Spektrum der Wissenschaft - 06.2019

(Amelia) #1

Spektrum der Wissenschaft 6.19 13


AUF EINEN BLICK
TROPISCHE GEOMETRIE

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In diesem jungen Forschungsgebiet ersetzt man
die Addition zweier Zahlen durch den größten beider
Werte und die Multiplikation durch ihre Summe.

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Dadurch vereinfachen sich komplizierte Oberflächen
zu tropischen Kurven, die sich aus mehreren Linien-
segmenten zusammensetzen.

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Trotz der massiven Veränderungen behalten die tropi-
schen Kurven viele Eigenschaften der ursprünglichen
Objekte bei, was neue Blicke auf alte mathematische
Probleme ermöglicht.

Die tropische Geometrie ist ein weiteres Beispiel für
einen zielführenden Umweg. Sie entstand in den
1980er Jahren und ist inzwischen zu einem aktiven For-
schungsfeld herangewachsen, das auch andere mathe-
matische Bereiche beeinflusst. Einer der größten Nutz-
nießer dieser Entwicklung ist die algebraische Geometrie.
Wie Mathematiker feststellten, kann es sich in diesem
Gebiet lohnen, einen Schlenker über die tropische Geomet-
rie zu machen. Denn einige Eigenschaften algebraischer
Kurven lassen sich im tropischen Teil einfacher berechnen.
Um das nachzuvollziehen, muss man zuerst algebraische
Kurven verstehen. Sie bestehen aus einer Menge von
Punkten (x, y), die eine so genannte polynomiale Gleichung
lösen, zum Beispiel F(x, y) = axy3 + bx 2 y + cx + dy + f = 0.
Die Punkte x und y können dabei nicht bloß reelle, sondern
auch komplexe Werte annehmen, also imaginäre Zahlen
enthalten. In solchen Fällen besteht jede Variable x = a + ib

aus zwei reellen Koordinaten a und b und der imaginären
Einheit i, die der Wurzel aus minus eins entspricht. Die
ursprüngliche Gleichung F(x, y) = 0 hängt also von insge-
samt vier reellen Koordinaten ab und spaltet sich in zwei
unabhängige Teile auf: in einen Realteil ohne i und einen
Imaginärteil mit i. Die entsprechende geometrische Figur ist
dann streng genommen keine Kurve mehr, sondern eine
Oberfläche im vierdimensionalen Raum.
Das mag abstrakt klingen, doch Mathematiker haben
verschiedene Methoden entwickelt, um diese Objekte zu
untersuchen. Allerdings stoßen sie dabei häufig an ihre
Grenzen. Denn die algebraische Geometrie hat sich in
vielen Punkten als äußerst schwierig entpuppt.
In den 1990er Jahren hatten die Forscher Israel Gelfand
an der Rutgers University in New Jersey, Mikhail Kapra-
nov, damals an der Northwestern University in Illinois,
und Andrei Zelewinsky an der Northeastern University in

Links: Der rot markierte Bereich in der Ebene ist die »Amö­
be« der komplexen Geradengleichung x + y = 1. Ihr Skelett
(blau) entspricht der tropischen Kurve. Sie ist durch alle
Punkte (u, v) gegeben, für die mindestens zwei der Argu­
mente u, v und 0 maximal sind. Unten: Indem man die
Basis des Logarithmus (hier für x + y = 1) vergrößert, zieht
sich die Amöbe immer weiter zusammen. Für den Grenz­
fall, bei dem die Basis gegen unendlich geht, bleibt nur
noch ihr Skelett übrig.

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ANTOINE CHAMBERT-LOIR


u = log |x|

v = log |y|
v = log (eu + 1)

v = log (1 – eu)

v = log (eu – 1)
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