Spektrum der Wissenschaft - 06.2019

(Amelia) #1

Spektrum der Wissenschaft 6.19 19


AUF EINEN BLICK
DAS UNGLEICHE SPIEGELBILD

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Stringtheoretiker fanden in den 1980er Jahren heraus,
dass zwei völlig unterschied liche geometrische Objek-
te miteinander zusammenhängen.

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Noch heute versuchen Mathematiker herauszufinden,
was hinter dieser unerwarteten »Spiegelsymmetrie«
steckt.

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Inzwischen sind immer mehr Forscher davon über-
zeugt, dass die tropische Geometrie die mysteriöse
Übereinstimmung erklärt.

Allerdings funktioniert die spekulative Theorie nur, wenn
die Welt, die sie beschreibt, neun Raumdimensionen be-
sitzt. Das widerspricht unserem Verständnis des Univer-
sums, in dem wir nur drei wahrnehmen. Ein Ausweg be-
steht darin, anzunehmen, dass die überschüssigen Dimen-
sionen an jedem Punkt unserer Raumzeit ganz klein
aufgerollt (kompaktifiziert) sind, so dass wir sie nicht be-
merken. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, zu
welcher sechsdimensionalen Form, einer so genannten
Mannigfaltigkeit, sie kompaktifiziert sein könnten. Je nach-
dem, ob die Strings in einer sechsdimensionalen »Kugel-
oberfläche« oder einem »Donut« hin- und herschwingen,
ergeben sich daraus völlig andere physikalische Gesetze.
Stringtheoretiker gehen davon aus, dass sich unsere
Welt bloß reproduzieren lässt, wenn die überschüssigen
Dimensionen auf ganz bestimmte Weise aufgerollt sind: zu
so genannten Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten. Allerdings gibt
es unendlich viele davon, die sich zum Teil stark voneinan-
der unterscheiden. Herauszufinden, welche dieser unge-
wöhnlichen sechsdimensionalen »Oberflächen« unsere
Naturgesetze passend beschreibt, gehört zu den schwie-
rigsten Aufgaben der Stringtheorie. Denn die extrem kom-
plizierten geometrischen Gebilde bereiten selbst Mathema-
tikern Kopfschmerzen.

Verschiedene Versionen unserer Welt
Die Situation ist allerdings noch verzwickter: Es gibt nicht
nur eine Art von Stringtheorie, die unsere Welt beschreiben
könnte, sondern sogar fünf, die sich durch ihre Symmetrien
unterscheiden. Zunächst schienen die verschiedenen
Versionen nichts miteinander zu tun zu haben. Doch als
Ende der 1980er Jahre der Physiker Wolfgang Lerche,
damals am California Institute of Technology in Pasadena,
mit seinen Kollegen die »Typ-IIA«-Stringtheorie mit einer

bestimmten Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit studierte, stellte er
fest, dass die »Typ-IIB«-Stringtheorie für eine vollkommen
andere Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit die gleichen Resultate
lieferte. Die Physiker konnten ihren Augen kaum trauen. Sie
spielten das Szenario für verschiedene Kompaktifizierungen
durch und stießen immer wieder auf das gleiche Ergebnis.
Offenbar haben die auf den ersten Blick grundverschiede-
nen geometrischen Gebilde mehr Gemeinsamkeiten als
gedacht.
Diese mysteriöse Entdeckung nannten die Physiker
fortan Spiegelsymmetrie, da sie jeder Calabi-Yau-Mannigfal-
tigkeit X einen »Spiegel« Y zuordnet. Das überraschende
dabei ist, dass sich X und Y kein bisschen ähneln: Selbst
wenn man die extrem grobe Einordnung von Topologen
nutzt, die Figuren unabhängig ihrer genauen Form bloß
nach der Anzahl ihrer Löcher kategorisieren (für sie sind ein
Donut und eine Tasse identisch), unterscheiden sich die
Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten drastisch. Zum Beispiel könn-
te X zwei Löcher haben, während Y kein einziges besitzt.
Dass beide Objekte zu der gleichen Physik führen, ist, als
würde man einen Fußballspieler beobachten, der mit einem
Ball genauso gut herumhantiert wie mit einem viereckigen
Betonklotz.
Für Physiker war diese Übereinstimmung von Anfang an
ein Segen. Denn einige hochkomplizierte Probleme der
Typ-IIA-Stringtheorie fallen im Spiegel deutlich einfacher
aus – und machen eine Berechnung oft überhaupt erst
möglich. Das äußert sich insbesondere in einem vereinfach-
ten Modell der Stringtheorie, der so genannten topologi-
schen Stringtheorie. Physiker ziehen sie heran, um sonst
unergründliche Eigenschaften der vollständigen Theorie zu
untersuchen. Denn auch wenn die vereinfachte Variante
nicht unsere echte Welt widerspiegelt, teilt sie dennoch
einige Merkmale mit der gewöhnlichen Stringtheorie.
Statt fünf gibt es nur zwei verschiedene Versionen der
topologischen Stringtheorie – das A- und das B-Modell.
Glücklicherweise existiert auch im vereinfachten Modell
eine Spiegelsymmetrie: Zu jedem A-Modell mit einer Calabi-
Yau-Mannigfaltigkeit X gibt es ein dazu äquivalentes B-Mo-
dell mit einer anderen Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit Y.

IVANMOLLOV / GETTY IMAGES / ISTOCK

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