Spektrum der Wissenschaft - 06.2019

(Amelia) #1

16 Spektrum der Wissenschaft 6.


Ellipsen, Parabeln und Hyperbeln. Er fand heraus, dass fünf
beliebig verteilte Punkte – von denen höchstens zwei auf
einer Geraden liegen – eindeutig einen Kegelschnitt definie-
ren. Geometer fragten sich daraufhin, ob solche enumerati-
ven Probleme für alle algebraischen Kurven allgemein gelöst
werden können. Wie sich herausstellte, gibt es zumindest
eine bestimmte Klasse, so genannte rationale Kurven, für die
das möglich ist (siehe »Rationale Kurven«, links). Und die
tropische Geometrie sollte den Beweis dieser Aussage
drastisch vereinfachen.
Erst 1994 fand der französisch-russische Geometer Ma-
xim Kontsevich, der heute am Institut des Hautes Études
Scientifiques (IHES) in der Nähe von Paris arbeitet, eine
Methode, um rationale Kurven zu zählen. Er leitete eine
Formel her, welche die Anzahl Nd aller rationalen Kurven
d-ten Grades berechnet, die 3d – 1 Punkte in der Ebene
durchqueren.
Aus Kontsevichs Formel folgt unter anderem, dass es
zwölf Kurven dritten Grades gibt, die durch acht vorgegebe-
ne Punkte verlaufen (N₃ = 12); dass 620 Kurven vierten
Grades elf Punkte durchqueren (N₄ = 620) und 87 304 Kur-
ven fünften Grades 14 Punkte schneiden (N₅ = 87 304). Diese
Ergebnisse waren schon vorher bekannt. Mit Kontsevichs
Formel kann man jedoch Kurven beliebig hohen Grades auf
einfache Weise zählen. Sie lieferte unter anderem die bislang
unbekannten Werte: N₆ = 26 312 976, N₇ = 14 616 808 
und N₈ = 13 525 751 027 392. Obwohl die Zahlen rasant
ansteigen, bleiben sie stets endlich. Das mag auf den ersten
Blick erstaunlich wirken, aber die 3d – 1 Punkte legen eine
komplexe rationale Kurve fest (siehe »Wie Punkte in der
Ebene komplizierte Kurven festlegen«, rechts).
Elf Jahre nach Kontsevichs bahnbrechender Veröffentli-
chung fanden Andreas Gathmann und Hannah Markwig von
der Universität Kaiserslautern eine tropische Version von
Kontsevichs Formel. Sie zählt alle tropischen Kurven d-ten
Grades, die 3d – 1 Punkte kreuzen. Zusammen mit einer
Arbeit von Grigory Mikhalkin von der Universität Genf, in der
er eine Verbindung zwischen algebraischen Kurven d-ten
Grades und ihren tropischen Analoga fand, liefert das
Ergebnis einen einfacheren Beweis für Kontsevichs
Formel.

Die Rückkehr ins Reelle ist nicht
immer einfach
Allerdings vermag man damit lediglich komplexe Kurven
zu zählen. Beschränkt man sich auf rein reelle Objekte,
gestaltet sich das Problem weitaus schwieriger. Ihre
Anzahl hängt nämlich von der genauen Verteilung der
Punkte im Raum ab. Erst 2002 fand der Mathematiker
Jean-Yves Welschinger, der heute an der Université de
Lyon arbeitet, einen Trick zur Berechnung der nach ihm
benannten Welschinger-Invarianten Wd. Diese bestimmt
jedoch nicht alle reellen Kurven d-ten Grades, die durch
3 d – 1 Punkte verlaufen, sondern bloß ihre Mindestanzahl.
Welschingers Ansatz besteht darin, alle Kurven mit einem
Vorzeichen zu versehen, bevor er sie zählt. Dadurch tragen
manche positiv und andere negativ zu der Anzahl bei. Er
konnte zeigen, dass diese Summe Wd nicht mehr von der
genauen Verteilung der Punkte im Raum abhängt.

Rationale Kurven


Geraden und Kegelschnitte (unten) sind die ein-
fachsten Beispiele so genannter rationaler Kurven.
Das hat mit ihrer algebraischen Beschreibung zu
tun. Tatsächlich kann man eine Kurve auf mehrere
Arten darstellen. Die erste Möglichkeit ist, sie durch
eine gewöhnliche Gleichung F(x, y) = 0 auszudrü-
cken. Das erweist sich als hilfreich, wenn man
prüfen möchte, ob ein Punkt (A, B) auf der Kurve
liegt. Dazu setzt man seine Koordinaten in die
Gleichung ein und prüft, ob auf beiden Seiten des
Gleichheitszeichens das gleiche Ergebnis steht.
Möchte man dagegen herausfinden, welche
Punkte auf der Geraden liegen, eignet sich eine
andere Darstellung besser. Durch eine geeignete
»Parametrisierung« hängt beispielsweise eine
Gerade, die durch die Punkte (xA , yA) und (xB , yB)
verläuft, nur von einem Parameter t ab, wird dafür
aber durch zwei Gleichungen beschrieben:

x(t) = (1 – t) ·xA + t · xB y(t) = (1 – t) · yA + t · yB

Um einen Punkt (x(t), y(t)) der Geraden zu be-
rechnen, muss man einen Wert für t in beide Glei-
chungen einsetzen.
Rationale Kurven zeichnen sich dadurch aus,
dass sie sich durch einen Quotienten zweier Poly-
nome P(t) und Q(t) parametrisieren lassen. Für
einen Kreis mit Mittelpunkt in 0 und Radius 1,
dessen Gleichung also x2 + y2 – 1 = 0 lautet, ergibt
sich beispielsweise:

x(t) = (1 – t2) / (1 + t2)

y(t) = 2t / (1 + t2)

Kegelschnitte ergeben sich aus dem Schnitt eines
Kegels mit einer Ebene. Diese Kurven lassen sich
durch polynomiale Gleichungen F(x, y) = 0 zweiten
Grades beschreiben.

ADÈLE GALLÉ / POUR LA SCIENCE OKTOBER 2018

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