Spektrum der Wissenschaft - 06.2019

(Amelia) #1

14 Spektrum der Wissenschaft 6.


Gleichung x + y = 1 wie y ≈ –x verhält. Insbesondere stim-
men die Beträge beider Zahlen überein, wodurch sich die
diagonale Gleichung v = u ergibt. Der linke Tentakel ent-
spricht dagegen vernachlässigbar kleinen Werten von x.
In diesem Fall vereinfacht sich die ursprüngliche Gleichung
zu y ≈ 1, woraus v = log |y| ≈ 0 folgt. Ebenso ergibt sich
der untere Tentakel für kleine y aus u = log |x| ≈ 0.
Indem man diese Extremfälle betrachtet, kann man das
»Skelett« der Amöbe nachzeichnen. Für x + y = 1 besteht es
aus drei Halbgeraden, die sich im Ursprung treffen. Die
russischen Mathematiker Victor Maslov von der Lomonos-
sow-Universität in Moskau und Oleg Viro, damals an der
Universität Uppsala in Schweden, fanden heraus, wie es
sich herausarbeiten lässt: Man ersetzt die Basis des Loga-
rithmus, der die Koordinaten u und v definiert, durch immer
größere Zahlen. Das hungert die Amöbe nach und nach aus
und legt ihr Skelett frei (siehe Bild auf S. 13).
Dieses Phänomen verdankt man den Eigenschaften der
Logarithmusfunktion. Sie wandelt beispielsweise die Multi-
plikation in eine Addition um: Wenn z = xy, dann ist
logb z = logb x + logb y. Mit w = logb z folgt also w = u + v.
Während sich die Multiplikation vereinfacht, wird die Additi-
on allerdings komplizierter: Für z = x + y ist w = logb(x + y) 
= logb(blog x + blog y), also w = logb(bu + bv).
Der letzte Ausdruck erscheint zwar recht umständlich, er
nimmt aber eine einfachere Gestalt an, wenn die Basis b des
Logarithmus sehr groß ist. In diesem Fall dominiert die grö-
ßere der beiden Zahlen u und v, das heißt, nur sie bleibt im
Grenzfall einer unendlich großen Basis übrig: w = max (u, v).
Addition (+) und Multiplikation ( · ) werden also durch die
Operationen »max« und + ersetzt. Heute ist diese »Max-

Boston eine merkwürdig erscheinende Idee für einen
Umweg, der die Erforschung algebraischer Kurven er-
leichtern sollte. Anstatt direkt die komplexen Lösungen x
und y einer Gleichung F(x, y) = 0 zu studieren, betrachte-
ten sie die Logarithmen ihrer Beträge. Das heißt, sie
visualisierten alle Punkte (u, v) = (log |x|, log |y|). Weil die
Beträge komplexer Zahlen reell sind, halbierten die For-
scher so die Dimensionen des eigentlichen Problems:
Aus den seltsamen Flächen im vierdimensionalen Raum
werden gewöhnliche Kurven in der Ebene. Das Erstaun-
liche ist, dass dabei einige Eigenschaften der ursprüngli-
chen Gleichung erhalten bleiben.


Komplizierte Gerade
Um das zu erkennen, hilft ein Beispiel. In komplexen Koordi-
naten beschreibt die Geradengleichung x + y – 1 = 0 eine
komplizierte Fläche. Betrachtet man dagegen die Logarith-
men der Beträge von x und y, füllen diese Punkte einen Teil
der zweidimensionalen Ebene aus, die durch drei Kurven-
gleichungen begrenzt ist (siehe Bild auf S. 13): Für negati-
ve u gehören alle Punkte (u, v) innerhalb von v = log (eu + 1)
und v = log (1 – eu) zur Lösung, während für positive u alle
zwischen v = log (eu + 1) und v = log (eu – 1) die Gleichung
erfüllen.
Die Kurvengleichungen begrenzen ausufernde Bereiche,
deren Form an Tentakel erinnert. Das ist keine Besonderheit
der betrachteten Gerade, sondern ein Merkmal aller algeb-
raischen Kurven. Wegen ihrer Ähnlichkeit zu den Wechsel-
tierchen bezeichnen Mathematiker die geometrischen
Objekte als Amöben.
Doch woher kommen diese Tentakel? Tatsächlich haben
sie einen einfachen Ursprung. Sie entsprechen den Gebie-
ten, in denen die Koordinaten x und y entweder sehr groß
oder sehr klein sind. In der diagonalen Tentakel sind bei-
spielsweise sowohl x als auch y groß, so dass sich die


5

5 u

v


  • 5

  • 5


Die tropische Kurve der Funktion
F(x, y) = 1 + 2xy + x3 + y3 entspricht den Punkten
(u, v), für die mindestens zwei der vier Argumente
0, log 2 + u + v, 3u und 3v maximal sind.


Die Anzahl der Schnittpunkte zweier tropischer Kurven
ist, wie für algebraische Kurven auch, gleich dem
Produkt ihrer Grade. Im obigen Bild kreuzt der tropi­
sche Kegelschnitt (rot) x2 + 4xy – 300x – 40y – 50 die
kubische Kurve (grün) ⅛ x3 + x 2 y + 2xy 2  + y3 + 2x2 +
15 xy + 400y2 + 5x + 100y + 1 in 2 · 3 = 6 Punkten. Dabei
zählt der blaue Punkt doppelt, weil diese Koordinaten
zweimal in der Lösung auftauchen.

ANTOINE CHAMBERT-LOIR

ANTOINE CHAMBERT-LOIR

u

v
Free download pdf