Spektrum der Wissenschaft - 06.2019

(Amelia) #1

18 Spektrum der Wissenschaft 6.


Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Struktur
scheinen völlig verschiedene geometrische Figu-
ren durch eine »Spiegelsymmetrie« verbunden.

IVANMOLLOV / GETTY IMAGES / ISTOCK

SPIEGELSYMMETRIE


DER TROPISCHE SPIEGEL



Im Mai 1991 ahnten die Besucher einer Konferenz des
»Mathematical Sciences Research Institute« in Kalifor-
nien nicht, dass sie eine große Überraschung erwarte-
te. Der britische Stringtheoretiker Philip Candelas, damals
an der University of Texas in Austin, präsentierte dort seine
Forschungsergebnisse, doch die größtenteils aus Mathe-
matikern bestehenden Zuhörer zweifelten die Richtigkeit
dieser Arbeit an.
Der Physiker behauptete, eine Formel gefunden zu
haben, die »rationale Kurven« auf einer extrem komplizier-
ten sechsdimensionalen »Oberfläche« zählt. Mathematiker
konnten bisher bloß Kurven ersten, zweiten und dritten
Grades mit aufwändiger Computerunterstützung auf den
seltsamen Gebilden zählen (siehe »Das Skelett der Amöbe«,
S. 12). Außerdem hatten sie kein Muster hinter diesen
schnell anwachsenden Zahlen erwartet – geschweige denn,
dass sich eine Formel zu ihrer Berechnung finden ließe.
Während des Vortrags fiel einigen Zuhörern auf: Can-
delas Wert für die Anzahl der Kurven dritten Grades unter-
schied sich von dem bereits bekannten Ergebnis der nor-
wegischen Mathematiker Stein Arild Strømme, damals an
der University of Utah, und Geir Ellingsrud, damals an der
Universität Bergen. »Die algebraischen Geometer [im
Publikum] zeigten sich arrogant, sie nahmen an, dass die
Physiker einen Fehler gemacht hatten«, schreibt der Organi-
sator der Konferenz und Fields-Medaillenträger Shing-Tung
Yau in seinem Buch »The Shape of Inner Space«. Während
Candelas und seine Kollegen daraufhin fieberhaft nach
einem Fehler suchten, entdeckten Strømme und Ellingsrud
etwa einen Monat später Ungereimtheiten in ihrem Pro-
grammcode – und gaben öffentlich bekannt, dass die
Physiker richtiglagen.

Das Ergebnis von Candelas und seinen Kollegen hatte
enorme Auswirkungen, die über das bloße Zählen von
Kurven hinausgeht: Es deutete auf eine fundamentale
Verbindung zwischen zwei völlig unterschiedlichen geome-
trischen Gebieten hin. Eine solche Übereinstimmung hatte
niemand erwartet – und sie gibt Wissenschaftlern bis heute
zahlreiche Rätsel auf. Inzwischen haben einige Mathemati-
ker herausgefunden, dass die tropische Geometrie die
ungeahnten Gemeinsamkeiten beider geometrischer Wel-
ten erklärt.
Der bizarre Zusammenhang fiel erstmals Stringtheoreti-
kern in den 1980er Jahren auf. Die Stringtheorie soll die
Gravitation mit den quantenmechanischen Gesetzen sub-
atomarer Teilchen vereinigen, indem sie winzige Fädchen
(»Strings«) definiert, die durch ihre Schwingungen die uns
bekannten Elementarteilchen und fundamentalen Kräfte
erzeugen.

Ein rätselhafter Zusammenhang zwischen völlig
unterschiedlichen geometrischen Objekten ver-
wundert Stringtheoretiker und Mathematiker. Kann
die tropische Geometrie das Geheimnis lüften?

Manon Bischoff ist theoretische
Physikerin und Redakteurin
bei Spektrum der Wissenschaft.

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