Spektrum der Wissenschaft - 06.2019

(Amelia) #1

Spektrum der Wissenschaft 6.19 15


Plus-Algebra« als tropische Algebra bekannt (siehe »Exoti-
sche Namensgebung«, unten).
Jedes Polynom lässt sich derart in eine tropische Form
übersetzen (siehe Bild links unten). Die Geradengleichung
x + y – 1 = 0 wird beispielsweise zu max (u, v, 0). Diese
tropische Kurve entspricht den drei Halbgeraden, die das
Skelett der Amöbe nachzeichnen. Die tropische Gleichung
von a · xn ist demzufolge log |a| + n · u, und das Polynom
5 x2 – 4y 3  – 2 vereinfacht sich analog zu max (log 5 + 2u,
log 4 + 3v, log 2).
Zwei Eigenschaften haben alle algebraischen Kurven
gemeinsam: Ihr Skelett besteht immer aus gebietsweise
linearen Funktionen; und ihre Amöbe setzt sich stets aus
endlich vielen konvexen Bereichen zusammen. Letzteres
bedeutet, dass sich entweder zwei Punkte außerhalb der
Amöbe durch eine Gerade verbinden lassen oder dass es
keine stetige Kurve gibt, die beide Punkte verknüpft, ohne
die Amöbe zu kreuzen. Sprich: Die Gebiete haben stets die
Form einer Amöbe mit langen Tentakeln. Im Gegensatz
zu den betrachteten Beispielen ist die grafische Darstellung
des Skeletts und der Amöbe einer polynomialen Glei-
chung aber nicht immer einfach. Daher haben sich tropi-
sche Kurven inzwischen als eigenständiges Forschungs-
thema etabliert.
Was macht diese seltsamen Objekte für Mathematiker
überhaupt interessant? Einer ihrer Reize ist, dass sie trotz
ihrer Einfachheit die ursprüngliche komplexe Kurve ziemlich
genau widerspiegeln. Komplizierte algebraische Fragestel-
lungen verwandeln sich auf tropischer Ebene in rein kombi-
natorische Probleme, die ein Computer lösen kann (siehe
Spektrum November 1995, S. 20).
Denn erstaunlicherweise haben tropische und algebrai-
sche Kurven viele Gemeinsamkeiten. Ein Beispiel dafür
zeigt sich im »Satz von Bézout«, wonach die Anzahl der
Schnittpunkte zweier Kurven gleich dem Produkt ihres
jeweiligen Grades ist, das heißt des höchsten Exponenten
der Variablen x und y im Polynom F(x, y). Überraschender-
weise lässt sich der Satz von Bézout auch auf tropische
Kurven übertragen (siehe Bild links oben) – in diesem Fall ist
er sogar allgemeiner. Die tropische Version des Theorems


stellt keinerlei Bedingungen an die zwei Geraden, während
die algebraische Variante erfordert, dass sie sich nicht über
eine gewisse Strecke überlappen. Der tropische Satz von
Bézout bietet zudem einen weiteren Vorteil: Neben der
Anzahl an Schnittpunkten liefert er auch Hinweise darauf,
wo sie zu finden sind.

Zählen von Lösungen
Dass solche Theoreme aus der algebraischen Geometrie
einfach auf tropische Objekte übertragbar sind, verwundert
Mathematiker. Doch das gibt ihnen ein neues Werkzeug in
die Hand. So konnten sie in den letzten Jahren die Gemein-
samkeiten von tropischen und algebraischen Kurven nut-
zen, um komplizierte Beweise zu vereinfachen.
Das wohl prominenteste Beispiel dafür findet sich in der
enumerativen Geometrie, einem der ältesten mathemati-
schen Bereiche. Schon in der Antike interessierten sich
Gelehrte für die Anzahl von Lösungen geometrischer Prob-
leme. Apollonios von Perge fragte sich etwa, wie viele
Kreise man zeichnen kann, die drei vorgegebene Kreise
gleichzeitig berühren. Im 16. Jahrhundert fand man heraus,
dass die Aufgabe immer acht Lösungen hat – unabhängig
davon, wie die drei vorgegebenen Kreise angeordnet sind.
Auch Euklid beschäftigte sich mit dem Zählen von Lösun-
gen. Er postulierte im dritten Jahrhundert vor Christus,
dass es nur eine Gerade gibt, die durch zwei beliebig plat-
zierte Punkte verläuft. Seither versuchen Mathematiker das
Problem zu verallgemeinern (siehe Bild oben): Wie viele
Kurven bestimmten Grades verlaufen durch drei oder mehr
willkürlich verteilte Punkte in der Ebene oder in einem
komplizierteren Raum?
Im 17. Jahrhundert hatte sich der französische Mathema-
tiker Blaise Pascal jener Aufgabe für Figuren gestellt, die
sich aus dem Schnitt eines Kegels mit einer Ebene ergeben
(»Kegelschnitte«). Zu diesen Kurven zweiten Grades zählen

Exotische Namensgebung


Woher stammt der Name »tropische« Geometrie?
Häufig übernehmen Mathematiker Begriffe aus
der Alltagssprache, ohne jeglichen Bezug zu ihrem
wörtlichen Sinn. Das ist auch hier der Fall. In
seinen Anfängen hieß der Bereich exotische Algeb-
ra, danach wurde er bis Ende der 1980er Jahre
Max-Plus-Algebra genannt. Inzwischen ist er zur
»tropischen Algebra« geworden, auf Anregung
mehrerer theoretischer Informatiker von der Uni-
versität Paris-VII, die ihrem brasilianischen Kolle-
gen Imre Simon, einem Pionier auf diesem Gebiet,
Tribut zollen wollten.

Zwei Punkte in einer Ebene definieren genau eine
Gerade. Durch fünf willkürlich verteilte Punkte verläuft
genau ein Kegelschnitt (hier eine Ellipse). Für Kurven
höheren Grades gibt es ähnliche Beziehungen. 2005
legten Mathematiker dazu einen Beweis vor, den sie
mit Hilfe der tropischen Geometrie führten.

POUR LA SCIENCE OKTOBER 2018; BEARBEITUNG:

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Free download pdf