mit die häufigsten angeborenen Komplikationen – erstmals
ursächlich behandelt werden können.
Dabei hat die Gentherapie einige schwierige Jahre hinter
sich. 1999 verstarb auf Grund eines tragischen Behand-
lungsfehlers ein 18-jähriger Patient namens Jesse Gelsinger,
der an einem angeborenen Enzymdefekt litt. Wissenschaft-
ler der University of Pennsylvania hatten ihm in einem
frühen Versuch, die Gentherapie anzuwenden, Adenoviren
mit therapeutischen Genen injiziert. Allerdings waren die
Partikel viel zu hoch dosiert. Kurz nach dem Eingriff ver-
schlechterte sich Gelsingers Zustand, die Reaktion seines
Immunsystems geriet außer Kontrolle und richtete sich
gegen den eigenen Organismus. Der Patient starb an einem
Multiorganversagen. Diese Tragödie rückte die Gentherapie
in ein sehr schlechtes Licht; Fördermittelgeber zogen ihre
Unterstützung zurück, und viele Forscher gingen auf Ab-
stand.
Angespannt beobachtet die junge Frau die Mimik und
Gestik ihres Gegenübers und nickt oder lächelt, wenn
sie glaubt, es könnte passen. Denn obwohl die Laut-
stärke ihres Hörgeräts erst kürzlich erhöht wurde, versteht
sie in Unterhaltungen kaum noch etwas.
Hannah Corderman leidet an einer angeborenen Erkran-
kung namens Usher-Syndrom, die ihr langsam, aber sicher
zwei Hauptsinne raubt. Auf Grund einer genetischen Muta-
tion stellen Zellen ihres Innenohrs sowie ihrer Netzhaut
bestimmte Proteine nicht mehr in ausreichender Menge her,
die für eine normale Zellfunktion erforderlich sind. Deshalb
hat sich, zusätzlich zum Verlust des Gehörs, auch ihre
Sehkraft verschlechtert. Bereits als Teenager musste sie
Nachtfahrten unterlassen. Heute, mit Mitte 20, erschweren
ihr blinde Flecken selbst tagsüber das Sehen. Die Ärzte
haben bei ihr das Usher-Syndrom Typ 2A diagnostiziert, eine
erbliche Hör- und Sehbeeinträchtigung, die sich über Jahre
hinweg allmählich ausprägt. Derzeit kann keine Therapie
den Fortschritt der Erkrankung stoppen oder wenigstens
verlangsamen. Die junge Frau lebt also mit dem Wissen,
dass sie in 10 Jahren – vielleicht auch erst in 20, falls sich die
Krankheit langsam entwickelt – taub und blind sein wird.
Es gibt nicht viel, was die Ärzte tun können, um ihr zu
helfen. Sie könnten Corderman eines Tages ein Cochlea-
Implantat einsetzen, das den Hörnerv direkt stimuliert,
gewissermaßen unter Umgehung der Haarsinneszellen im
Innenohr. Das würde auch dann noch eine gewisse Ton-
wahrnehmung ermöglichen, wenn die besten Hörgeräte
hierfür nicht mehr ausreichen. Dem Funktionsverlust der
Netzhaut wiederum ließe sich mit Retina-Implantaten
entgegenwirken, welche die lichtempfindlichen Zellen
elektrisch stimulieren. Doch werden sie selten eingesetzt,
da sie dem tatsächlichen Sehempfinden nicht wirklich
nahekommen.
Obwohl Corderman keine emsige Leserin wissenschaftli-
cher Zeitschriften ist, weiß sie, dass unweit ihres Wohnorts
in einigen Bostoner Laboren mehrere hundert Mäuse
gehalten werden, die eine ähnliche Hörstörung haben wie
sie. Doch den Nagern geht es, im Gegensatz zu ihr, zuneh-
mend besser. Denn Biologen haben mittels Gentherapie
zusätzliche Erbanlagen in die Tiere eingeschleust, welche
die korrekte Bauanleitung für jene Proteine tragen, an
denen es erkrankten Individuen mangelt. 2017 berichteten
die Biologin Gwenaëlle Géléoc vom Boston Children’s
Hospital und ihre Kollegen von einer »beispiellosen Gene-
sung« solcher Mäuse, denen die Wissenschaftler entspre-
chende DNA-Stücke ins Innenohr gespritzt hatten. Die
Behandlung stellte das Hörvermögen der Tiere nahezu
vollständig wieder her. Etwa zeitgleich teilte ein Forscher-
team von der Harvard Medical School mit, es habe eine
ähnliche Gentherapie getestet, allerdings an Mäusen mit
einem anderen angeborenen Gendefekt – und zunächst
eine leichte Verbesserung des Hörvermögens erzielt. Eine
dritte im Bostoner Raum arbeitende Gruppe nutzte kürzlich
Methoden des Genome Editing, um ein mutiertes Gen in
»Beethoven-Mäusen« auszuschalten (die Tiere sind nach
dem Komponisten benannt, der in seinen späteren Jahren
ertaubte). All diese Fortschritte geben Anlass zu der Hoff-
nung, dass genetisch bedingte Hörstörungen – in den USA
ETHAN HILL (ETHANHILL.COM)
Hannah Corderman leidet am Usher-Syndrom,
einer angeborenen Erkrankung, bei der die
Betroffenen allmählich ertauben und erblinden.