Spektrum der Wissenschaft - 06.2019

(Amelia) #1

20 Spektrum der Wissenschaft 6.


Wenn die Spiegelsymmetrie es aber ermöglicht, Kurven
auf Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten zu zählen, könnte man
sie vielleicht auch ganz allgemein als mathematisches
Werkzeug in der enumerativen Geometrie nutzen. Dieser
Hoffnung folgend stürzten sich immer mehr Mathematiker
auf die Spiegelsymmetrie, um sie besser zu verstehen.
Denn hinter der Spiegelsymmetrie schien ein bisher unbe-
kannter Mechanismus zu stecken, der zwei unterschiedli-
che mathematische Bereiche verbindet: die so genannte
symplektische Geometrie, durch die das A-Modell definiert
ist, und die dem B-Modell zu Grunde liegende algebraische
Geometrie. Beide Konzepte weichen dabei nicht zwingend
durch die äußere Erscheinung der Objekte, die sie beschrei-
ben, voneinander ab, sondern durch deren innere Struktur.
Es ist, als würde man verschiedene Baustoffe vergleichen.

Zwei unterschiedliche Baustoffe erweisen
sich als gleich
Die algebraische Geometrie ist recht steif. Verändert man
beispielsweise die Form einer algebraischen Kurve ganz
leicht, dann lässt sie sich möglicherweise nicht mehr durch
eine polynomiale Gleichung beschreiben – und ist dadurch
nicht mehr algebraisch.
Die symplektische Geometrie ist dagegen viel flexibler.
Zupft man an einer Ecke einer symplektischen Kurve, dann
ist sie danach immer noch symplektisch. Dieser Teilbereich
der Geometrie entstand aus der klassischen Mechanik. Um
beispielsweise einen fliegenden Ball zu beschreiben, ist es
wichtig, nicht nur seinen Ort zu jeder Zeit, sondern auch die
dazugehörige Geschwindigkeit zu kennen. Aus diesen
beiden Größen konstruieren Physiker einen so genannten
Phasenraum. Jeder Punkt darin repräsentiert Ort und
Geschwindigkeit zu einer bestimmten Zeit. Das unterschei-
det sich drastisch von der algebraischen Geometrie, in der
eine Figur der Lösung einer komplexen polynomialen
Gleichung entspricht.
Was ist es also, das diese so unterschiedlich erscheinen-
den Konzepte verbindet? Tatsächlich lüftet die Stringtheorie
das Geheimnis. Denn die symplektische Calabi-Yau-Man-
nigfaltigkeit und ihr Spiegel teilen eine gemeinsame Kom-
ponente, die mit offenen Strings zusammenhängt. Anders
als die geschlossenen Fäden, die Candelas mit seinen
Kollegen erforschte, flattern die Enden offener Strings nicht
lose im Raum herum, sondern haften an seltsamen Gebil-
den, so genannten D-Branen. Man kann sich Letztere
vereinfacht als Flächen vorstellen, auch wenn sie im Allge-
meinen mehr als zwei Dimensionen haben können.
1996 hatten Andrew Strominger, damals an der Universi-
ty of California in Santa Barbara, Shing-Tung Yau von der
Harvard University und Eric Zaslow, damals ebenfalls an
der Harvard University, erkannt, dass die Calabi-Yau-Man-
nigfaltigkeit im B-Modell mit den D-Branen des A-Modells
zusammenhängt. Genauer gesagt erzeugen alle D-Branen
der A-Seite einen Raum, in dem jeder Punkt einer solchen
Brane entspricht. Dieser Raum lässt sich als komplexe
Mannigfaltigkeit darstellen, die der gesuchten Calabi-Yau-
Mannigfaltigkeit der B-Seite entspricht.
Weil die offenen Strings aus dem A-Modell an den
D-Branen hin- und herschwingen, entstehen dabei aller-

Diese Eigenschaft hatten sich Candelas und seine Kolle-
gen zu Nutze gemacht, als sie die Bewegungen von »ge-
schlossenen« Strings (deren Enden sich zu einem Ring
verbinden) im A-Modell untersuchten. Die möglichen
Schwingungen der winzigen Fäden zu verstehen, ist für
Stringtheoretiker essenziell, da aus ihnen alle beobachtba-
ren physikalischen Phänomene folgen. Allerdings sind die
Berechnungen auf der A-Seite extrem schwierig: Ein quan-
tenmechanisches Teilchen wie ein String bewegt sich nicht
geradewegs von einem Punkt zum nächsten. Stattdessen
müssen Physiker alle möglichen Pfade berücksichtigen, die
es gehen könnte, und die entsprechenden Wahrscheinlich-
keiten für jeden dieser Wege in einer unendlichen Summe
aufaddieren. Bis auf einzelne Ausnahmen lässt sich eine
solche Berechnung auf der A-Seite überhaupt nicht be-
werkstelligen.
Doch die Spiegelsymmetrie bot den Physikern einen
Ausweg. Anstatt sich mit diesem komplizierten Problem he-
rumzuschlagen, verlagerten sie ihre Berechnungen auf die
B-Seite. Dort fallen die quantenmechanischen Korrekturen
für die Bewegungen geschlossener Strings überraschen-
derweise weg: Ihre Schwingungen lassen sich durch rein
geometrische Überlegungen ermitteln.
Dieses Ergebnis präsentierten Candelas und seine Kolle-
gen 1991 auf der eingangs erwähnten mathematischen
Konferenz. Denn die Bewegungen von geschlossenen
Strings hinterlassen schlauchartige Spuren in der Raumzeit
(siehe Bild unten), die jenen rationalen Kurven entsprechen,
an denen Geometer schon so lange interessiert sind. Seit
der Erforschung von Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten fragten
sie sich, wie viele rationale Kurven auf diesen seltsamen
Gebilden Platz finden. In die Sprache der Stringtheorie
übersetzt lautet diese Frage: Wie viele Möglichkeiten haben
geschlossene Strings, sich in einer Calabi-Yau-Mannigfaltig-
keit zu bewegen? Genau das konnten Candelas und seine
Kollegen mit Hilfe der Spiegelsymmetrie beantworten.


Geschlossene Strings (blaue Kreise) hinterlassen wäh-
rend ihrer Bewegung durch die Raumzeit schlauchförmi-
ge Spuren (lila), die rationalen Kurven entsprechen.


SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON BISCHOFF
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