Spektrum der Wissenschaft - 07.2019

(Jeff_L) #1

ten Viren zu klein sind. Ihre Größe genügt zwar, um Gene
zur Korrektur des Usher-Syndroms Typ 1C einzubringen; an
dieser Variante litten die Mäuse, die in den Studien so gut
auf die Gentherapie ansprachen. Aber bei vielen anderen
Untertypen des Usher-Syndroms wirken weit größere
Gene am Krankheitsgeschehen mit. An Cordermans Er-
krankungsform beispielsweise ist eine Erbanlage beteiligt,
für die in dem kleinen Genom der AAV schlicht zu wenig
Platz ist.


Zerlegt und wieder zusammengefügt
Eine mögliche Lösung wäre, umfangreiche Gene in mehrere
Stücke zu zerschneiden, die dann mittels verschiedener
Genfähren verabreicht würden. Jedes dieser Stücke müsste
Enden aufweisen, die sich ganz spezifisch nur mit bestimm-
ten anderen Enden zusammenlagern, so dass die verschie-
denen Genfragmente am Zielort zum gewünschten Konst-
rukt zusammenkämen. Die defekte Erbanlage bei Corder-
mans Usher-Typ etwa ist so lang, dass sie in drei Teile
zerschnitten werden müsste. Damit die Gentherapie zum
Erfolg führt, müssten die drei viralen Genfähren mit jeweils
einem dieser Abschnitte allesamt in die Haarsinneszellen
des Innenohrs gelangen und ihre Fracht darin abladen, so
dass die Genfragmente dort zueinanderfinden und sich
korrekt verbinden. Die hochspezifische Paarung der
Nuklein basen ermöglicht dies zwar – normalerweise lagern
sich nur DNA-Stränge mit komplementärer Basensequenz
zusammen –, doch die Methode ist kompliziert und damit
störanfällig.
Eine weitere Option lautet, größere Viren zu verwenden,
die nicht zu den AAV gehören, und diese so zu verändern,
dass sie keine umfassende Immunreaktion provozieren.
Man könnte auch komplett auf Viren verzichten und statt-
dessen versuchen, das Genmaterial mit Hilfe von Nano-
partikeln einzubringen, also mit winzigen künstlichen
Körnchen, die Zellmembranen durchdringen können. Meh-
rere Forscher, darunter Géléoc und Holt, untersuchen
zudem, ob sich das schadhafte Gen mittels der Genome-
Editing- Methode CRISPR-Cas entfernen und durch eine
korrigierte Version seiner selbst ersetzen lässt. Das Usher-
Syndrom ist eine rezessiv vererbte Erkrankung, die sich nur
dann ausprägt, wenn beide Kopien des Gens (die von der


Mutter und die vom Vater geerbte) defekt sind. Falls es
gelingt, eine davon herauszuschneiden und gegen eine
intakte auszutauschen, sollte das den weiteren Fortschritt
der Erkrankung verhindern.
Bislang ist das leider noch niemandem geglückt; die
CRISPR-Cas-Technik scheint sich eher zum Heraus-
schneiden von DNA-Abschnitten als zu ihrem Einbau zu
eignen. Aus diesem Grund beschränkt sich die Anwen-
dung des Genome-Editing-Verfahrens derzeit auf Mäuse
mit einer seltenen Form des Hörschadens, bei dem
lediglich eine Genkopie defekt ist statt beider. Wenn die
prob lematische Kopie ausgeschaltet wird, kann die ver-
bleibende gesunde ihre Arbeit fortsetzen und für eine
korrekte Zellfunktion sorgen – ein Ansatz, der bei den
Beethoven- Mäusen gut funktioniert. Allerdings ist mittler-
weile bekannt, dass CRISPR-Cas unerwünschte DNA-
Verän derungen herbeiführen kann. Momentan hält so gut
wie niemand die Methode für ausgereift genug, um am
Menschen eingesetzt zu werden. Noch scheint es in der
Gentherapie keine wirkliche Alternative zu viralen Fähren
zu geben.
Doch egal, welches Vehikel die therapeutischen Gene
am Ende in den Organismus transportiert: Es wird wenig
helfen, solange sich die Diagnose erblicher Hörschäden bei
Kleinkindern nicht deutlich verbessert – denn die Betroffe-
nen profitieren am meisten von frühen Interventionen. In
den USA werden zwar die meisten Neugeborenen auf ihre
Hörfunktionen hin untersucht, aber die Ärzte stellen dabei
selten eine spezifische Erkrankung fest, geschweige denn
deren genetische Ursache. Das trifft auch auf Corderman
zu: Erst in ihrer Highschool-Zeit kam heraus, an welcher
Erbkrankheit sie leidet. Das muss sich ändern, damit die
betroffenen Kinder rechtzeitig behandelt werden können.
Hannah Corderman wartet nicht darauf, dass das rasant
wachsende Interesse an der Gentherapie in Form von
Behandlungsverfahren bei ihr ankommt. Sie hat ihre Ausbil-
dung abgeschlossen, arbeitet in der Marketing-Abteilung
des Bauunternehmens ihrer Familie und ist entschlossen,
ihr Leben in vollen Zügen zu genießen, solange dies noch
möglich ist. So hat sie mehrere Reisen zu den Polarlichtern
gebucht: »Seit mir bewusst ist, dass ich nicht mehr sehr viel
Zeit hierfür habe, hat sich meine Einstellung zum Leben
komplett verändert.« Corderman engagiert sich für andere
Patienten und ermutigt diese dazu, ihr Leben in die Hand zu
nehmen und sich von der Krankheit nicht ausbremsen zu
lassen. Der Verlust des Gehörs bedeutet für sie nicht, sich
in die Stille zurückzuziehen. 

QUELLEN
György, B. et al.: Rescue of hearing by gene delivery to inner-
ear hair cells using exosome-associated AAV. Molecular Thera-
py 25, 2017
Pan, B. et al.: Gene therapy restores auditory and vestibular
function in a mouse model of Usher syndrome type 1c. Nature
Biotechnology 35, 2017
Suzuki, J.: Cochlear gene therapy with ancestral AAV in adult
mice: complete transduction of inner hair cells without cochlear
dysfunction. Scientific Reports 7, 2017

Die mit Gentherapie


behandelten Mäuse


legten quasi dasselbe


Verhalten an den Tag


wie ihre gesunden


Artgenossen

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