten fünf Jahrzehnte speisten, entstanden eine
Reihe neuer Kunstwerke, die deformierte Gesichter
zeigen. Auch wenn sie innovativ wirken, fehlt hinter
diesen Bildern jedoch eine Absicht.

AHMED ELGAMMAL, ART & AI LAB RUTGERS UNIVERSITY
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