Spektrum der Wissenschaft - 07.2019

(Jeff_L) #1

neszellen stellten zwar weiterhin auch defekte Harmonin-
varianten her, da ihr Genom ja nach wie vor das mutierte
USH1C enthielt, dies schadete aber nicht.
Auf Basis dieser Methode haben die Forscher am Boston
Children’s Hospital dann Mäuse behandelt, die unter Hör-
schäden ähnlich jenen der menschlichen Usher-Syndrom-
Patienten litten. Sie brachten die modifizierten Viren mit
einem chirurgischen Eingriff, wie ich ihn bei Gyorgy beob-
achtet hatte, in die Tiere ein. In den ersten beiden Wochen
infizierten die Viren nur einige wenige Haarsinneszellen im
Innenohr der Nager; doch nach sechs Wochen hatten sie
rund 80 Prozent von diesen befallen. Das Wichtigste jedoch
war, dass die so behandelten Mäuse wieder auf Geräusche
reagierten. Wurden sie einem plötzlichen Alarmton ausge-
setzt, flüchteten viele, die es zuvor nicht getan hatten – die
einst tauben Nager konnten wieder hören. Haarsinneszellen
üben freilich noch eine weitere wichtige Funktion im Körper
aus: Sie reagieren auf Drehbewegungen sowie auf horizon-


tale oder vertikale Beschleunigungen des Körpers und
wirken entscheidend am Gleichgewichts- und Orientie-
rungssinn mit. Mäuse mit geschädigten Haarsinneszellen,
wie sie bei verschiedenen Formen des Usher-Syndroms
auftreten, zeigen oft Bewegungsstörungen und tun sich
schwer damit, ihre Position im Raum zu erkennen. Statt im
Käfig herumzuschnüffeln, kauern sie sich in eine Ecke. Und
im Gegensatz zu ihren gesunden Artgenossen, die gebore-
ne Schwimmer sind, paddeln sie im Wasser panisch umher
und versuchen festzustellen, wo »oben« ist. (Die Forscher
nehmen die Tiere rechtzeitig heraus, bevor diese unter zu
großen Stress geraten.) Wenn die Gentherapie tatsächlich
die Funktion der Haarsinneszellen wiederherstellt, sollten
damit auch jene Symptome verschwinden.
Als ich direkt nach meinem Besuch an der Harvard
University das Labor von Géléoc und Holt aufsuchte, sah
ich mit Gentherapie behandelte Mäuse, die sich erstaun-
lich normal verhielten. Tiere, die dem Eingriff zwei Monate
zuvor unterzogen worden waren, legten im Wasser prak-
tisch dasselbe Verhalten an den Tag wie ihre gesunden
Artgenossen und standen diesen selbst hinsichtlich des
Orientierungssinns in nichts nach. Es war verblüffend, wie
wenig sich die beiden Gruppen voneinander unterschieden.
Trotz all dieser Erfolge bleiben noch große Schwierigkei-
ten zu lösen, bis es möglich sein wird, auch menschliche
Usher-Patienten mit maßgeschneiderten AAV zu behan-
deln. Eines der Probleme lautet, dass die derzeit verwende-

Gwenaëlle Géléoc und Jeffrey Holt forschen am
Boston Children’s Hospital. Sie verabreichen
Mäusen mit an geborenen Innenohrschäden
speziell veränderte Viren, deren Erbgut ein thera-
peutisches Gen enthält. Die Behandlung gibt
den Tieren ihr Hörvermögen und ihren Gleich-
gewichts- sowie Orientierungssinn zurück.


ETHAN HILL (ETHANHILL.COM)
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