Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1

Die gemeine Tapete ist heute nur noch selten zu finden.
In den 1960er Jahren pflegte man die Wände der guten
Stube mit Mustern aus großen Blumen zu bekleben, die
sich nach oben und unten ebenso wie nach rechts und
links getreulich wiederholten und möglichst gut mit dem
röhrenden Hirsch überm Wohnzimmersofa harmonierten.
Die einfache mathematische Beschreibung einer Tapete
läuft auf die Theorie der kristallografischen Gruppen in der
Ebene hinaus (siehe Spektrum März 2014, S. 68): Man packt
jede der großen Blumen in ein Quadrat derart, dass alle
diese Vierecke zusammen die Ebene lückenlos und über-
lappungsfrei bedecken. So gesehen, ist die Tapete prinzipi-
ell nichts anderes als eine Kachelung der Wand mit lauter
gleichen Kacheln (auf das Material kommt es dem Mathe-
matiker nicht an).
Wenn die Tapete tatsächlich so gemustert ist wie ein
regelmäßiges Quadratgitter nach Art des klassischen
Badezimmerfußbodens, dann gibt es zwei aufeinander
senkrecht stehende Vektoren mit der Eigenschaft, dass
das ganze Muster bei Verschiebung um einen dieser
Vektoren in sich selbst übergeht (»translationsinvariant
ist«). Und wenn es mit quadratischen Kacheln nicht geht,
dann mit solchen in Form eines Parallelogramms.
So weit die einfache Beschreibung. Die komplizierte
fasst dieselbe Tapete als ein großes Bild auf, das – zum
Beispiel – aus lauter Pixeln zusammengesetzt ist. Jedes
Pixel hat eine Position, die durch seine Koordinaten x und
y bestimmt wird, und einen Farbwert, der sich durch eine
oder mehrere Zahlen ausdrücken lässt. Man hat also eine
Vorschrift, die jedem Punkt (x, y) einen Farbwert zuordnet,
sprich eine Funktion. Und nun muss man sich auch nicht
mehr auf einzelne Bildpunkte beschränken. Vielmehr
dürfen x und y jeden reellen Wert annehmen, innerhalb
des Bildrahmens oder auch darüber hinaus: In der abstrak-


ten Welt ist jede Tapete im Prinzip unendlich ausgedehnt.
Und dass sie aus lauter gleichen Kacheln besteht, ist jetzt
eine Eigenschaft der Tapetenfunktion: Sie ist periodisch
bezüglich der beiden Verschiebungsvektoren.
Mit periodischen Funktionen kennen sich vor allem die
angewandten Mathematiker aus, allerdings in einem
anderen Kontext: akustische Signale. Was wir als einen
Ton hören, ist ein Schalldruck, der periodisch in der Zeit
immer wieder dieselben Werte annimmt. Und so, wie man
einen Ton in Grund- und Oberschwingungen zerlegen
kann, lässt sich auch jedes periodisch wiederholte Bild als
eine Überlagerung von Sinus- und Kosinusfunktionen
auffassen. Dabei hat man noch gewisse Freiheiten, wie
man die Zahlenwerte, die eine Tapetenfunktion liefert, in
Farbwerte übersetzt. Wenn es nicht auf den Bildinhalt,
sondern auf die allgemeine Form ankommt, bietet es sich
an, den reellen Zahlen, die vorkommen, von der kleinsten
bis zur größten die Farben des Regenbogens zuzuordnen,
wie Elias Wegert das in seinen »komplexen Schönheiten«
praktiziert (siehe Spektrum August 2018, S. 74), oder die
Zahlen in Größenklassen einzuteilen und jedem solchen
Intervall eine Farbe zu geben. Oder man entnimmt den
Farbwert einem anderen Bild, zum Beispiel dem Foto einer
Landschaft, und findet dann dieses Motiv mannigfach und
verzerrt in der Tapete wieder (siehe Bilder S. 79).

Periodische Funktionen bauen
Damit die Tapete in x- wie in y-Richtung periodisch ist,
muss das auch für ihre Funktion gelten. Aber das ist nicht
schwierig zu bewerkstelligen. Eine Funktion wie
f(x, y) = sin x sin y erfüllt bereits diese Anforderung (siehe
Bild unten links), und f(x, y) = cos x + sin 2 x sin 3 y
+ cos 3 x cos 2 y + sin 4 x sin y ist schon nicht mehr ganz so
langweilig anzusehen (siehe Bild unten rechts).
Interessanterweise zeigen die Bilder sogar mehr Sym-
metrien, als man bestellt hat. So geht die linke Tapete
nicht nur bei Verschiebung um eine ganze Kachellänge,
die hier gleich der halben Bildbreite ist, in sich selbst über,
sondern auch, wenn man sie um je eine halbe Breite nach
rechts und nach oben verschiebt. Obendrein gibt es Spie-
gelsymmetrien, allerdings muss man zusätzlich zum
Spiegeln an einer horizontalen oder vertikalen Achse hell
und dunkel (positiv und negativ) vertauschen.

Bei diesen beiden Tapetenfunktionen werden die Funk­
tions werte auf sehr einfache Weise in Farben umgesetzt:
Der gesamte Wertebereich (links von –1 bis 1, rechts von
–4 bis 4) wird in zehn Intervalle eingeteilt, und jedes
Intervall bekommt einen Farbton, der von dunkel für die
kleinsten bis hell für die größten Werte variiert. Jedes der
beiden Bilder zeigt genau 2 mal 2 Kacheln.


CHRISTOPH PÖPPE
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